Wortmächtiger Satiriker, Sprach- und Kulturkritiker

Zum 150. Geburtstag von Karl Kraus gibt es neben einer neuen Biografie zwei Nachauflagen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der österreichische Schriftsteller Karl Kraus (1874-1936) gilt als einer der bedeutendsten Sprach- und Kulturkritiker des 20. Jahrhunderts, gleichzeitig war er Publizist, Satiriker, Lyriker und Dramatiker. Seine literarische, kulturelle und politische Wirkung strahlte aber weit über Österreich hinaus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte es jedoch zunächst den Anschein, als würde man Karl Kraus mit der Zeitaktualität seiner Texte nur eine Fußnote in der Literaturgeschichte einräumen. Die Hinwendung in den 1960er Jahren fußte aber gerade auf der bleibenden Gültigkeit seiner Texte.

Einige Neuerscheinungen würdigen nun seinen 150. Geburtstag. Der Schriftsteller und Lektor Bruno Kern legt eine neue, kompakte Biografie vor, die das Leben und Schaffen von Kraus in den historischen Kontext einbettet, der für das Verstehen seiner Werke geradezu fundamental ist. Es ist eine „kleine Biografie“, wie der Autor in seiner Einführung Die schöpferische Ohnmacht des Wortes selbst einräumt, die neben den historischen Hintergründen aber auch die Wirkung seiner Sprache bis in unsere Gegenwart beleuchtet.

In sechs Kapiteln skizziert Kern die Lebensstationen von Karl Kraus. Am 28. April 1874 wurde er im nordböhmischen Gitschin (heute: Jicín) als Sohn des jüdischen Papierfabrikanten Jakob Kraus und dessen Frau Ernestine (geb. Kantor) geboren. 1877 siedelte die Familie nach Wien über, wo Kraus auch bis zu seinem Tod leben sollte. In Wien besuchte er die Volksschule und anschließend das Franz-Joseph-Gymnasium. Nach abgebrochenem Studium (Jura und später Philosophie und Germanistik) und Versuchen als Schauspieler wandte er sich dem literarischen Journalismus zu.

Bereits mit 25 Jahren gründete Kraus im April 1899 die Zeitschrift Die Fackel, an der in den Anfangsjahren noch verschiedene Künstler und Schriftsteller wie Peter Altenberg, Detlev von Liliencron, Else Lasker-Schüler, Egon Friedell oder Frank Wedekind mitarbeiteten. Ab 1912 war Kraus dann alleiniger Autor der Zeitschrift. Während des Ersten Weltkriegs wurde Die Fackel mehrmals konfisziert, weil Kraus in ihr eine pazifistische Haltung vertrat und die österreichische Kriegspolitik scharf kritisierte.

Während des Krieges erschien sein erster Gedichtband Worte in Versen, dem bis 1930 acht weitere folgten. Außerdem begann Kraus mit der Arbeit an seinem großen Weltkriegsdrama Die letzten Tage der Menschheit, das 1919 als Sonderheft der Fackel erschien. Die Weltkriegstragödie verdeutlichte in über 200 Szenen und mit mehr als 500 Figuren die Grausamkeiten des Alltags im 1. Weltkrieg. Eine reduzierte Bühnenfassung des Dramas wurde jedoch erstmals 1964 aufgeführt. In den 1920er Jahren entstanden auch einige „kleine Dramen“, die aber bis auf Wolkenkuckucksheim (1923) und Die Unüberwindlichen (1927) nur bescheidenen Erfolg hatten.

Neben der journalistischen und literarischen Arbeit widmet sich Kern auch ausführlich der Vortragstätigkeit von Karl Kraus. Bereits vor und während des Ersten Weltkrieges war Kraus mit Lesungen als Vortragskünstler aufgetreten, nun intensivierte er die publikumswirksamen Leseabende. 1925 wurde man in Frankreich auf ihn aufmerksam und lud ihn in den folgenden Jahren zu mehreren Vortragsabenden an der Pariser Sorbonne ein. Kraus fühlte sich in Paris bald so „heimisch“, dass er 1933 sogar erwog, Wien ganz zu verlassen und dorthin ins Exil zu gehen. Insgesamt siebenhundert Leseabende absolvierte Kraus, wobei er neben eigenen Texten auch Shakespeare, Offenbach, Gogol, Hauptmann, Wedekind und vor allem Nestroy zum Vortrag brachte.

In den 1920er Jahren wurde Karl Kraus von französischen und Wiener Universitätsprofessoren dreimal für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen, mit der Zusatzbemerkung, dass auch der Friedensnobelpreis angemessen erschiene. Allerdings ohne Erfolg.

1929, im Jahr des großen Börsencrashs und der Weltwirtschaftskrise, feierte die Fackel ihr dreißigjähriges Bestehen. Zu Beginn der 1930er Jahre verbrachte Kraus viel Zeit in Berlin, wo sich neben Vorträgen ein freundschaftliches Verhältnis zu dem wesentlich jüngeren Bertolt Brecht entwickelte. Die Aufenthalte in Berlin schärften seinen Blick für die drohende Gefahr des Nationalismus. Mit dem 300seitigen Text Die dritte Walpurgisnacht (1933) lieferte er die wichtigste zeitgenössische Analyse der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Allerdings kam das Dokument erst einige Jahre nach Kriegsende zur Publikation. Vehement setzte sich Kraus gegen den Anschluss Österreichs an Nazideutschland ein. Das führte jedoch zu einer Entfremdung mit großen Teilen seines Publikums. Seit längerer Zeit litt er an einer beidseitigen Herzinsuffizienz, verbunden mit Atemnot. Die letzte Ausgabe der Fackel erschien im Februar 1936 und die letzte öffentliche Lesung hielt er im April. Zwei Monate später, am 12. Juni 1936, starb Karl Kraus in Wien.

Neben einer Zeittafel, zahlreichen historischen Abbildungen und treffend ausgewählten Originalzitaten, die Anregungen für eine weitere Lektüre geben, punktet die Biografie noch mit einem Stadtrundgang durch Wien Auf den Spuren von Karl Kraus. Der Spaziergang führt vom Stadtpark an der Wiener Ringstraße, für Kraus ein Ort der Erholung, über die Wohnung in der Lothringerstraße, das neue Burgtheater oder die Straßenkreuzung „Sirkecke“, wo man sich in den Letzten Tagen der Menschheit dem Hurra-Patriotismus hingab, bis hin zum Wiener Zentralfriedhof, wo auf einem schlichten grauen Stein nur der Name „Karl Kraus“ vermerkt ist.

Der Wallstein Verlag hat zum Jubiläum eine Neuausgabe des Karl Kraus Lesebuches des Schriftstellers, Übersetzers und Literaturhistorikers Hans Wollschläger (1935-2007) beigesteuert. Die erste Ausgabe dieses Lesebuchs erschien erstmal 1980 im Diogenes Verlag, die dann 1987 der Suhrkamp Taschenbuch Verlag übernahm. Hier besorgte der Germanist Christian Wagenknecht (1935-2020) eine kommentierte Werkausgabe mit Kraus‘ Schriften, die auch eine breite Auswahl von Texten aus der Fackel beinhaltete. 1977 erschien dann bei Zweitausendeins eine Reprintausgabe aller 922 Fackel-Ausgaben (1899-1936) in zwölf Bänden, die 2007 eine überarbeitete Auflage erlebte. Inzwischen ist auch eine Online-Ausgabe verfügbar. Die Hoffnung auf eine Gesamtausgabe der Fackel mit Kommentaren zu historischen und gesellschaftlichen Sachverhalten erfüllte sich jedoch bis heute nicht.

Das Karl Kraus Lesebuch liefert einen Querschnitt aus dem riesigen Werk der Zeitschrift Die Fackel. Gleich im Vorwort Vom Wahnsinn des Unterfangens seiner Auswahl von rund hundert Texten hatte Wollschläger eingeräumt, dass damit vielleicht ein Prozent des umfangreichen Lebenswerkes von Karl Kraus berücksichtigt wurde. Das gigantische Werk der über 37 Jahre erscheinenden Zeitschrift umfasst immerhin nahezu 23.000 Normalseiten Prosa, „ein Phänomen der Kultur- und Gesellschaftskritik, wie die Weltliteratur kein ähnliches hat“. Angesichts dieser Fülle und der Tatsache, dass es eigentlich keine „Nebenarbeiten“ gibt, wollte Wollschläger seiner Auswahl auch nicht das Prädikat „repräsentativ“ verleihen. Vielmehr versuchte er, den Entwicklungsweg der Zeitschrift abzustecken, nicht thematisch, sondern chronologisch in drei Abschnitte untergliedert: Texte aus den Jahren 1899-1913, 1914-1919 und 1920-1933. So wechseln sich die unterschiedlichsten Texte ab – von Glossen über Satiren, Kritiken, Essays bis zu Aphorismen. Kraus sah seine Zeitschrift als ein publizistisches Gegenprogramm zur bürgerlichen Doppelmoral. Zentrales Ziel seiner Kritik waren Kriegstreiberei, Korruption und vor allem der phrasenhafte Journalismus der Boulevardpresse.

Die Wallstein-Ausgabe ist mit einem kommentierten Personenregister des Lektors Andreas Haller ausgestattet, das dem Leser die Benutzung erleichtert, indem es mitunter auf die angespielten Sachverhalte Bezug nimmt.

Seine zunächst in der Fackel veröffentlichten Aphorismen hatte Karl Kraus selbst fast vollständig in den Bänden Sprüche und Widersprüche (1909). Pro domo et mundo (1912) und Nachts (1919) zusammengestellt: Der Insel Verlag hatte daraus bereits 2006 mit Karl Kraus für Boshafte (it 3240) eine Auswahl herausgebracht, die nun zum Jubiläum unter dem Titel Ich mische mich nicht gerne in meine Privatangelegenheiten eine Neuauflage erlebt.

Die Auswahl ist in fünf Kapitel unterteilt, die sich den Themen Frauen/Männer, Psychologie, schreibende Zunft, menschliche Gesellschaft und österreichischer Beamtenapparat widmen. Überall geißelte Kraus mit häufig aggressiver und vernichtender Kritik die jeweiligen Zustände. Die Aphorismen waren für den scharfsinnigen Satiriker ein Instrument im Kampf gegen verlogene Moral, gegen Chauvinismus und Nationalismus.

Obwohl Kraus für die geschlechtliche Freiheit der Frau und gegen die konservativ-repressive österreichische Sexualgesetzgebung kämpfte, hatte er selbst ein seltsam gespaltenes Frauenbild, in das die politische und gesellschaftliche Emanzipation nicht passte. In seinen zahlreichen Fackel-Essays setzte er sich zwar kritisch mit der doppelten Sexualmoral auseinander, doch Aphorismen wie „Des Weibes Sinnlichkeit ist der Urquell, an dem sich des Mannes Geistigkeit Erneuerung holt“ weisen der Frau eine rein sinnliche Existenz zu und sprechen ihr geistige Qualitäten ab. Auf diesen Aspekt weist die Autorin und Lektorin Christine M. Kaiser in ihrem kurzen Nachwort ausdrücklich hin. Trotz der historischen Bedingtheit stößt diese fragwürdige Haltung von Kraus heute auf Befremden. Der weitaus größere Teil der Aphorismen zu den anderen Themen hat jedoch kaum etwas an Aktualität eingebüßt.

Titelbild

Bruno Kern: Karl Kraus. Widerspruch gegen den Zeitgeist.
Weimarer Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 2024.
168 Seiten , 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783737403047

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Titelbild

Hans Wollschläger (Hg.): Das Karl Kraus Lesebuch.
Mit einem Vorwort „Vom Wahnsinn des Unterfangens“ und einem Nachwort „Die Instanz K. K. oder Unternehmungen gegen die Ewigkeit des Wiederkehrenden Gleichen“ von Hans Wollschläger.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024.
452 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783835356122

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Titelbild

Karl Kraus: Ich mische mich nicht gerne in meine Privatangelegenheiten. Auswahl und Nachwort von Christine M. Kaiser.
insel taschenbuch 5060.
Insel Verlag, Berlin 2024.
112 Seiten , 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783458683605

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