Literarische Texte sind wertvoll – gerade in ihrer Zeitgebundenheit
Rolf Selbmann bewertet in seinem Buch „Von Auerbach zu Auerbach“ detailreich die Literatur des Realismus
Von Martin Lowsky
Der Buchtitel Von Auerbach zu Auerbach spielt auf Berthold Auerbach (1812–1882) an, den realistischen Erzähler, dessen Dorfgeschichten Bestseller waren, und den Romanisten Erich Auerbach, der in seinem Werk Mimesis (1946) den abendländischen Realismus kommentiert und analysiert hat. Selbmanns Buch verfolgt zwei Ansätze, um im Kontext der Realismus-Forschung – dieser „atemberaubenden Fülle“, wie Selbmann selbstironisch einräumt – die historische Einzigartigkeit dieser Phase zu betonen. Zum einen betrachtet Selbmann den deutschen Realismus als ein Gesamtphänomen der damaligen ‚Moderne‘, zum andern behandelt er verschiedene realistische Werke, um, so seine Worte, an Einzelfällen zu zeigen, „wie Realismus funktioniert“.
Zuerst zu letzterem Ansatz, zu Selbmanns Eingehen auf einzelne Werke. Er bespricht zwei Gedichte von Mörike: An Philomele, das den Gesang der Nachtigall ausgerechnet mit Fassbier und schäumendem Wein gleichsetzt („unselig Gleichniß“, heißt es im Gedicht selbst), und Septembermorgen, wo den realen Alltag der Schleier versteckt, den der Mensch (das „du“ im Gedicht) erst einmal wegziehen muss. In beiden Fällen zeige sich ein „Epochenumbruch“, bei dem der Mensch das Reale für sich erobern will. Andere Analysen besprechen Gottfried Keller, und zwar beide Fassungen von seinem Grünen Heinrich und die Erzählung Martin Salander, in der schließlich der Sohn Arnold Salander von den wirtschaftsgeschichtlichen Veränderungen nichts wissen will und rentnerhaft und zynisch dahinlebt – womit Keller selbst sich von seinen ‚realistischen‘ Schaffensprinzipien verabschiedet.
Selbmann widmet sich auch Fontanes berühmtem Essay Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848: Stoff oder Verklärung und Läuterung des Stoffes, was ist Fontane denn nun wichtiger?, fragt Selbmann kritisch nach und erklärt den Essay für gescheitert. In den Gesprächen über Kunst bei Georg Büchner stehen die Gefühle des Lesers im Mittelpunkt und damit die Frage, wie ‚wirklich‘ der Leser das Gelesene empfinde. Das Ende des Realismus erkennt Selbmann in Fontanes Gedicht Meine Gräber, wo es eine scheinbar zufällige Bilder-Aneinanderreihung gibt, die, ganz untypisch für Fontane, von tiefer Bedeutung nichts wissen will, und in Thomas Manns Erzählung Gladius Dei, wo die Kunst der Stadt München als eine „aufgewärmte Kunst“ erscheint. Ferner wird an den Dichtern Kerner, Vischer, Fontane gezeigt, wie das Motiv Eisenbahn nach und nach zu etwas Alltäglichem wird; bei Fontane ist die Brücke (am Tay) und keinesfalls die Eisenbahn ein Fehlprodukt des Menschen.
Natürlich liefert Selbmann noch viel mehr Einzelbeobachtungen und Deutungsvorschläge – er spricht sympathischerweise zurückhaltend von „Sinnpotentialen“ –, die alle Etappen der Ära des deutschen Realismus erfassen. Bei aller Präzision und Faktenfülle, bei all den gezogenen originellen Querverbindungen in der Geistesgeschichte, lesen sich diese Erörterungen sehr flüssig. Eine der Deutungen wollen wir noch eigens nennen: Das bittere Finale von Effi Briest, die Verstoßung der Ehefrau, werde nicht von den preußischen Lebensnormen bewirkt, sondern von zwei Herren, die psychisch einsam sind: dem Gehörnten Innstetten und dem offensichtlich homosexuellen Wüllersdorf.
Zu Selbmanns Urteilen über das Gesamtphänomen ‚deutscher Realismus‘: Er betont, dass der Realismus ein philosophisches Problem, nämlich die prinzipielle Frage birgt – Gibt es überhaupt eine objektiv existierende Realität, gibt es gar nur eine im Gehirn zusammengesetzte? Und er bemerkt dazu, dass der deutschsprachige Realismus, weil er im Vergleich mit dem übrigen Europa sehr spät einsetzt, ‚philosophischer‘ sei.
Während die sonstigen Autoren sich „einem möglichst genauen 1:1-Abbildungsverhältnis“, ja einem „platten Mimesis-Modell“ hingegeben hätten (Selbmann nennt keine Namen, er denkt etwa an Balzac und Dostojewski), seien für die deutschen alle Wirklichkeitsvorstellungen fragwürdig gewesen. „Realität in reiner Kontingenz“ sei für sie „nicht vollstellbar“. Daher habe es im deutschen Realismus den Begriff der Verklärung gegeben und damit auch eine „herbeigezwungene Bedeutungsschwere“. Seine Vertreter haben gefühlt, dass sie in einer neuen Welt lebten, der sie nicht gewachsen waren, und haben sich mühsam ihr spezielles Selbstverständnis konstruiert. Selbmann deklariert: Die Weltdeutung dieser ‚realistischen‘ Texte tauge nichts, aber: „Als Erkenntnisobjekte bieten diese Texte genauere Einblicke in ihre Zeit als die historischen Quellen. Denn sie liefern zeitlos anthropologisches Wissen über Grundsätzliches, das darüber hinausreicht.“ So endet also dieses Buch mit einer Hommage an die deutschsprachigen Realisten.
Man muss hier sagen, dass Selbmanns bündige Schlussfolgerung über den Realismus verkürzt geraten ist. Denn ausgerechnet ein Vertreter des französischen Realismus, Guy de Maupassant, hat den Satz formuliert (1888): „Die Realisten sollten eher Illusionisten heißen.“ Und auch lässt sich einwenden, dass die zitierten Sätze vom Schluss des Buches zu abstrakt daherkommen. Prägnante Beispiele hätten genannt werden müssen. Oder sagen wir lieber so: Jetzt liegt es am Leser, doch zurückzublättern und die vielen klugen Einzelbeobachtungen dieses Werkes erneut heranzuziehen und zu goutieren.
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