Zwischen Tradition und Innovation, zwischen Höhenkamm und Heftroman

Caterina Albert i Paradís entführt mit „Ein Film (3000 Meter)“ nach Barcelona und in die katalanische Provinz des frühen 20. Jahrhunderts

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die katalanische Schriftstellerin Caterina Albert i Paradís (1869-1966) veröffentlichte meist unter dem programmatisch, politisch nämlich zu lesenden Pseudonym Víctor Català – so auch den 1926 erschienenen, nun von Petra Zickmann ins Deutsche übertragenen Roman Ein Film (3000 Meter) (Un film (3000 metres)) –, verwendete aber auch die Pseudonyme Marc de Rialp und Caterina Alberto. Sie gilt als bedeutendste literarische Vertreterin des Modernisme Català, jener Architektur (Antoni Gaudí), Kunst, Musik, Literatur sowie Gesellschaftliches umfassenden, vor allem in Barcelona angesiedelten Bewegung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Katalonien, die im Kontext gesamteuropäischer Strömungen wie Art Nouveau, Arts & Crafts, Jugendstil oder Wiener Secession zu sehen ist.

Bekannt wurde die Autorin u.a. mit dem Theater-Monolog La Infanticida (1898/1901), der von der Tötung eines illegitimen Kindes und deren psychologischem Hintergrund handelt, dem Erzählungen-Band Drames rurals (1902), der fernab jeder Verklärung vom wirklichen Leben auf dem Lande in Katalonien erzählt, und vor allem mit dem Emanzipationsroman Solitud (dt. Sankt Pons, Solitud, 1905/1909/2007), der in mehrere europäische Sprachen übersetzt wurde und als Klassiker der katalanischen Literatur gilt. Diese Werke – wie auch der vorliegende Roman – lassen unschwer erkennen, dass die Autorin thematisch, darstellungstechnisch und sprachlich stark von Realismus und Naturalismus beeinflusst ist. Auf Schritt und Tritt glaubt man Balzac, Dostojewski, Hauptmann, Holz, Hugo, Kisch, Poe, Sue, Zola und wie sie nicht alle heißen zu begegnen.

Der Roman Ein Film (3000 Meter) gliedert sich in sechs Teile, die von einer Adresse an den Leser „Sei mir gegrüßt“ und einem „Epilog“ gerahmt werden. Im Zentrum des Romans steht mit dem schillernden Anti-Helden Ramon Nonat Ventura – auf ihn bezogen fallen Figuren etwa bei Bierbaum, Defoe, Gogol, Jacques, Stendhal, Thackeray und Wilde ein – ein junger Mann, der in einem in der Nähe der Provinzstadt Girona gelegenen Waisenhaus aufgewachsen ist. Über ihn später mehr.

Zuvor ein Blick auf die Adresse an den Leser, geht es in ihr doch um spezifisch Literarisches, um das Konzept nämlich, das dem Roman zugrunde liegt, zugrunde liegen soll. Diese Adresse, die keinen Teil der Fiktion darstellt, ist merkwürdigerweise auf den 2. Juli 1919 datiert, demnach also 7 Jahre vor der Veröffentlichung des Romans entstanden. Wie das? Waren der Roman oder Teile dessen vielleicht schon Jahre vor der Veröffentlichung fertig? Was stand ggf. einer früheren Veröffentlichung des Romans im Wege? Musste er – Katalonien erlebte auch damals dramatische politische Jahre – möglicherweise überarbeitet werden, um überhaupt erscheinen zu können? Oder ist die Adresse an den Leser einfach nur vordatiert? Aber warum dann? Schließlich: Worauf spielt die Autorin an, wenn sie gleich zu Anfang von „Sei mir gegrüßt“ davon spricht, jahrelang „geknebelt“ worden zu sein?

An dieser Stelle, aber auch an etlichen Stellen des Romans selbst, dort beispielsweise, wo von Bombenanschlägen die Rede ist oder wiederholt betont wird, dass der Anti-Held Nonat Katalanisch spricht und beim Umgang mit Behörden mit dem Spanischen so seine Schwierigkeiten hat, wird deutlich, dass ein die Autorin und den Roman kontextualisierendes Nachwort – Stichworte u. a.: Katalanismus, Mancomunitat de Catalunya, Noucentisme, Renaixença und Staatsstreich Primo de Riveras 1923 – die vorliegende Edition einschlägig bereichert und ein erweitertes Verstehen des Lesers begünstigt hätte.

Aber die Rede soll ja von spezifisch Literarischem und Konzeptuellem sein. Da lautet die entscheidende Aussage, dass mit dem Roman – Vorbild ist der künstlerisch nicht sonderlich geschätzte Stummfilm, der sich kaum „um psychologische Feinheiten und Hemmnisse“ schere und mit „halsbrecherischen Sprünge[n], oft jenseits aller Glaubwürdigkeit,“ aufwarte – ein „Film gemacht“ worden sei:

Damit wäre eigentlich schon fast alles gesagt, was ich zu meiner Entschuldigung vorzubringen vermag. […] hier und heute verspreche ich dir nicht mehr als einen Film, mit all der Seichtigkeit, all dem Durcheinander, all der Willkür, all den Überzeichnungen, allen Freiheiten also, die diese Kunstform gestattet. / Das mehr oder weniger große literarische Können, das du freundlicherweise für frühere Werke bescheinigt hattest, bleibt in diesem Fall außen vor; du wirst es nicht vermissen. […] Passend zur schlichten Einfalt [seines Vorhabens] bedient sich der Verfasser einer aller rhetorischen Schnörkel entledigten Sprache, unter Verzicht auf feinere Konturen und Nuancen, formale Kühnheit, präzise Authentizität und die […] Taschenspielertricks der Wortartisten […].

In diesen ein gutes Stück weit selbstimmunisierenden Aussagen steckt sicherlich auch ein gewisses Maß an zweifellos berechtigtem, in Bescheidenheitsformeln gekleidetem Stolz über das Geleistete. Freilich kann man der Autorin in ihrer Selbsteinschätzung in vielem nicht grundsätzlich widersprechen, bietet der ebenso melodramatisch wie sozialdarwinistisch angehauchte Roman doch das ganze Spektrum zwischen hochliterarischer Erzählkunst, gediegener Unterhaltungsliteratur, gefälliger Kolportage und eben auch Räuberpistole – zahlreiche Zufälle und Instinkt beispielsweise spielen eine ganz wesentliche Rolle, alles Geschehen wird als Ausfluss biologisch-charakterlicher Dispositionen personalisiert und es wimmelt geradezu von Kehrtwendungen, Unfällen und Toten. Nicht zu kurz kommen aber auch Ironie sowie Komik und Humor, vor allem in den ersten beiden Romanteilen.

Widersprechen muss man der Autorin allerdings hinsichtlich der Sprache, die nahezu alle Möglichkeiten zwischen Poesie, Lyrismus, wortmalerischer Veranschaulichung, nüchterner Schilderung, Umgangssprache und brutaler Drastik ausschöpft, und vor allem darin, dass Ein Film (3000 Meter) ein Film bzw. filmisch sei. Richtig, aus dem voluminösen, vielfädigen Roman ließe sich leicht ein opulenter, abendfüllender und ganz im Sinne der Autorin der „Zerstreuung“ dienender Film von 3000 Metern Länge machen, der, Stichwort Filmsynkretismus, an Genres wie Abenteuer-, Gangster- und Liebesfilm partizipieren würde, aber auch an semi-dokumentarischen Filmen Anteil hätte, denen es sowohl mit Blick auf den provinziellen wie auf den großstädtischen Raum um Charakter-, Milieu- und Sozialstudien geht. (Nebenbei bemerkt: Die Schilderungen Barcelonas als einer Großstadt reichen qualitativ nicht an diejenigen der Provinz heran, den „dramatischen Gärprozess des Lebens in großen Städten“ erleben wir nicht wirklich). Und richtig auch: Passagenweise haben wir es, an Film erinnernd, mit abrupten Wechseln von knapp geschnittenen, spotlightartigen Szenen zu tun.

Aufs Ganze gesehen jedoch dominiert bei diesem Versuch, im Sinne auch eines Sittengemäldes „eine saubere, deutlich sichtbare Schneise durch das Dickicht des Lebensdschungels zu schlagen“, der als solcher nach wie vor, mich zumindest nach wie vor anziehende Erzählgestus des 19. Jahrhunderts. Dafür steht schon die selbst konturlos bleibende, allwissende, sich souverän zwischen weit zurückliegender Vergangenheit, aktueller Gegenwart und Zukunft bewegende und um Psychologisierung und Kommentare, ja sogar stellvertretende Figurenrede nicht verlegene Erzählinstanz ein. Von daher kann keine Rede davon sein, dass „[m]al im Stummfilm, mal im jungen Tonfilm, […] der Protagonist, der gerissene Dieb Nonat, die Kamera selbst durch das Barcelona der Elenden und Reichen“ führe, wie es der Klappentext verspricht. Das stimmt schon deshalb nicht, weil die Tonfilmzeit bekanntermaßen erst mit Alan Croslands The Jazzsinger aus dem Jahre 1927 beginnt.

Der von der Erzählinstanz meist „der ehemalige Waisenhauszögling“ genannte Nonat ist der im Zentrum stehende Erzählgegenstand, keine Frage, aber wir schauen zu keinem Zeitpunkt mit dessen Augen und sehen ungleich mehr, als der je zu sehen vermöchte, oftmals Dinge zudem, die für die Nonat-Erzählung nachrangig oder sogar ohne Belang sind. In teils ausschweifenden Nebenhandlungen wird beispielsweise das Leben einer „Gallinaire“, „Hühnerfrau“ genannten Maria und deren Ehemann Jepet präsentiert, bei denen der herangewachsene, zweiundzwanzigjährige Nonat guten Grundes Aufklärung über seine Herkunft erhofft, dann das durch Nonats Verhalten tragisch verlaufende eines Schlossermeisters, der Nonat in die Lehre nimmt und ihm zum Ziehvater wird, dasjenige zum dritten des Kollegen Peroi aus einfachsten ländlichen Verhältnissen nebst derjenigen von dessen Tante Janeta und dessen Cousine Carlota, des Weiteren dasjenige eines Senyor Ramoneda, der in Barcelona Nonats Chef wird, und dasjenige von dessen rechter Hand, des Vorarbeiters Rovira, dann… aber genug. Die Aufzählung von Figuren, mit denen es Nonat zu tun bekommt bzw. die es mit Nonat zu tun bekommen, ließe sich noch eine beträchtliche Weile lang fortsetzen, ist an diesem Punkt doch gerade erst einmal das erste Viertel des Romans hinsichtlich eingeführter Figuren von maßgeblicher Bedeutung ausgewertet.

Nonat: Der wurde als schillernde Figur behauptet, und in der Tat verfügt er über eine Fülle teils konfligierender, ja widersprüchlicher Eigenschaften, die ihn zu einer Figur zwischen Bewunderung, Anerkennung, Tadel und Abscheu machen. Schon als „kleiner Knirps“ im Waisenhaus ist er, ein aus einem illegitimen Verhältnis entsprungenes „Findelkind“, stolz und widerständig, zuweilen auch tobsüchtig und gewalttätig, stets aber empfindsam und bis zur Verzweiflung verletzlich. Von starken, meist negativen Gefühlen getrieben, ist er eitel, gefallsüchtig und neidisch zugleich, von allem Anfang an hoch bedacht auf tadellose, moderne und ihn weit über Stand aufwertende Kleidung, auf Schmuck und Accessoires unterschiedlichster Art – später in Barcelona wird er, faktisch ein Arbeiter, sich bevorzugt an Orten bürgerlicher Repräsentationskultur aufhalten und sogar ein Pferd und ein Automobil sein eigen nennen.

Zum jungen Mann herangereift, wird Nonat, der Beau, von seiner Umgebung in Girona nur noch der „Schönling“ genannt. Dabei ist er, der Blender mit Hang zum Hochstapeln, doch merkwürdigerweise ohne jeden Hang zu erotischen Abenteuern welcher Art auch immer, lange Zeit, ja eigentlich bis zum Romanschluss aber alles andere als ein Nichtsnutz. Im Gegenteil, Nonat ist ungemein fleißig, ein „ausgezeichnete[r] Schlosser“ mit ausgeprägten Befähigungen auch in Leitungspositionen, dazu bei Kollegen aufgrund seiner Hilfsbereitschaft ausgesprochen beliebt. Doch steht diesen Eigenschaften dann wieder sein Jähzorn gegenüber, der sich in „Mordgelüste[n]“ niederschlagen kann, und seine tief sitzende Verachtung der Mitmenschen, die ihn, laufen die Dinge nicht in seinem Sinne, „hart[] und unbarmherzig[]“ werden lassen.

Kann es da verwundern, dass die zuvor genannte Maria an ihm etwas „Diabolisches“ sieht, sein Ziehvater „Dieser Junge war auf keinem guten Weg, bei Gott nicht!“ denkt und die Erzählinstanz bei Nonat von einem grenzenlosen Egoismus, von „snobistische[r] Eitelkeit“ und davon spricht, dass er auf einem „hohen Ross“ sitze, was ihn immer wieder in das „Mahlwerk seiner fixen Ideen“ hineintreibe? Die Krönung dieser „fixen Ideen“ ist im Übrigen seine felsenfeste Überzeugung, Eltern von hohem Stand zu haben. Eine gewöhnliche Abstammung hingegen hält er für eine „unzumutbare[] Verleumdung“. So lebt er, so die Erzählinstanz, faktisch in einer „pompösen Märchenwelt“.

Hinzuweisen ist schließlich darauf, dass Nonat, der zum Dieb, dann zum Einbrecher und letztendlich zum – fast – perfekten Verbrecher wird, „ein wenig zu Aberglauben und fatalistischen Anwandlungen“ neigt. Das bringt ihm in Gestalt eines von Ziehvater vererbten Talismans lange Zeit Glück, nach dessen Verlust aber, so viel darf verraten werden, Unglück.

Fazit: Wem der Sinn nach „eine[r] Weile der geistigen Erholung“ („Sei mir gegrüßt“), nach verschlungenen Geschichten, nach Action und nach einer bunten Welt so oder so das Interesse auf sich ziehender Charaktere steht, der ist mit Ein Film (3000 Meter) bestens bedient.

Titelbild

Víctor Català: Ein Film (3000 Meter).
Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann.
Kupido Literaturverlag, Köln 2024.
451 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783966752701

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