Unterkriegen lassen sie sich nicht
Joanna Bator erzählt in „Bitternis“ eine Familiengeschichte über vier Generationen aus Frauenperspektive
Von Liliane Studer
Auf Seite 827 angekommen, möchte man gleich zurückkehren an den Anfang des Romans, um nochmals gebannt den Geschichten der vier Frauen Berta, Barbara, Violetta („mit V und Doppel-t“) und Kalina zu folgen. Man möchte sich verlieren in den wunderbar ausgearbeiteten Szenen, sich besser zurechtfinden im Dorf, das mehrmals die Staatszugehörigkeit wechseln muss, die Geschichte Schlesiens im 20. Jahrhundert endlich zur Kenntnis nehmen (denn selbstverständlich haben die Schweizer:innen, zu denen die Rezensentin gehört, im Schulunterricht nichts davon erfahren).
Mit der Jüngsten, Kalina, die manchmal in der ersten, manchmal in der dritten Person erzählt, kehren wir zurück in die 1920er-Jahre, nach „Langwaltersdorf nahe dem deutschen Waldenburg, das wenige Jahre nach ihrem [Bertas] Weggang zum polnischen Wałbrzych werden sollte“. Hier lebt Berta Koch zusammen mit ihrem Vater, die Mutter verstarb im Kindbett. Es war ein Glück, dass am Tag von Winifreds Tod Trudi Tabach mit ihrem Neugeborenen ins Dorf zurückkehrte und bei Hans Koch unterkam, denn sie hatte Milch für zwei und starke Hände. Magda Tabach und Berta Koch sind bald unzertrennlich – und über Spuren, die zu Magda führen, soll die Urenkelin Kalina Jahre später manche Leerstelle, die sie bei ihren Recherchen zu ihren Vorfahrinnen findet, in der Familiengeschichte schließen können.
Die intelligente und aufgeweckte Berta hat durchaus das Zeug für eine höhere Schulbildung, doch davon will ihr Vater nichts wissen. Er sieht in ihr eine gute Arbeitskraft für die Fleischerei; mit ihren „Häckerle“ (Rezept auf Seite 827) überzeugt sie schon früh, nicht zuletzt, weil sie die an der Schwindsucht erkrankten Kurgäste, die in Sanatorium in der Nähe vorübergehend leben, stärken. Unter anderem auch dank des Tagebuchs, in das Berta regelmäßig schreibt, kann Kalina später die Geschichte ihrer Urgroßmutter rekonstruieren, die sich in den Geschichten ihrer Großmutter Barbara – bei der sie aufwuchs – fortsetzt und zu ihrer Mutter Violetta führt.
Barbara kommt im Mai 1939 in der Waldenburger Haftanstalt zur Welt, Vater unbekannt. Weswegen die Mutter Berta im Gefängnis saß, soll erst viele Seiten später aufgedeckt werden, auch wenn bereits zu Beginn des Romans erste Hinweise auftauchen. Barbara wächst im Waisenhaus bei den Ordensschwestern auf. Sie lernt rasch, dass sie zu den Untersten der Unteren gehört, und versteht nicht, warum nach dem Krieg das Ehepaar Serce gerade sie auswählt, die kein Wort spricht, wenn doch 25 andere ebenfalls im Angebot waren. Damit beginnt für Barbara die Zeit in der Wohnung am Bergmannsplatz in Wałbrzych, in der später die Enkelin Kalina bei ihrer Großmutter Barbara, von ihr Babcia Bunia genannt, aufwachsen würde.
Denn früh schwanger wird auch Barbara, von Barnaba, jenem Mann, der sie quälte, betrog, misshandelte, beinahe tötete und von dem sie sich trotzdem nicht trennen konnte. Auf die Frage der Staatsanwältin, warum sie Barnaba denn „hereingelassen“ habe, wenn sie Angst vor ihm hatte, antwortet sie: „Weil ich Angst davor hatte, ihn nicht hereinzulassen.“ Damit ist alles gesagt, und am 7. November 1991 zieht Barbara einen Schlussstrich, nachdem sie Barnaba dabei entdeckt hat, wie er zur Enkelin sagt: „Na komm, zeig dem Opi, was du da hast.“ Kalina ist da anderthalb Jahre alt.
Barbaras Tochter Violetta erkennt bereits früh, dass sie fliehen muss, sobald sie irgendwo angekommen ist. Unstet eilt sie durchs Leben, immer wieder auf der Suche nach dem richtigen Mann und zielsicher darin, sich immer an den falschen zu hängen. Ihr fehlt jeglicher Realitätsbezug. Oder vielleicht ist es auch eher so, dass ihre Realität nicht auszuhalten wäre, und so muss sie sich immer wieder eine andere, eine bessere Welt vorstellen. Bevor sie jedoch erneut enttäuscht werden könnte, ist sie bereits weitergezogen. Die einzige längere Zeit, die Mutter und Tochter zusammen verbringen, sind die Jahre, als Barbara im Gefängnis ist, was die fast siebenjährige Kalina jedoch nicht weiß. Sie lebt in der Annahme, ihre geliebte Bunia sei im Sanatorium. Es ist keine gute Zeit, für alle drei nicht.
Der großartige Roman Bitternis von Joanna Bator lässt sich nicht einfach zusammenfassen. So wurde hier auch nur der Versuch unternommen, ein paar wichtige Momente im Leben der vier Frauen wiederzugeben, die einen Hinweis geben, wie verschlungen deren Leben miteinander sind. Nichts wurde gesagt vom Haus in Sokołowsko, das Kalinas Suche nach ihren Vorfahrinnen umrahmt, handelt es sich doch dabei um die „Pension Glück“, in der vor dem Krieg die Angehörigen der Kranken im Sanatorium während ihrer Besuche wohnen. Hier trifft sich auch Berta mit ihrem Geliebten, von dem sie schwanger wird. Auch wird nichts gesagt vom Haus am Bergmannsplatz und dessen Bewohner:innen, die sich gegenseitig genau beobachten und alles voneinander wissen, auch das, was mit allen Mitteln geheim gehalten werden soll. Trotz Neid und Streitereien halten die Frauen zusammen, vor allem, wenn es darum geht, sich gegen trinkende Männer in Sicherheit zu bringen. Auch unter widrigsten Umständen bewahren die Frauen eine Stärke, die überlebensnotwendig sein kann. Das gilt auch für die vier Protagonistinnen. Es verbindet sie ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, entstanden aus der scharfsichtigen Beobachtung, dass sie nur eine Chance haben, wenn sie die Verantwortung selbst übernehmen. Dass dies auf Kosten von anderen gehen kann – und damit meine ich jetzt nicht nur auf Kosten der Männer/Väter, sondern auch der eigenen Tochter –, muss in Kauf genommen werden.
Die Faszination, die von diesem Roman ausgeht, liegt zusätzlich in der Erzählstruktur und in der Sprache. Johanna Bator gliedert den Roman in Kapitel, die jeweils mit dem Namen der vier Frauen Berta, Barbara, Violetta und Kalina überschrieben sind. Die eigentliche Erzählerin ist Kalina, die die Geschichten ihrer Vorfahrinnen aufrollt und sowohl als Kalina wie auch als Ich auftritt. Dieses Geflecht von ineinanderfließenden Erzählsträngen bekommt einen besonderen Reiz, weil Joanna Bator nicht chronologisch erzählt. Das heißt, dass die Leser:innen nach und nach die Zusammenhänge schaffen und manches, was wir gelesen haben, durch eine nächste Geschichte wieder in ein neues Licht gestellt wird. Über dieses Erzählen lesen wir gleich zu Beginn:
Vielleicht wird manche die nichtlineare Struktur dieser Geschichte irritieren, und sie werden fragen, weshalb ich von der Vergangenheit in die Zukunft springe und zurück, und ob ich nicht der Reihe nach hätte erzählen können. Je weiter ich mich aber in die Geschichte über uns vier hineinbegebe, desto stärker wird mein Eindruck, dass wir mit und zugleich gegen den Strom der Zeit leben, mitgerissen von der Zukunft wie von der Vergangenheit, unverwurzelt im schwindenden Jetzt. […] Ich selbst trete in dieser Geschichte selten auf, ich husche nur ab und zu im Hintergrund vorüber, mal in der dritten, mal in der ersten Person, die sich häufig überschneiden oder ineinanderfließen. Diejenige, die erzählt, und die jüngste meiner Hauptfiguren, Kalina Serce, sind ein und dieselbe Gestalt. Nur so gelingt es mir die wenig gehaltvolle Existenz zu fassen, die ich bin, und sie mit Kalina zu verbinden, diesem mir kaum bekannten Mädchen, das auf einen Jungen namens Konrad wartet und sich nach Babcia Buna sehnt.
So tauchen wir Leser:innen gebannt ein in die Geschichte der vier Frauen(generationen), setzen die unzähligen Puzzleteilchen zusammen und werden Zeug:innen, wie Frauen, für die kein selbstbestimmtes Leben vorgesehen ist, trotzdem ihren Weg gehen und einen hohen Preis dafür bezahlen. Dass wir Bitternis von Joanna Bator auf Deutsch lesen können, ist Lisa Palmes zu verdanken, die den Roman elegant übersetzt hat und dabei Witz, Sarkasmus und Komik, denen wir immer wieder begegnen, ebenso gekonnt wiedergibt wie die Szenen voller Gewalt und (Frauen-)Verachtung und alles Weitere, was dieser Roman bereithält.
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