Wenn Tierschutz zu Animal Hoarding ausartet
In „Tiere, vor denen man Angst haben muss“ erzählt Alina Herbing vom Eindringen ungezähmter Natur in die Zivilisation
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBrutus – so heißt der kalbsgroße Hund, der einem Rottweiler ähnelt und in der beeindruckenden Initialszene von Herbings zweitem Roman dafür sorgt, dass Madeleine, die 16-jährige Protagonistin und Ich-Erzählerin, sich nicht traut, ihr Zimmer durch die Tür zu verlassen. Schließlich klettert sie aus dem Fenster, um über den Hof zu gehen und das Plumpsklo zu benutzen. Wütend und hilflos fühlt sie sich, außerstande, etwas gegen die Präsenz der vielen vierbeinigen „Lieblinge“ zu tun, die ihre Mutter aus der Auffangstation, für die sie ehrenamtlich arbeitet, mit nach Hause bringt. Ihren Beruf als Intensivkrankenschwester, mit dem sie das dringend notwendige Geld verdienen könnte, hat die Mutter aufgegeben, um sich ganz dem Tierschutz zu widmen. Madeleine ist das vierte von fünf Kindern. Sie hat eine Halbschwester, zwei Brüder und eine jüngere Schwester, Ronja, die mit ihr und der Mutter in dörflicher Abgeschiedenheit auf einem Resthof im Osten von Lübeck wohnt.
Nach dem Auftakt mit aggressivem Hund, der eine Art Extradiegese darstellt, erzählt Alina Herbing in alternierenden Zeitstufen. In die gegenwärtige montiert sie eine Vielzahl von nostalgischen Rückblenden auf „bessere Zeiten“ hinein. In seinem Haupterzählstrang, um die Jahrtausendwende angesiedelt, präsentiert der Roman einen Alltag, der sich von dem abhebt, was gemeinhin als „normal“ bezeichnet werden würde. Erst seit Kurzem gibt es eine Wasserleitung auf dem Hof und in dem Haus, Internet ist nicht mehr als eine vage Zukunftsidee und alle Konsumoptionen reduzieren sich weitestgehend auf den Quelle-Katalog, aus dem die beiden Schwestern gern bestellen würden. Fertigware ist tabu, nur ab und an bringen Nachbarn abgepackte Lebensmittel aus dem Supermarkt vorbei, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Das ist ein Fest für die Mädchen.
Überall im Haus leben Hunde und ein ganzes Zimmer ist nur für Katzen reserviert. Einmal findet die Mutter eine Schleiereule, für die sie und ihre Töchter lebende Mäuse kaufen. Nach dem Tod der Eule hält Ronja die Mäuse im Käfig, wo sie sich fröhlich vermehren, bevor sie auf dem Heuboden ausgesetzt werden. Kurz vor Weihnachten fährt Madeleine mit ihrer Mutter nachts in den Wald, um einen Schwan zu retten, der sich verletzt hat. Am Heiligen Abend organisieren die Schwestern einen Weihnachtsbaum und bereiten das Käsefondue vor. Sie warten lange auf die Mutter, die erst spät am Abend zurückkehrt. Einige Tage später friert die Wasserleitung ein. Schneemassen separieren den Hof vom Rest der Welt.
Der Roman endet mit Fieberfantasien, in denen die kranke Madeleine eine quasi apokalyptische Destruktionsvision entwirft:
Nicht mal die Hunde fangen an zu bellen. Durch das eingebrochene Dach leuchtet der blaue Himmel, als läge außerhalb des Hauses eine andere Welt. Die Balken haben einen Teil des Heubodens mit sich gerissen. Das Heu, das sehe ich jetzt, liegt auf dem Steinboden in einem unordentlichen Haufen. Der Schwan sitzt am Rand, als wäre das Heu sein Nest, den Kopf hat er unter das Gefieder gesteckt.
Einerseits setzt sich hier konsequent die Entwicklung des Verfalls fort, andererseits singt der Schwan, bei aller Resignation, (noch) nicht. Möglicherweise ist er damit als Phönix zu deuten, der wieder aus seinem Nest auferstehen wird. Das Ende ist insofern anschlussfähig an das erste Kapitel, als in ihm die Halluzinationen erwähnt werden, unter denen die Mutter einmal litt, weil sie ein Medikament genommen hatte, das nur für Hunde und Katzen bestimmt war. Vielleicht weisen die letzten Zeilen zusätzlich auf die Option hin, eine Reset-Taste zu betätigen.
Aufschlussreich ist der furiose Schlussakkord des Romans ebenso, weil er in nuce das vorführt, was neben den Rückblenden seine Form ausmacht: die Schilderung von Durativ-Iterativem, von Zuständen, die sich stetig verschlechtern – so etwa, dass im Haus eine unerträgliche, lähmende Kälte herrscht. Madeleine findet kein geeignetes Brennmaterial für den Ofen, so dass sie nicht nur zerfledderte Schuhe verfeuert, sondern auch Aktensammlungen aus der Zeit, als ihr Vater Vorsitzender bei den Grünen war. Das Vernichten dieser Relikte steht synekdochisch für die gesamte Abwärtsspirale.
Durchweg konkretisiert sich das Scheitern des Projekts „Leben auf dem Land“ in Szenen mit hoher atmosphärischer Dichte: Gleich zu Beginn fokussiert die Erzählstimme den Garten, der so zugewuchert ist, dass Beete nicht mehr zu erkennen sind. Sehr eindringlich und ekelerregend wirkt später die Invasion von Ratten und Mäusen, die sich überall auf dem Hof tummeln und sogar ins Haus kommen. Tiefsitzende Abscheu ist zu spüren, wenn Madeleine den neuen Freund ihrer Mutter, Ralf, Halter von Brutus, beschreibt. Er sei ein „schlaksiger Typ mit schütterem schulterlangem Haar“, an dem sie „alles ekelt“. Sehr plastisch stellen sich zudem die Rettung des verletzten Schwans dar und die Suche nach dem Pittbull Kalle in Dunkelheit und Eiseskälte. Aufgrund eines ungewöhnlichen Geräusches rastete er so aus, dass er durch eine Fensterscheibe sprang.
Im Vergleich zu Niemand ist bei den Kälbern hat Alina Herbings Text an Intensität gewonnen, ganz besonders die Art und Weise, wie Episoden pointiert und ausgestaltet werden. Die Prosa ist sprachlich elaborierter, weniger parataktisch, insgesamt narrativer und in einem Rhythmus gehalten, der die zahlreichen Bilder des Verfallenen und Abgestorbenen umso prononcierter hervortreten lässt. Hinzu kommt eine sehr transparente, aber adäquate Symbolik: die Eule stirbt und der Schwan ist verletzt. Nicht von ungefähr heißt der riesige Hund Brutus oder tragen die Wildschweine die Namen Hänsel und Gretel. Sie evozieren den Urtyp der bösen Stiefmutter und das Bild eines schwachen Vaters gleichermaßen. Madeleine erinnert sich, so wie es der „Proust-Effekt“ vorsieht, und Ronja, die Räubertochter, kann sich mehr als Madeleine auf das Chaos einlassen, obgleich es ihr sehr zusetzt.
So wie in ihrem ersten Roman gelingt es Herbing, fundamentale Paradoxa zu konstruieren, nicht aufgelöste Spannungen, die – mehr als zuvor – ironisches Potenzial haben. Beispielsweise zückt die Mutter, als die Familie noch in der Stadt lebt, ständig ihr Asthmaspray und hat Angst vor der verpesteten Luft, die Trabis in Lübeck ausstoßen. Später fährt sie selbst Trabi und lebt in einem Haus, das penetrant nach Tierausscheidungen stinkt.
Als sie im dunklen Wald nach Kalle suchen, beruhigt Madeleine ihre jüngere Schwester, indem sie sagt, dass es „in Deutschland gar keine Tiere“ gebe, „vor denen man Angst haben“ müsse, Wölfe seien ja nur bis Sachsen vorgedrungen. Ironisierend impliziert sie, vor welchen Tieren man ihrer Meinung nach Angst haben muss, vor jenen nämlich, die bei ihr zuhause so humanisiert werden, dass sie nicht nur als dem Menschen gleichwertige, sondern als ihm übergeordnete Wesen definiert werden.
Natur und Tiere verselbstständigen und entdomestizieren sich in kontinuierlicher Progression: Beide dringen sie in die von Menschenhand gezähmte Welt hinein und vereinnahmen sie. Das nicht auflösbare Widersprüchliche zwischen Chaos und Ordnung verflicht sich im Roman zu einem Substrat aus Dekadenz und einstmaliger Idylle, in dem sich die Charaktere bewegen und sich eine Gemengelage aus Themen offenbart.
Mit inniger Geschwisterliebe fühlt sich die ältere Madeleine dazu berufen, die jüngere Ronja zu beschützen. Ihre Bewunderung gilt Ronjas Strebsamkeit und Disziplin, denn ihr gelingt es, im kalten Zimmer für Klassenarbeiten zu lernen, nichts zu verschwenden und ungesüßten Tee zu trinken. Beide Schwestern bauen sich eine Traumwelt auf – Ronja mit der Lektüre von Harry Potter, Madeleine hingegen beamt sich mit der Musik von Robbie Williams in andere Sphären hinein.Beide leiden sie zwar unter ihrem gegenwärtigen Leben, erweisen sich der Mutter gegenüber aber immer als loyal und bemerken außerdem, wie erschöpft sie ist. Nicht nur die Töchter vernachlässigt sie, sondern in demselben Maße sich selbst – eine Frau, die sich von den bourgeoisen, materiellen und symbolischen Werten ihrer Eltern, eine reiche Lübecker Kaufmannsfamilie, verabschiedet hat. Sie, die im Pelzmantel zu einer Versammlung der Grünen erschien, hält den Impetus der Revolte in sich lebendig, klammert mit verzweifelter Obstination an ihren Idealen und blendet die Wirklichkeit aus. Ihre Geschichte ist nicht auserzählt und indiziert, dass die Charaktere, im Gegensatz zu den starken Themen, eher blass bleiben.
Das Ideal eines naturnahen Lebens, das beide Elternteile auf dem Resthof realisieren wollten, kollidiert aufs schärfste mit den Zwängen der Realität und regrediert zu einer Existenz, die die Natur sich zurückholt, indem sie diese invadiert und destruiert. Es gab „diese Zeit, in der alles gut war“, eine Zeit voller Momente intensiver Gegenwart mit einer Mutter, die sich kümmerte, sich ihrer Verantwortung – so wie im Übrigen auch der Vater, worauf Herbing in einem Interview hinweist – noch nicht entzog. Akribisch notierte die gute Mutter die Entwicklungsfortschritte der Kinder in Kalendern, die die 16-jährige Madeleine wie einen Schatz hütet. Die überforderte Mutter indessen lässt ihre Töchter stundenlang in der Kälte warten, wenn sie abgeholt werden müssen, und meint, dass eine Wasserleitung im Haus unnötiger Luxus sei. Ihre Empathie für die Kinder verhält sich disproportional zur Zuwendung zu den Tieren.
Letztendlich eskaliert die Inobhutnahme von Hunden und Katzen zum Krankheitsbild des Animal Hoarding, verstärkt durch ein Messie-Syndrom. Vor allem der Zustand des Wohnzimmers verdeutlicht die Allmacht des Chaos: durchdringender „Geruch nach Katzenpisse“, „über dem Kronleuchter klebende Schwalbennester“, „vom Ruß geschwärzte Spinnwebenfäden“ und ein „Holzfußboden übersät mit Papierschnipseln und Katzenfutter“.
So sieht die Umkehrung jeglicher Dorfromantik aus – nicht nur in einer Anti-Idylle, sondern in dem, was sich fast zu einer Dystopie mit dräuender Antizivilisation auswächst. Damit stellt Herbing die Ideale der Mutter nachhaltig infrage und weist auf die Gefahren exzessiver Tierhaltung hin. Doch obwohl manche Tiere buchstäblich auf den Tischen tanzen sowie an Möbelstücken ihre Beine heben und ihre Zähne schärfen und obwohl man manchmal vor ihnen Angst haben muss, werden Aggressivität und Attacken gegenüber ihnen, die in Niemand ist bei den Kälbern zentral sind, durch eine komplexere und differenziertere Perspektive auf sie und ihre Menschen im Hintergrund abgelöst. Schon allein das macht Herbings zweiten Roman rundum sympathisch und lesenswert.
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