Ein Roman über das Schreiben in unbegreiflichen Zeiten

Sigrid Nunez erzählt in „Die Verletzlichen“ von einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft und über Freundschaft. Sie landet so bei den existentiellen Fragen des Schreibens

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nun kehrt also die Pandemie zurück – glücklicherweise nur in der Literatur. Was natürlich zu erwarten war. Nach Björn Kuhligks Langgedicht „An einem Morgen im März“ jetzt also Sigrid Nunez’ Roman. Beide, die Dichtung wie der Roman, zeigen: Ja, so lässt sich angemessen über die drei Jahre schreiben, die sich wohl für nicht Wenige wie verlorene Jahre anfühlen. Die Zeit war nur zum Schein angehalten worden, in Wahrheit ging sie im Leerlauf unerbittlich vorüber und riss seltsame Löcher ins Leben. In einem Interview erklärte Nunez, sie lese nicht, „um bestätigt zu bekommen, was ich bereits kenne und weiß, sondern um Neues zu entdecken“. Ihr Roman ist dafür ein geeigneter Einstieg.

Die Verletzlichen – eines der inflationären Worte jener Zeit, wenn ständig von vulnerablen Gruppen die Rede war –  ist genau genommen ein Roman über das Schreiben von Romanen. Er beginnt mit der Erörterung, wie ein solcher zu beginnen sei. Eine Regel laute, die Nunez jedoch nie verstanden habe, nicht mit dem Wetter zu beginnen. Und so lautet der erste Satz absichtsvoll: „Es war ein launischer Frühling.“ Es ist ein Zitat aus einem Roman, aus dem für Nunez sonst nichts in Erinnerung geblieben ist.

Warum sollten Romane nicht mit dem Wetter beginnen? Ein ganz berühmter Wetterbericht fällt mir sofort ein, nämlich der in Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“: „Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum […].“ Und nach weiteren Erläuterungen resümiert der Autor schließlich: „Mit einem Wort […]: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.“ Bei Nunez finden sich noch weitere Beispiele, um schließlich den Frühling 2020 als einen solchen launischen in Erinnerung zu rufen, in dem die Magnolien- und Kirschblüten viel zu schnell wieder verschwanden.

Damit ist das Wetter abgehakt und es rückt ein anderer Begriff ins Blickfeld, ein Schlüsselbegriff für all jene, die schreiben: Erinnerung. Jede Schreibblockade sei mit diesen drei Worten zu lösen: Ich erinnere mich. Die Ich-Erzählerin, die wir als die Autorin vermuten dürfen, erinnert sich sogleich an das „Bleib zu Hause“ als neue Regel, um dann doch ständig draußen in Manhattan unterwegs zu sein. „Wir waren jetzt alle auf den Status von Kindern reduziert.“ Alles wurde seltsam fremd. „Das Verhalten der Leute ist dieser Tage nicht zu verstehen. Versuch es nicht mal.“ An Absurditäten hat es jedenfalls keinen Mangel. Wie verwandelt erscheint der Alltag und das Verhalten der Menschen. Nunez berichtet von lauter Seltsamkeiten.

Wer es sich in New York leisten kann, verlässt die Stadt und wohnt jetzt auf dem Land im Ferienhaus, dem sicheren Zweitwohnsitz fernab der Hotspots. Andere kommen aufgrund des Lockdowns nicht mehr zurück in die Stadt, bleiben irgendwo hängen. So auch eine befreundete Person, die in Kalifornien bleiben muss. Nunez übernimmt die Pflege eines Papageis, der in der verwaisten Wohnung der Freundin lebt. Ein junger Mann, der das zuerst übernommen hatte, war überraschend weggeblieben. In der sehr schönen und großen Wohnung hat der Papagei mit Namen Eureka sein eigenes Zimmer mit gemalter Urwaldkulisse ringsum.

„Auf der Liste der beliebtesten Pandemie-Hobbys stand Vogelbeobachten weit oben“, lässt uns die Autorin wissen, die nun einen wunderschönen Vogel aus allernächster Nähe erlebt. Und wäre sie nicht Schriftstellerin geworden, hätte sie wahrscheinlich mit Tieren gearbeitet, verrät sie uns: „Wie vielen, denen die Geduld für andere Menschen fehlt, habe ich alle Zeit der Welt, wenn es um Tiere geht.“

Der junge Mann kehrt unverhofft zurück. Aber die Ich-Erzählerin kann nicht in die eigene Wohnung zurück, weil sie diese jemand anderem überlassen hat. Was tun, denn nun ist einer zu viel anwesend und die Wohnung voller Testosteron. Weil sie groß genug ist, können sich die beiden aus dem Weg gehen. „Ich wollte kein Gespräch mit ihm führen, doch ich war neugierig. Was sollte das heißen?“ Es heißt ganz einfach, dass der gutaussehende Mann Erinnerungen an das wachruft, was für die Autorin inzwischen hinter ihr liegt, nämlich die erotische Anziehung. Man lernt sich dennoch kennen und die Distanz schwindet nach und nach. Irgendwann liegen beide bekifft im Wohnzimmer und führen seltsame Gespräche.

Der junge Mann aus wohlhabendem Haus, den die Erzählerin ihren Freundinnen gegenüber Misanthrop, Mansplainer und Ökoterrorist nennt, vertritt eigenwillige Ansichten. Privilegiert geboren, ebenso privilegiert aufgewachsen, wettert er jetzt ständig gegen die Privilegien. Am Ende zieht er zusammen mit dem Papagei aus. „Und ich sah ihnen nach: Sie gingen aus meinem Leben, aus meinem Roman.“ Schließlich die Frage: „Aber wie hat all das wirklich geschehen können? Ich muss es erfunden haben.“

Womit wir wieder bei der Feststellung sind: Nunez hat einen Roman über das Romanschreiben verfasst. Ganz zum Schluss heißt es dann: „Ich habe mich mit der Tatsache abgefunden, dass ich, wann immer ich etwas über das Schreiben oder das Dasein als Schriftstellerin schreibe, manche Leute zu Tode nerve.“ Auch damit hat Nunez wohl recht, wie mit so vielem, was sie uns zuvor alles hat wissen lassen. Tatsächlich begegnete mir in einer Rezension die Genervtheit, von der Nunez spricht. Denn da heißt es in der Kritik, das sei eine ereignislose Geschichte, verheddert in der eigenen Ziellosigkeit.

Nun ist der Roman, wie ich meine, weder ereignis- noch ziellos und verheddert sich glücklicherweise in ein immer wieder neu einsetzendes Gespräch über Literatur. Die Frage ist, was wir als Ereignis verstehen wollen und was unter den Bedingungen der Pandemie und ihrem Lockdown als einer erzwungenen Ereignislosigkeit überhaupt als Geschehen möglich ist. So banal das auch klingen mag, aber dass kaum etwas geschieht, ist das Ereignis, und was es mit den Menschen macht. Dafür ist der dünne, spärliche Alltag randvoll mit menschlichen Beobachtungen und klugen literarischen Erinnerungen gefüllt.

Als man ihr sagt, sie sei doch eine von den Vulnerablen, bringt sie bald darauf Charles Dickens ins Spiel, bei dem es immer unendliches Leid gebe. Aber zugleich wusste man ebenso sicher den glücklichen Ausgang. „Kein Wunder, dass ich Dickens damals liebte. Kein Wunder, dass ich ihn heute nicht mehr lesen kann.“ Das Ziel ist hier wie im Rest des Buches, den Blick für die Wirklichkeit zu schärfen, die Selbsttäuschungen und unauflösbaren Widersprüche aufzuspüren. Das gelingt ihr grandios in der Beschreibung von Lily, eine von vier Freundinnen, die an einem Gehirntumor starb und nun beerdigt wird. Sie sei die erste gewesen, die heiratete, ein Kind bekam und ebenso ist sie die erste, die starb.

Unterhaltungen gehen bei Nunez gern ins Grundsätzliche und beschreiben fundamentale Mentalitätswandel. Aber sie liebt auch die Anekdoten und das Eskapistische. Als ihr der Computer bei der Rechtschreibprüfung für ihren Namen den Vorschlag „Sugared Nouns“ macht, gezuckerte Substantive, gefällt ihr sogleich die Idee eines Pseudonyms. Oder dies: „Ich kann die Geschichte meines Lebens in vier Worten erzählen: Gute Zeiten, schlechte Zeiten.“

Der Sinn für Komisches blitzt bei Nunez mitunter ganz unerwartet auf. An einer Stelle nimmt sie sich die große Joan Didion vor, um zu beschreiben, dass Genie und Naivität eng beieinander liegen können. Denn offenkundig hatte sich die junge Didion an der Nase herumführen lassen, als sie für den vielbeachteten Aufsatz „The Hippie Generation. Slouching Towards Bethlehem“ recherchierte. Sie erzählt darin von einem Hippie-Paar, dessen fünfjähriges Kind bereits Drogen nehme. Zumindest will man ihr das glauben machen. Aber Nunez wendet ein: „[…] wir wussten, dass das Veralbern von Leuten – insbesondere Mitgliedern des Establishments und vor allem Mitgliedern des Establishments, die über sie schrieben […] die Art Verhalten war, für das diese Generation berühmt war. Faxenmacherei: der Modus Operandi der Gegenkultur.“ Was die investigative Journalistin nicht bemerkt, stattdessen befriedigt feststellt: „Man lebt für Augenblicke wie diesen, wenn man an einem Artikel schreibt.“

Diese und noch viele andere kluge Beobachtungen machen den Roman zu einer höchst anspruchsvollen Unterhaltung über unbegreifliche Zeiten. Und Anette Grube trägt mit ihrer eloquenten Übersetzung gleichermaßen dazu bei. Nunez hat zudem die Begabung, für ihre literarischen Entscheidungen treffsicher den jeweils passenden Fürsprechern das Wort zu erteilen. Als Ich-Erzählerin aufzutreten, geschehe keineswegs aus egoistischen Gründen, so Stendhal zitierend, sondern „es ist einfach der schnellste Weg, die Geschichte zu erzählen“.

Im Memoir einer Freundin findet sie Passendes für ein Resümee: „Elegie und Komödie, sagt sie, ist die einzige Möglichkeit, um auszudrücken, wie wir jetzt leben. Und nur, weil etwas im echten Leben nicht komisch ist, heißt es nicht, dass man nicht darüber schreiben kann, als wäre es komisch. Ja, es ist vielleicht die einzige Weise, darüber zu schreiben.“

Titelbild

Sigrid Nunez: Die Verletzlichen.
Roman.
Aus dem Englischen von Anette Grube.
Aufbau Verlag, Berlin 2024.
224 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783351041984

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