Lyrische Himmelskunde

Tom Schulz dichtet in „Die Erde hebt uns auf“ verspielt theologisch

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Religiöse Musikalität, fernab erhabener Erbaulichkeit und kitschiger Frömmelei, wird in Dichtungen immer wieder sichtbar, oft sorgsam verborgen, sensibel versteckt und gut verwahrt. Der Poet Tom Schulz scheut sich nicht vor theologischen Anklängen und himmlischen Ausblicken. Er schenkt der Metaphysik gedankenvoll Raum und lässt so manchen Gottesgedanken leicht entschweben. Hoffnungszeichen werden poetisch notiert, menschliche Sehnsüchte sind mitnichten Schnee von gestern – und die „nächste Päpstin“ ist natürlicherweise „eine Frau“. Diskreter Humor lässt die Leserschaft leise lächeln, denn ein Mann könnte kaum die „nächste Päpstin“ sein, auch nicht „nach den Zeitsprüngen“. Die „Brote“ werden zu „grünen Boten“, doch wer versendet „essbare Briefe“, im wahrsten Sinne des Wortes: eine höchst nahrhafte Post? Das lyrisch Ich selbst verantwortet dies und rät:

Nimm den kurzen Weg über das Feld
nach Hause. Aller Schnee ist gestern, und die ersten
Kirschblüten leuchten rot und weiß.

Die Kirschblüten zeigen an: Es ist Frühling, die Zeit des Erwachens beginnt aufs Neue, der Winter, noch in der Erinnerung präsent, wird ins Gestern verbannt – und die Gottesfrage stellt sich:

Gott wird immer kleiner, ähnlicher einer Erbse. Unsere Erde
lebt unter dem fremden Griff. Und wir wissen noch nicht, wie
der Mond uns umhalst, wenn die kälteren Nächte nahen.

Sind die „kälteren Nächte“ die Zeiten der Transzendenzlosigkeit, die Signaturen der Säkularisierung? Dieser Gott wächst nicht ins Unendliche hinaus, er scheint zu schrumpfen in einer Welt, die anders okkupiert und beherrscht wird, „unter dem fremden Griff“ steht. Die „kälteren Nächte“ sind vorausgesagt, angekündigt, erscheinen bedrohlich. Aus bloßen Beobachtungen in Italien entstehen gedankenvolle Rätsel:

Alle sagen, das Jahr geht zu Ende. Doch nichts
endet jetzt, nichts beginnt. Die Kirchentür öffnet
um sieben. Wer hineingeht, kommt wieder heraus.

Der eine oder die andere möchte vielleicht gar nicht hineingehen, doch mancher – eine nicht auszuschließende Möglichkeit – eintreten, aber nicht wieder herauskommen, ins Freie, von der Kälte ungeschützt. Beobachtet und skizziert wird nur der Rhythmus, der kreisförmig erscheint, eine Lebensweise, die Tag für Tag fortdauert. Niemand, der diese Kirche betreten hat, bleibt darinnen. Es ist ein Kommen und Gehen von immer denselben, auch dies hat eine gewisse Musikalität, ja eine Monotonie, im Mindesten eine Gleichförmigkeit, die auch Ruhe schenken kann, in der Welt, in der buchstäblich alles „Acker und Weide“ werden kann, so dass dem lyrischen Ich die „Petersilie“ näher steht als der „Petersdom“. Pracht und Herrlichkeit mögen wertgeschätzt sein, das Leben regt sich auf der Scholle, „nahe der Erde“. Dort darf der Gärtner seinen Pflanzen beim Wachsen zuschauen, auch dem „wilden grünen Spargel“. Tom Schulz dichtet weiter, dichtet sich fort:

Die Erde hebt uns auf, wir fallen durch den Weltraum.
Klettern die Hügel hinauf. Vieles ist offen, und nicht
zu schreiben. Der unentschlossene, verwirbelte Himmel.

Die Blickrichtung geht hinaus ins Offene, eine Strebebewegung geht nach droben, in eine Sphäre, die sich der Beschreibung entzieht. Auch der Himmel gibt kein klares Bild, bietet keine schlüssige Deutung oder verbindliche Interpretation an, bleibt „unentschlossen“ und „verwirbelt“. Wenn alles möglich ist, ist auch nichts ausgeschlossen, nicht einmal, dass der „Faden des Glücks“ entdeckt und festgehalten werden könnte:

Wir sind wenige. Die Erde hebt uns auf. Wo wir liegen
blieben, wo wir verlassen waren. Da ist die Stelle
zu schürfen, und der Faden des Glücks hält.

Dichter werden genannt, von Novalis bis Fontane, poetisch geehrt, verklärt nicht, aber mit Gedichten bekränzt,  ehe sich Tom Schulz dann, in einer großen Hommage, Wolfgang Amadeus Mozart widmet, dem „Kind mit flinken Fingern“, das „am Pianoforte“ triumphierte, vieles kannte, Anagramme, das Armenhaus und auch das Leben am Hof:

Ein mildes Kopfschmerzwetter
und die Berge erhoben sich.
Gott hörte Mozart, jubelte und starb.

Nahezu ein ketzerischer Gedanke scheint Einzug zu halten – oder nicht? Mozarts Musik wird hier zur höchsten Erfüllung, zu etwas Wundersamen, ausnehmend Genialischem, das niemand übertreffen kann, ob im Himmel oder auf Erden. Die Hochkultur also, zumindest der eine Repräsentant derselben, wird vergöttlicht, doch auch er, Mozart, musste sterben:

Jetzt war also Mozart Gott. Er hob
die Streichquartette auf das Dach der Welt.
Mozart kämmte Gottes Sohn.

Zwar huldigt Schulz nicht einer neuen Kunstreligion, aber die ungezügelte Verehrung Mozarts deutet die Richtung an, die der Lyriker dichtend und denkend wählt, und zwar so, als hätte er keine Wahl. Mozart, zweifelsfrei ein Sterblicher, wird musikalisch transzendiert:

Die Tonart wechselte von Fluss zu Meer.
Dies konnte hören, wer Ohren hatte
– und sei es ein Spiegelkarpfen:

Die Musik Gottes auf dem Wasser.

Wandelt nun die „Musik Gottes“ über das Wasser? Ja, es ist möglich, gestattet, vielleicht beglückend, so hoch von Mozarts Musik zu denken, auch wenn diese Verherrlichung weitreichend anmutet, so als könnte nur Maßlosigkeit das Außerordentliche annähernd beschreiben. Mozart selbst hätte sich darüber mutmaßlich eher amüsiert als mokiert.

Tom Schulz hingegen, lyrisch versiert, indessen kein Mozart der Dichtkunst, verfasst, ja komponiert faszinierende, inspirierende Gedichte, die Erinnerungen und Impressionen beherbergen und in allem zeigen, dass der Himmel auch all jenen offenstehen könnte, die nicht daran glauben oder nicht daran zu glauben wagen. Der höchste Musikant indessen muss nicht Wolfgang Amadeus Mozart heißen.

Titelbild

Tom Schulz: Die Erde hebt uns auf. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2024.
72 Seiten , 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305239

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