Die Fundortreinigerin

Milena Michiko Flašar findet in „Oben Erde, unten Himmel“ über Leichen zu mehr Leben

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Milena Michiko Flašar ist seit ihrem 2011 erschienenen Text Ich nannte ihn Krawatte bekannt für die Umsetzung von Themen aus der japanischen Gegenwartsgesellschaft. „Krawatte“ beschreibt den Austausch eines zurückgezogen lebenden jungen Mannes mit einem älteren Angestellten. Herr Kato spielt Familie (2018) zeigt, wie ein orientierungsloser Pensionär als „Mietmensch“ zum Einsatz kommt. Nun erweitert die österreichische Autorin in ihrem neuen Roman den Beobachtungsradius und entwirft mit verschiedenen Portraits isolierter Figuren ein noch umfassenderes Panorama der Einsamkeit im Land.

Eine Vertreterin der Generation Einsamkeit lernt Gruppenklima

Flašar führt ihre Protagonistin Suzu Takada gebührend ein: „Alleinstehend mit Hamster“. Suzu zählt zu den Japanern aus jüngeren Generationen, die Schwierigkeiten mit der zwischenmenschlichen Kommunikation und der Bindung an andere haben. Sie wahrt am liebsten Distanz. Dafür wird ihr bald die Rechnung präsentiert. Der Chef des Schnellrestaurants, in dem sie als Aushilfskellnerin arbeitet, kündigt ihr. Die Begründung: „Mangelnder Liebreiz“. Zur gleichen Zeit verabschiedet sich zudem ihr Freund, den sie über das Internet kennengelernt hat. Arbeitslos und „geghostet“ muss sie sich neu ausrichten und bewirbt sich auf die Stellenanzeige einer Reinigungsfirma. Es handelt sich, wie sie erkennen muss, um einen Betrieb für Leichenfundortreinigung, spezialisiert auf Fälle von unentdecktem Ableben, gemeinhin bezeichnet als Einsamkeitstode – auf Japanisch kodokushi. Suzu und ein zweiter Bewerber, dessen Nachname zufällig auch Takada lautet, bekommen den Job und werden von Firmengründer Sakai Schritt für Schritt ins Metier eingewiesen.

Zunächst vermittelt der alerte Anführer der Biohazard-Spezialisten den beiden neuen Mitarbeitern die korrekte Haltung für Fundortreiniger: „Sein Blick war streng und ihm entging keine Nachlässigkeit.“ Die Schutzanzüge müssen sitzen, die Masken ebenfalls, dazu ebenso die richtige Körperspannung: „Ein bisschen mehr Haltung, wenn ich bitten darf. Sie befinden sich auf keiner Cocktail-Party. Wollen Sie so einem Toten gegenübertreten?“ Sakai kündigt sich den Verblichenen sogar an. Bevor er die Tür zum ersten Fall mit einer länger nicht entdeckten Leiche öffnet, ruft er freundlich: „Herr Ono, wir sind da!“

Die Initiation in die Räume des einsamen Todes beinhaltet zu einem wesentlichen Teil die Erfahrung des Körperlichen, was heißt, die Reflexe des eigenen Körpers auf die Geruchskulisse beherrschen zu lernen und zudem die Verfallsstadien der menschlichen Hülle mit Professionalität zu erfassen. Hier geht die Autorin sehr ins Detail:

Wir würgten und spuckten. Da war das Frühstücksei. Zusammen mit dem Instant-Kaffe war es ein gallertartiger Brei, der nach Whisky stank, den wir gestern getrunken hatten.

Sakai schildert, wie er aus dem Geruch der Überreste schließen kann, durch welche Umstände der Betroffene ums Leben kam. Nach der intensiven Raumsäuberung erfolgt ein kleines Opferritual vor Ort. Dann suchen die Reiniger das traditionelle öffentliche Bad auf und nehmen hinterher zusammen eine Mahlzeit ein, meist im Imbiss des exzellenten Kochs Master Shen, dessen Pfefferwürzung jeden Nachgeschmack nach Leiche bannt.

Das gemeinsame Bewältigen dieser und anderer ähnlicher Krisensituationen lässt naturgemäß ein Gemeinschaftsgefühl entstehen, dem sich selbst die sozial wenig begabten Takadas nicht entziehen können. Allmählich gelingt es Sakai – oft gegen die Überzeugungen der jungen Frau –, die beiden Neuen sowohl in die Reinigungstruppe mit den Veteranen Suga und Yamamoto zu integrieren, als sie auch untereinander enger zu verbinden. So geschieht es, dass Suzu ihre Veranlagung überwindet: Sie nimmt den jungen Kollegen sogar einmal bei sich im Zimmer auf, um ihn zu pflegen, als er unter einer Fieberattacke leidet.

Beschrieben wird ein Jahr im Dienst der Fundortreinigung. Am Ende stellt es sich heraus, dass der zu Beginn der Erzählung alterslos-dynamisch wirkende Sakai bereits 75 ist und offenbar Lungenkrebs im Endstadium hat. Nach seinem Tod setzen die Fundortreiniger unter Yamamoto, dem der alte Chef die Firma überschrieb, ihre Tätigkeit fort. Ihr nächster Fall ist seine Wohnung: „Unser erster Auftraggeber nach Herrn Sakais Tod war kein anderer als Herr Sakai höchstpersönlich.“ Von Flüssigkeiten und Geruch keine Spur. Man findet eine leere Wohnung vor, nutzt die Gelegenheit zur Würdigung seines Werks und schreitet dann guter Dinge voran zum nächsten Auftrag, ganz in seinem Sinn.

Im J-Content-Modus

Flašars neue Geschichte aus Japan liest sich gut. Die Komposition ist stimmig, angereichert mit originellen Szenen und Motiven. Die Botschaften werden gefällig dargeboten. In dieser Hinsicht fühlt man sich an Übersetzungen aus der japanischen Unterhaltungsliteratur der letzten beiden Dekaden erinnert, die ebenfalls häufig Ratgeberinhalte vermittelt – gerade zur Problematik der sozialen Isolation und zu einer gelungenen Lebensführung für die jüngeren Generationen. In der Tat könnte man Oben Erde, unten Himmel als ein konsequentes Sampling von J-Content interpretieren. Der Text lässt kaum ein gängiges Narrativ der japanischen Gegenwartskultur aus: Hikikomori, Freeter und die japanische Arbeitskultur, Prekariat, Randgruppen, Alterung der Bevölkerung, Shôwa-Nostalgie, psychosoziale Verwerfungen, Sammelleidenschaft bis hin zum Messie-Syndrom sowie – wen mag es erstaunen – Geister. Kein Japanbuch ohne Jenseitsbezug. Bei Flašar fehlen einzig die Katzen, die jedoch geschickt durch Hamster Punsuke ersetzt wurden.

Im J-Content-Modus überbringt man in der japanischen Publikationslandschaft seit geraumer Zeit Botschaften, die Durchhalteparolen gleichen – gerichtet an ein Lesepublikum, das in der sozialen Realität mit viel Unerfreulichem zu tun hat. Katzenliteratur (neko bungaku) und ähnliche häufig als herzerwärmend adressierte Prosa verkauft sich im Rahmen der iyashi-Konsumindustrie, d.h. dient zu bibliotherapeutischen Trostzwecken. Die Autorin mischt die einschlägigen Inhalte mit international erfolgreichen Formaten und Figuren: Während selten noch ein Sender auf die populären Leichen- und Serienmörderdokumentationen verzichtet, war bei der Gestaltung des Fräulein Suzu, die – sich aus der eigenen Isolation lösend – mehr und mehr ein Gespür für Einsamkeit entwickelt, vermutlich die arbeitslose, zurückgezogen in Kopenhagen lebende Protagonistin Smilla aus Peter Høegs Roman (1992) Vorbild; die Konstellation Isaiah-Smilla (plus Säuberungsszene) wird eventuell in der Suzu-Takada-Variante nachgestellt. Inspirationen zur Philosophie des Lebensüberdrusses (artikuliert aus der Hamster-Perspektive), wie sie wohl dem auf höherem Niveau denkenden, nihilistisch gepolten Takada entspricht, könnten wiederum aus dem Bändchen Das Tagebuch von Edward dem Hamster 1990-1990 stammen.

Der sich seiner Besitzerin entziehende Punsuke verweist im Übrigen in seiner beinahe an Bernhard´sche Verweigerungen gemahnenden subversiven Negation auf europäische Traditionen in Flašars Schreiben. Derlei renitente Exkurse finden sich in den japanischen Originaltexten nicht. Sie versöhnen mit der die Textoberfläche dominierenden, pädagogisch armierten Erzählung von der Neustrukturierung soziophobischer Impulse unter der Maxime eines resilienten Neo-Vitalismus.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Milena Michiko Flašar: Oben Erde, unten Himmel.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023.
304 Seiten, 26 EUR.
ISBN-13: 9783803133533

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