Ein Professor Unrat des Kommunismus
Ilko-Sascha Kowalczuk charakterisiert die Unnahbarkeit Walter Ulbrichts in einer großangelegten Annäherung
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Walter Ulbricht war mir immer fremd“, schreibt Ilko-Sascha Kowalczuk (im Folgenden kurz ISK) zu Beginn seiner monumentalen Monographie, und er sei ihm auch beim Schreiben „nicht zu nahe geworden.“
Der Nimbus der Unnahbarkeit, der diesen wohl wichtigsten Politiker der DDR umgibt, weckt Interesse und Desinteresse gleichermaßen. Zumal dieser „Spitzbart“ nicht sonderlich populär war und kaum jemanden faszinierte. War er gleichwohl charismatisch? Hatte er einen Schlag bei den Frauen? Aus der Ferne, so scheint es, ging große Sprödigkeit von ihm aus, auch Kälte. Glich er darin nicht auch seinem Nachfolger, dem steifleinenen und etwas linkischen Honecker? Und auf was für einen Charakterzug deutete seine Fistelstimme?
ISK möchte zu seinem Gegenstand das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz gewinnen, analog zu einem Wort Ernst Jüngers vielleicht, dem ebenfalls Kälte attestiert worden ist: „Kommt man dem Jupiter zu nahe, so verbrennt man. Hält man sich fern, so leidet die Beobachtung.“ Am Ende, so der Biograph, gab es an Ulbricht weitaus mehr, „das mich faszinierte, interessierte, aufhorchen und staunen ließ, das mich beeindruckte, mehr, als ich vermutet hätte.“ Das geht dem Leser genauso.
ISK, der seinem Selbstverständnis und seiner Selbstverortung breiten Raum gibt, erklärt Walter Ulbricht (1893–1973) zum „erfolgreichste[n] Kommunist[en] in der deutschen Geschichte.“ War er auch der skrupelloseste? Er war jedenfalls bereit, dem großen Ziel der Weltrevolution die im Prinzip als richtig erachtete „Volksherrschaft“ (vulgo Demokratie) zu opfern, sie zumindest zeitweilig außer Kraft zu setzen: „Es ist doch ganz klar: Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“
Ist Ulbrichts Diktum, das Wolfgang Leonhard (1955 in Die Revolution entläßt ihre Kinder) überlieferte, authentisch oder Kolportage? Spricht hier ein Zyniker oder ein Pragmatiker, der für sein unmündiges Volk nur das Beste wollte? Der ihm aufzwingen wollte, was ihm frommt?
Ulbricht, Sohn eines Schneiders, wuchs in Leipzig auf und musste dem Vater täglich aus der Leipziger Volkszeitung vorlesen, die unter Chefredakteur Franz Mehring sozialdemokratisch geprägt war. Ein später Weberaufstand, der Crimmitschauer Textilarbeiterstreik von 1903/04, über den das Blatt 22 Wochen lang berichtete, mobilisierte auch den Zehnjährigen, der – „treppauf und treppab“ – für die streikenden Genossen sammeln ging. Schon der 15-Jährige will das „Kommunistische Manifest“ gelesen haben, das ihm der Vater empfahl. Seither schlug sein soziales Gewissen. Der angehende Tischler (Gesellenprüfung 1911) erklärte freilich ein anderes, repräsentativeres Momentum zum „politische[n] Erweckungserlebnis“: die Kolonial- und Rüstungspolitik der Reichsregierung um 1907. Sie ging mit einer parlamentarischen Schwächung der Sozialdemokratie einher, die den deutschen Imperialismus auf Kosten der Sozialpolitik gestärkt sah. Er erklärte Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die bereits 1907 einen „Weltkrieg“ vorhersahen, zu seinen neuen Idolen. Als Wandergeselle auf der Walz festigte er seine Beziehung zur sozialistischen Arbeiterjugend und profilierte sich als „Diskussionsredner“. Arbeit für und gegenüber der Gesellschaft bedeutete ihm das „höchste Glück des Menschen“.
Nach dem verlorenen Weltkrieg gehörte Ulbricht zu den Gründern der KPD in Leipzig und war zugleich auch Mitglied der USPD. Als „Organisationsfetischist“ der Komintern bekämpfte er den „Faschismus“, wie man in der DDR sagte, im „Hitlerdeutschland“ und gründete, auf Veranlassung Stalins, 1943 das „Nationalkomitee Freies Deutschland“.
Aber wie konnte er das tun, was prädestinierte ihn dafür? Ulbricht, in erster Ehe mit Martha (geb. Schmellinsky) verheiratet und Vater einer Tochter (Dora, geb. 1920), lebte seit 1926 in einer neuen, ehelich nicht legitimierten Beziehung mit Rosa Michel, einer aus Warschau gebürtigen Französin, aus der ebenfalls eine Tochter hervorging. Seit 1919 lebte er praktisch im Untergrund und bekämpfte aus der zeitweiligen Illegalität heraus das „System“ der Weimarer Republik. Er pendelte zwischen Berlin und Moskau und wurde, „aufgrund seines gestiegenen Ansehens“ in der KPD, 1926 für die Wahlen zum Sächsischen Landtag nominiert. Mit 33 Jahren errang er sein erstes Mandat, ohne den Parlamentarismus jedoch gutzuheißen. Den Fraktions- und Landtagssitzungen blieb er zumeist fern und agitierte im Übrigen destruktiv gegen die Landesregierung. Immerhin genoss er durch sein Mandat politische Immunität und konnte sich im Reich frei bewegen. Als „Moskauer“ in Berlin wurde er 1927 Mitglied des Zentralkommitees der KPD und war damit im „Inner Circle der Partei angekommen“. 1928 errang er zusätzlich ein Reichstagsmandat und nutzte es für polemische Agitationen gegen die SPD, die damals mit Hermann Müller den Reichskanzler stellte. Die (noch) unbedeutende NSDAP hingegen geriet zeitweilig aus dem Blickfeld seines politischen Kampfes, was er später als „Fehler“ konzedierte: Mit der geschwächten SPD einerseits, der erstarkenden NSDAP andererseits, die die Führungsriege der KPD gefährdete, panisch und zerstritten, wurde seine Kaderarbeit zunehmend schwierig, ja aussichtslos.
Es kam zum „Machtwechsel“, zum Reichstagsbrand, zum Exodus. Der steckbrieflich Gesuchte pendelte zwischen Paris, Prag und Moskau. Zur Illegalität und zum Sprachhandycap kam der Verfolgungsdruck infolge der internationalen Fahndungslisten der Gestapo. Deutsche Emigranten waren zudem unbeliebt, wenig weltläufig und galten, wie er, manchem als „rotlackierte“ Faschisten „ohne Hitler“.
Ulbricht forcierte den Einheitsfrontgedanken, der die „Linke“ in der SPD im Kampf gegen die Nationalsozialisten mit der Kommunistischen Partei „zur einzigen revolutionären Massenpartei der deutschen Arbeiterklasse“ zusammenführen sollte. Ein dreijähriger Klärungsprozess, in dem sich SPD und KPD vor allem gegenseitig beharken, statt gemeinsam den politischen Gegner zu bekämpfen, folgte, begleitet von parteiinternen Streitigkeiten: „Die vergiftete Atmosphäre im höchsten Führungsgremium der KPD zu erklären“, sei „unmöglich“, schreibt ISK: „persönliche Animositäten“, die Ferne zur Parteibasis und Parteiöffentlichkeit, „ideologische Differenzen“ und eine Art Lager- und Kaderkoller mögen die schwärenden Meinungsverschiedenheiten befeuert haben. Es folgte Wilhelm Piecks verzweifelter Brief an die höchste Instanz, Stalin, schlichtend einzugreifen und die „richtige Linie“ der KPD vorzugeben: Einerseits wollte man linke Gruppierungen der SPD für sich gewinnen, andererseits sozialdemokratisch gesinnte Arbeiter für eigene Ziele einsetzen, um als „Einheitsfront“ gegen Hitler auftreten zu können.
Ein „Entscheidungstreffen“ Ende 1934/Anfang 1935 vor den relevanten Gremien der Komintern in Moskau fällt in den Beginn neuer und umfassender „Säuberungen“, mit denen Stalin interne Abweichler und Kritiker terrorisierte oder vernichtete. Pieck und Ulbricht gingen daraus gestärkt hervor, ihre parteiinternen Gegner wurden als „Doktrinäre“ und „Sektierer“ abgestraft. Auch privat triumphierte Ulbricht über mögliche Konkurrenten: Beim Eiskunstlauf gewann er das Herz von Lotte Kühn, die 1935 „noch mit zwei anderen Männern verheiratet war“. „Sie war nie etwas anderes als Parteiarbeiterin“, schreibt ISK: „Sie ordnete alles der Partei unter, wusste sich zurückzunehmen und verachtete unnötigen Konsum“. Sie wurde sofort Ulbrichts „Gesprächs- und Diskussionspartnerin für seine politische Arbeit“. Anders als er sprach sie fließend Englisch, Französisch und Russisch.
Als Mensch verschwindet Ulbricht hinter der Maske des Diktators. Wollte er sich seinem Idol Lenin angleichen – mit Spitzbart, Anzug, Krawatte, wächsernem Teint?
Er hatte ein von Bosheit steifes Gesicht, das sich seiner Häßlichkeit bewußt war, und versuchte, sie durch den symbolischen Leninbart ums fette Kinn abzumildern, eine haarige Anleihe, die aber seinem faunischen Mund nichts von der kleinbürgerlichen Suffisance nahm. Ein beobachtendes rechtes Auge und ein halbverborgenes linkes waren durch schulmeisterliche Gläser versteckt. Seine von unfruchtbaren Gedankenfurchen durchzogene Stirn war von Haarausfall höher, aber nicht geistreicher geworden. Er hatte etwas von einem verdorbenen Pfarrer, der heimlich obskure Häuser aufsucht. Alles schmeckte nach penetranter Unzulänglichkeit und einer Halbbildung, die nicht einmal verstand, sich zu verkleiden, kurz: er war ein ,Professor Unrat‘ der Revolution, der Geschichte spielte und seine (übrigens präzis funktionierenden) Beamtenintrigen für machiavellistische Staatskunst hielt.
So jedenfalls das treffliche Porträt des einstigen Mitstreiters und späteren Dissidenten Gustav Regler. Während viele KPD-Kader ins Ausland fliehen, aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes der Partei den Rücken kehren, den „Tschistki“ Stalins zum Opfer fallen oder sonstwie isoliert sind, während die Rote Armee von deutschen Truppen überrannt wird – ein Angriffskrieg, der als „Blitzkrieg“ geplant war und in Manchem an Putins Aggression gegen die Ukraine erinnert –, betreibt Ulbricht, von Moskau aus, die „innere Zersetzung“ des Deutschen Reiches durch Rundfunkpropaganda oder Flugblattaktionen. Mit Soldatenzeitungen bearbeitet er Kriegsgefangene, teils mittels „Falschinformationen über die Frontlage“. Wie es aber scheint, sind diese Maßnahmen wenig effektiv gewesen, „ein ideologischer Umwandlungsprozeß“, wie Ulbricht ihn konstatierte, lässt sich im Nachhinein kaum nachweisen: „Wunschdenken“ war hier Vater der Überzeugung, die Deutschen würden sich für einen „antifaschistischen Neuaufbau gewinnen“ lassen, sollte Hitler erst einmal besiegt sein.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ließen sie sich auch für den Sozialismus nicht gewinnen – mit Zwang und Terror errichteten die Rückkehrer aus Moskau unter Ulbrichts Führung ihre stalinistische Autokratie. Den Aderlass der „Republikflucht“ bekämpfte Ulbricht durch ein drastisches Mittel. „Die Mauer machte [ihn] unsterblich“, lautet eine der trefflichen Thesen dieser Biographie: „Nichts hat sein System mehr symbolisiert als sie.“ Dem „antifaschistischen Schutzwall“ war am 15. Juni 1961 eine dreiste Lüge vorausgegangen: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“
Damit war der Anfang vom Ende der DDR besiegelt. Ulbricht selbst blieben noch zwölf schwere Jahre, ehe er krank und entkräftet verstarb, beerbt von seinem nicht minder radikalen und starrsinnigen Nachfolger.
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