Liebe und Lokalkolorit
Über Tim Staffels Comeback-Roman „Südstern“
Von Antonia Bücker
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHasenheide, Lilienthalstraße, Bergmannstraße, Gneisenaustraße, Blücherstraße, Fontanepromenade und Körtestraße. Alle laufen sie auf den „Südstern“ zu. Das Drehkreuz Kreuzbergs ist titelgebend für Tim Staffels jüngsten Roman. Dabei ist seine inhaltliche Bedeutung für das Werk, das es 2023 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, eher gering. Nur drei Mal wird der Südstern überhaupt erwähnt. Zwei Mal geht es um den Stadtplatz in Berlin, beim dritten Mal suchen die Protagonisten Deniz und Vanessa den Südstern am Himmel.
Deniz ist ein Polizist deutsch-türkischer Abstammung mit unwiderstehlichem Lächeln. Er sammelt zahlreiche Überstunden, um sich die Pflege für seinen parkinsonkranken Vater leisten zu können. Den Großteil der Pflege übernimmt allerdings Deniz selbst nach Feierabend. Übermüdet nimmt er Schmerzmittel, schläft auf seiner Ausziehcouch ein und träumt von einem besseren Leben.
Und dann gibt es noch Vanessa, die ausgerechnet mit Olli, dem Drogenbeauftragten einer politischen Partei zusammen ist. Vanessa arbeitet für einen Apothekenlieferdienst und in der Bar von Andreas – trotz unaufgedeckter krimineller Vergangenheit ist er für sie die ideale Vaterfigur. Insgeheim ist Vanessa aber in Deniz verliebt, zudem verdient sie als Drogenkurierin den Großteil ihres Einkommens. Ihr Sortiment verkauft sie an einen ebenso breitgefächerten Kundenstamm.
Staffel entwirft in Südstern nicht die nächste kitschige Romanze. In erster Linie wird durch die Handlung eine Gesellschaft präsentiert, in der sich die meisten Menschen Tag für Tag „abstrampeln“. Kreuzberg wird zur Sammelstelle diverser Problemexistenzen: Traumatisierte, ungeeignete Polizist*innen, hilflose Opfer häuslicher Gewalt, queere Gangsterboss-Söhne oder überforderte Krankenpfleger*innen. Derartige Schicksale werden durch die zahlreichen Nebenfiguren ungeschönt erzählt:
Katrins Kollegen greifen zu [Beruhigungsmitteln], die jüngeren, aber die meisten trinken. Kaum einer ist dem Druck gewachsen, Pflege ist ein hart umkämpfter Markt, die Konkurrenz ist groß. Ich behalte meine Angst für mich, Katrin spürt sie trotzdem. Wenn sie verzweifelt, sich alleingelassen fühlt, wenn sie nicht weiß, wie’s weiter gehen soll, dann schläft sie eine Nacht darüber, am nächsten Morgen hat sie es verwunden, ein neuer Tag kommt, und sie kann wieder strahlen.
Wir lernen den Alltag von Figuren wie Katrin kennen, ihre Sorgen, aber auch ihre Freuden- und Glücksmomente. Alles inmitten einer oft düsteren, aber pulsierenden Großstadt. Eine Großstadt, die Menschen wie „Baba“ hervorbringt. Einen Vater, der seinen Sohn mit „Halt die Klappe!“ anraunzt, wenn Deniz ihm den Weg zum Grab seiner Frau Selda erklären will. Gleichzeitig will er dem Leben seines Sohnes aber auch nicht im Weg stehen – obwohl ihm schmerzlich bewusst ist, dass er genau das tut.
Trotz aller Schwere ist Platz für präzise dosierten Humor: „Du riechst nach Kneipe.“ – „Das liegt daran, dass ich in einer arbeite“ oder „Jovanna stellt uns vor. Polizei, sagt sie. Wird ne echte Überraschung für die Jungs sein. Wir tragen Uniform.“ Gleichzeitig wird bei all der „Härte des Alltags“ eine Leichtigkeit versprüht, die nicht nur für Freude bei der Lektüre sorgt, sondern auch die Rechercheleistung offenbart, die hinter dem Roman steckt. Dabei wurde Staffel vom Reporter Lucas Vogelsang unterstützt. Dass dessen Name an erster Stelle der Danksagung steht, ist sicher kein Zufall. Denn was Staffel einst im Interview mit der Frankfurter Rundschau beschrieben hat, ist ihm mit seinem Comeback-Roman gelungen: die Hauptstadt als Reibungs- und nicht als Wohlfühlort zu inszenieren. Da irrt an einem verdreckten U-Bahnhof zwischen lauter Anonymen ein Verrückter herum, der glaubt, sich noch im Krieg zu befinden. Im Görlitzer Park gerät eine naive Marihuana-Neukonsumentin in Angst, weil man ihr dort kein Gras übergibt, sondern ihr stattdessen das Handy abnimmt. Beide gehören genauso zum Stadtbild wie Vanessa, die den Verrückten beruhigt, indem sie ihm von einem Waffenstillstand überzeugt. Oder Deniz, der die verängstigte Frau bereitwillig aus der Gefahrenzone „Görli“ führt.
Diese Momente von zwischenmenschlicher Wärme sind erfreulich. Schließlich ist es über 20 Jahre her, dass Tim Staffel mit seinem Debütroman über das frostig-vereiste Berlin für große Aufmerksamkeit sorgte. Auf Terrordrom folgten drei weitere Romane, dann konzentrierte sich Staffel vermehrt auf Theater- und Hörspielproduktionen. Diese Einflüsse sind in Südstern deutlich zu erkennen, basiert der sozusagen fünfaktige Roman doch auf der Hörspielserie Dope!, welche Staffel (übrigens auch gemeinsam mit Lucas Vogelsang) 2019 für den RBB geschrieben hat.
Egal, ob für Ortskundige oder Nicht-Berliner*innen, der Ausflug zu Staffels Südstern lohnt sich.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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