Die andere moderne Revolution

Florian Kappeler untersucht die deutsche Literatur der Haitianischen Revolution von der Spätaufklärung bis ins postkoloniale Zeitalter

Von Sandra FolieRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Folie

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die meisten Germanist:innen werden beim Stichwort „moderne Revolution“ erst einmal an die Französische Revolution und ihre Darstellung in der neuen deutschen Literatur denken. Florian Kappeler zeigt auf 600 Seiten eindrücklich, dass dies nicht nur mit der Quellenlage, sondern auch mit einer „Ignoranz der Germanistik“ gegenüber nichtkanonischen Texten zusammenhängt. Schließlich haben sich neben Heinrich von Kleist (und weit ausführlicher als dieser) zahlreiche deutschsprachige Autor:innen mit der Selbstbefreiung versklavter People of Color in der französischen Kolonie Saint-Domingue beschäftigt. In seinem Grundlagenwerk bezweckt Kappeler nichts weniger als „die gesamte Geschichte der deutschsprachigen Literatur der Haitianischen Revolution, die ihr inhärenten Narrative und deren Rolle für die Herausbildung eines modernen Begriffs der Revolution in den Blick zu bekommen“.

Während im deutschsprachigen Raum vor der Haitianischen Revolution geografisches, ökonomisches und zoologisches Wissen über die Kolonie Saint-Domingue dominierte, änderte sich dies ab 1791 schlagartig: Historisch-politische Zeitschriften (von denen Kappeler vier genauer untersucht) befassten sich von Beginn der Revolution an kontinuierlich mit den aktuellen politischen Ereignissen in Haiti. Sie dokumentierten vielstimmige französische, englische, US-amerikanische und haitianische Quellen, die sowohl von Kolonisten als auch von Revolutionären of Color stammten.

Mit einigem zeitlichen Abstand wanderten die Revolutionsnarrative aus den Zeitschriften in die Geschichtsbücher. Dazu zählte neben einem eurozentrischen Diffusions- und Imitationsnarrativ, die die Französische Revolution beide entweder als Ursache oder als Vorbild der Haitianischen Revolution festschrieben, auch ein Narrativ der Handlungsmacht. Dieses orientierte sich häufig an dem Revolutionär Toussaint Louverture, der als „großer Mann“ und Ausnahmefigur unter den People of Color dargestellt wurde. In den 20 von Kappeler analysierten Historiographien konsolidierte sich daneben aber auch ein kollektives Emanzipationsnarrativ, „welches die Haitianische Revolution zum exemplarischen Beweis erklärt, dass People of Color gleichwertige und handlungsmächtige Subjekte sind“.

Wie die Französische Revolution wurde auch die Haitianische im öffentlichen Diskurs als globales Ereignis wahrgenommen – in den Zeitschriften und Historiographien ebenso wie in heute größtenteils vergessenen Prosadichtungen. Das zeigt sich besonders deutlich in Georg Friedrich Rebmanns Roman Hans-Kiek-in-die-Welts Reisen in alle vier Welttheile (1794), der Revolutionen auf vier Kontinenten, darunter die Haitianische, miteinander verknüpft. In Julius von Voß‘ Ignaz von Jalonski (1806) spielt neben Haiti und Frankreich Polen eine zentrale Rolle, wodurch „Europa selbst pluralisiert [wird], während das Narrativ des Ursprungs der modernen Revolution in Europa dezentriert wird. Denn die im Vergleich erfolgreichere Revolution wird in Haiti verortet.“

Um die Handlungsmacht unterworfener Subjekte und damit (neben der Globalität) ein weiteres Charakteristikum moderner Revolutionen in den Blick zu bekommen, analysiert Kappeler die „Beziehungsweisen“ der Figuren in Prosadichtungen wie Heinrich von Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo (1811). Kappeler zeigt, dass das, was in der Forschung bisher als „spezifisch Kleist’sche Inkongruenz“ und „unzuverlässiges Erzählen“ aufgefasst wurde, vielmehr eine „rhetorische Hyperbel“ bereits existierender Revolutionsnarrative darstellt, insbesondere der „tragisch scheiternde[n] Handlungsmacht“ der Figuren of Color. Die Verlobung mit einem weißen Mann hält für Kleists Protagonistin of Color zwar die Möglichkeit von sozialem Aufstieg und Handlungsmacht bereit, endet für sie jedoch mit ihrer Ermordung. Eine seltene Ausnahme in der Literatur der Zeit stellt Julius von der Heydens Roman Die Kreolin und der N**** (1836) dar, der von der ungleich stärker tabuisierten – konsensuellen – Beziehung zwischen einer weißen Frau und einem freien Schwarzen Mann erzählt.

Ein weiteres Merkmal moderner Revolutionen, den Fortschritt, analysiert Kappeler primär anhand von Theodor Mügges historischem Roman Touissant (1840). Im Fokus stehen u. a. die Konzepte von „Mimikry“ und „Emanzipation“. Ersteres werde nicht nur als „eurozentrisches Assimilationsgebot für People of Color“ dargestellt, sondern auch als „politische List“, mit der sie sich „Elemente der kolonialen Kultur (wie Sprache oder Religion) in instrumenteller Absicht aneignen“. In dieser subversiven Variante begreift Kappeler die Mimikry als Emanzipationsmöglichkeit. Dass Mügges emanzipatorisches Fortschrittsnarrativ keineswegs die Norm darstellte, verdeutlicht Wilhelm Jordans Geschichte der Insel Hayti und ihres N****staats (1846), die revolutionären Fortschritt in der „Veredelung von ‚Rassen‘“ sieht: Schwarzen haitianischen Frauen sollen weiße europäische Gene und Kultur ‚aufgepfropft‘ werden. Dieser biologistische Rassismus kulminiert schließlich im Narrativ des „Rassenkampfs“, das in Otto Hoffmanns Adaption von Mügges Toussaint für jugendliche Leser:innen (1874) dominiert.

Die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts nahm solche älteren Revolutionsnarrative wieder auf und reicherte sie mit einzelnen neuen Motiven wie dem Voodoo an. Dieser dient in Hans Heinz Ewers Erzählungen Vaudoux und Die Mamaloi (1907) ebenso wie in Erwin Rüschs historischer Studie Die Revolution von Saint Domingue (1930) dazu, eine rassistische Ideologie absoluter Segregation zu vermitteln. Karl Ottens biografischer Roman Der schwarze Napoleon (1931) teilt mit Rüsch das Narrativ der „großen Männer“. Während dieser jedoch Louverture als außergewöhnlichen Mann zeichnet, indem er ihm sein Schwarzsein abspricht („er ist außergewöhnlich, also kann er nicht Schwarz sein“), stilisiert ihn Otten zum ersten Panafrikanisten avant la lettre: Er wird zwar in eurozentrischer Manier als „schwarzer Napoleon“ beschrieben, geht als positives Gegenstück und Vorbild für zukünftige antikoloniale Bewegungen aber auch über eine Imitation hinaus.

Die 1940er bis 1980er Jahre werden durch Anna Seghers abgedeckt, die „der Haitianischen Revolution unter allen deutschsprachigen Autor:innen die meisten Texte“ widmete. Ihre Porträts dreier Große[r] Unbekannte[r] (1947/48), darunter Louverture, verdeutlichen die veränderte europäische Wahrnehmung des einst omnipräsenten Revolutionärs. In Die Hochzeit von Haiti (1948) geht dieser mit dem jüdischen Juwelier Michael Nathan ein politisches Bündnis ein. Ihre auf gemeinsamen Unterdrückungserfahrungen gründende jüdisch-Schwarze Solidarität könne Leser:innen auch heute noch vermitteln, „dass Rassismus gegen People of Color und Antisemitismus zusammen zu bekämpfen sind und nicht etwa (mit christlichen ‚Weißen‘ als lachenden Dritten) gegeneinander ausgespielt werden dürfen“.

Die Novelle wurde 1962, gemeinsam mit der Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe und Das Licht auf dem Galgen, unter dem Titel Karibische Geschichten neu aufgelegt. Kappeler argumentiert, dass das Arrangement der drei Texte ein lineares eurozentrisches Narrativ der Revolution zugunsten innerkaribischer Interdependenzen und einer globalen Vernetzung durchbricht. Er betrachtet Das Licht auf dem Galgen als Schlüsseltext des Bandes, da darin die jüdische Figur Sasportas nicht nur als Synekdoche der Namenlosen fungiert und historisches „Zeugnis gegen das Vergessen jener Revolutionär:innen [ablegt], von denen niemand sonst erzählt“, sondern auch „zum vorbildhaften Märtyrer [wird], der neue Revolutionen befördert“. Noch einmal eine neue Wendung nimmt Seghers „erinnerungspolitische[s] Programm[]“ in ihrer Erzählung Drei Frauen aus Haiti (1980), die als Pendant zu den ‚großen‘ und ‚kleinen‘ Männern die Indigene Toaliina um 1500, die Schwarze Versklavte Claudine um 1800 und Luisa in der Duvalier-Diktatur der 1970er porträtiert.

Im Resümee stellt Kappeler die Hypothese auf, dass die Haitianische Revolution in der deutschsprachigen Literatur überwiegend in Prosa dargestellt wurde, weil es den Autor:innen um historische Authentizität ging. Im gesamten Korpus dominiert eine „der Aufklärung verpflichtete Tendenz“, die sich formal in der Präferenz von Fortschrittsnarrativen und einer linearen Schilderung geschichtlicher Abläufe zeigt. Der gängigen These, die Haitianische Revolution sei in der deutschen Rezeption primär „für koloniale, nationale und ökonomische Interessen instrumentalisiert worden“, widerspricht Kappeler und macht stark, dass sie auch „Auswirkungen auf die Wahrnehmung von People of Color, die Haltung zu Rassismus, Sklaverei und Abolitionismus oder den modernen Revolutionsbegriff gehabt“ habe. Was sich jedoch im gesamten Korpus nicht finde, sei eine Reflexion der „europäische[n] oder deutsche[n] Situiertheit des Blicks auf Haiti“.

Ein knapper Ausblick zeigt, dass man solch einer Reflexion der eigenen Positionierung wie auch einem formal-ästhetischen Bruch mit dem aufklärerischen Fortschrittsnarrativ in einigen neueren Haiti-Texten aber durchaus begegnet, z.B. in Hubert Fichtes Xango (1976), Hans Christoph Buchs Die Hochzeit von Port-au-Prince (1984) und Dorothee Elmigers Aus der Zuckerfabrik (2020).

***

Die deutsche Literatur der Haitianischen Revolution ist, wie für eine deutsche Habilitationsschrift nicht unüblich, ein sehr dickes Buch. Es ist jedoch weder in umständlichem germanistischem Fachjargon geschrieben noch wird das Thema aufgeblasen. Der Umfang ergibt sich in erster Linie aus dem Materialreichtum, und auch daraus, dass sich der Autor sowohl für wiederholte Kontextualisierungen und Zusammenfassungen als auch für einzelne sehr genaue Close readings Raum nimmt. Ein literaturwissenschaftlicher Blick fürs Detail ist im gesamten Buch erkennbar, ebenso aber ein Bewusstsein für das Leseverhalten von Studierenden und Wissenschaftler:innen. Nach der Lektüre des ersten, einleitenden Kapitels sollte es kein Problem darstellen, den Rest der Studie ausschnittweise zu rezipieren.

In der ersten Fußnote begründet Kappeler ausführlich seinen Umgang mit kolonialrassistischen Begrifflichkeiten. Er führt u. a. aus, dass er „Menschen mit afrikanischen Vorfahren […] – außer in Quellenzitaten und -paraphrasen, die im Original wiederzugeben guter wissenschaftlicher Praxis und einer präzisen Situierung und Kritik rassistischer Kategorien entspricht – People of Color [nenne]“. Die durch die passive Formulierung vom schreibenden Ich abrückende Parenthese suggeriert, dass die Wiedergabe rassistischer Begrifflichkeiten keine Entscheidung des Autors, sondern – ganz objektiv – gute wissenschaftliche Praxis darstellt. Darüber besteht jedoch gerade in den postkolonialen Studien, innerhalb derer sich das Buch verortet, kein Konsens.

Die Entscheidung, rassistische Begriffe wie das N-Wort in Quellenzitaten auszuschreiben, erscheint mit Blick auf die Analysen zumindest punktuell nachvollziehbar, wenn es zum Beispiel darum geht, kolonialrassistische Differenzierungen zwischen rassifizierten Menschen, die in den Texten aufgemacht werden, präzise und kritisch zu untersuchen. Dass die rassistischen Bezeichnungen allerdings immer (und sogar in Paraphrasen) ausgeschrieben werden, führt stellenweise zu einer Ballung rassistischer Sprache, die schwer auszuhalten sein kann. Sie steht auch in starkem Kontrast zur sprachlichen Diskriminierungssensibilität, die Kappeler ansonsten mit Blick auf sein Material beweist; zum Beispiel, wenn er feststellt, dass „die fortdauernde rassistische Benennung von People of Color“ in Zeitschriften und Geschichtsbüchern des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts die progressiven revolutionären Emanzipationsnarrative darin relativiere.

Von dieser sprachlichen Kritik abgesehen, handelt es sich bei Kappelers Studie um ein herausragendes literaturwissenschaftliches Standardwerk. Es schließt eine Forschungslücke und überzeugt durch seinen Quellenreichtum und seine Strukturiertheit ebenso wie durch die differenzierten Textanalysen und die Verbindung von traditionellen Methoden wie der Narratologie mit neueren postkolonialen und intersektionalen Ansätzen.

Kein Bild

Florian Kappeler: Die deutsche Literatur der Haitianischen Revolution. Narrative des Globalen, der Handlungsmacht und des Fortschritts seit 1791.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2023.
608 Seiten, 90,00 EUR.
ISBN-13: 9783849819231

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch