Poetik des Schriftstellerporträts

Peter Stamms Zürcher Poetikvorlesungen „Eine Fantasie der Zeit“ reflektieren die Entstehung seines Romans „In einer dunkelblauen Stunde“

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im August 2020 trifft bei Peter Stamm die Anfrage der beiden Filmschaffenden Georg Isenmann und Arne Kohlweyer ein, ob es möglich wäre, eine Dokumentation über ihn und einen neuen Roman zu drehen. Es solle kein „biographisches Porträt“ werden, sondern eines, das sein Schreiben in den Mittelpunkt stelle. Mit dem Abschluss der Arbeit an Das Archiv der Gefühle im Frühjahr des kommenden Jahres beginnt die Idee für den Roman In einer dunkelblauen Stunde zu reifen. Für den Sommer steht ihm zudem das vom Kanton Zürich vergebene Atelier in der Cité Internationale des Arts in Paris zur Verfügung. Das Thema des entstehenden Romans wie auch der Handlungsort ergeben sich somit durch äußere Umstände, man könnte auch sagen: durch Zufall.

In dem Roman In einer dunkelblauen Stunde erzählt Peter Stamm schließlich davon, wie ein Dokumentationsteam einen Schriftsteller in Paris begleitet, um einen Film über dessen Leben zu drehen. Parallel zum Schreiben seines Romans entsteht zugleich eine Doku darüber, wie der Schriftsteller Peter Stamm in Paris an seinem neuen Roman arbeitet. Ergänzt wird diese besondere Konstellation nun durch die Veröffentlichung von drei Zürcher Poetikvorlesungen, in denen Stamm auf die Umstände der Entstehung, seine Überlegungen zum Buch und Fragen des Porträts sowie der Autofiktion eingeht. Dabei greift er immer wieder reflexive Passagen aus seinem Roman auf.

Die beiden ersten Vorlesungen schreibt er direkt, nachdem er die fertige Romanfassung im Dezember 2021 an seinen Lektor abgeschickt hat und seine Gedanken zum Schreibprozess noch frisch sind. Mit der Poetikdozentur an der Universität Zürich soll „kein Theoriegebäude“ errichtet werden, sondern Stamm zeichnet beispielhaft anhand des neuen Erzähltextes zentrale Gedanken nach, die einen Einblick in seine Arbeitsweise geben, ohne dabei jedoch allgemeine Gültigkeit anstreben zu wollen. Die drei Vorlesungen präsentieren quasi eine spezifische Poetik auf Zeit: Gezeigt werden punktuelle Überlegungen und Einsichten, die sich mit vorangegangenen verbinden, für zukünftige Projekte aber ausgetauscht werden können. Die Veränderung ist Teil des Lebens, worauf schon der Titel der Vorlesungen, Eine Fantasie der Zeit, verweist. Das ist nicht nur der Arbeitstitel des Romans In einer dunkelblauen Stunde gewesen, sondern erinnert durch die Entlehnung eines Verses aus Andreas Gryphiusʼ Gedicht Vanitas! Vanitatum Vanitas! zugleich an die Flüchtigkeit menschlichen Seins: „Was ist des Menschen Leben […] / Als eine Phantasie der Zeit?“

Wie aber müsste ein Porträt dieser steten Wandlungen und Zufälligkeiten aussehen, aus denen sich das Dasein und das Ich formen? Damit ist nicht nur die diegetische Schriftstellerfigur Richard Wechsler gemeint, sondern natürlich auch Peter Stamm selbst, dem das Filmporträt Wechselspiel: Wenn Peter Stamm schreibt (2023) gilt. Mit der romanbegleitenden Dokumentation ergibt sich eine Reflexion darüber, wie ein Leben repräsentierbar wird: Wechsler wird ebenfalls filmisch begleitet, stirbt jedoch, bevor das Porträt abgeschlossen werden kann und lässt sinnfällig werden, dass der abzubildende Gegenstand mit konventionellen Mitteln nicht fassbar ist. Die Entscheidung seines eigenen Dokumentationsteams, den Umweg über die Fiktion zu nehmen und eine „Mockumentary“ zu drehen, wird von Stamm begrüßt, weil es auch seinen eigenen Überlegungen für den Roman entspricht: „Damit hatten die zwei Filmemacher eine These meines Buches wunderbar umgesetzt und belegt, nämlich, dass man die Wahrheit am besten mit der Fiktion einfängt.“

Man darf Wechsler daher (trotz gewisser Parallelen) nicht einfach als literarisches Ich Stamms sehen, wie er auch generell nicht autobiographisch schreiben möchte. Für beide Arten der Selbstdarstellung stellt sich Peter Stamm die gleiche Frage: „Was hätte ich davon?“ Dennoch führt diese Ablehnung nicht auf direktem Wege zur Autofiktion, da deren „Pseudoauthentizität“ ebenfalls (zugleich sich selbst) nicht verständlich werden lässt, wer man ist. Trotz des fiktionalen Anteils bleibt das autofiktionale Schreiben ebenfalls den äußeren Umständen des Zufälligen ausgesetzt, weil es sich an der Kontingenz gelebten Lebens orientiert. Ganz Ich hingegen ist das Ich nur in der schöpferischen Hervorbringung, im Schreiben und der dabei entstehenden Welt. Folgt man diesem Gedanken (den er auch von Julia Franck hört), zeigt sich Peter Stamm selbst am deutlichsten in dem Roman In einer dunkelblauen Stunde, weil nicht nur Wechsler, sondern auch alle anderen Figuren und der gesamte narrative Raum ihren Ursprung im Autor besitzen, von ihm in Gänze hervorgebracht und damit vom Ich des Autors durchdrungen sind: „Alles, was ich erfinde, kommt ganz aus mir heraus, vieles, was ich erlebe und nacherzähle, ist mir nur zugestoßen.“

Die Romanfiktionen wiederum sind als schöpferische Hervorbringungen in sich geschlossen. Sie bilden autonome Welten, „unabhängig von der Welt, in der ich lebe.“ Eine zu starke, autobiographische oder autofiktionale Bezugnahme auf die eigene Person würde dabei die Abgrenzung der beiden Welten aufheben, so dass die Fiktion nicht für sich, sondern stets auch in Bezug darauf gelesen würde, was reales Erleben gewesen sein könnte. Trotzdem ist diese Grenze nicht absolut und kann es auch nicht sein, denn es sind doch die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen, woraus sich die Bücher formen. Entscheidend ist dabei aber wohl, dass es um bewusst oder unbewusst verarbeitete Produkte des Lebens geht: „Denn Schreiben heißt ja, die Welt und sich selbst zu fressen und zu verdauen, die Welt und sich selbst zu beherrschen und zu manipulieren.“ So gehen die Themen und Figuren der Romane aus dem Autor hervor, und wenn die entstehenden Bücher auch keine „Behälter“ für Ansichten sein sollen, partizipieren sie doch an den auktorialen Vorstellungen. Die Romane ergeben sich damit aus Zufällen, Entscheidungen und Funden.

In seinen gleichermaßen gut lesbaren wie anregenden Vorlesungen zeichnet Stamm seinen Arbeitsprozess nach: Vorüberlegungen verdichten sich zu Bildern, Sätzen, Szenen, aus denen dann eine anfängliche Geschichte entsteht. Das Schreiben unterbricht Peter Stamm dabei nicht nur für Spaziergänge, um neue Eindrücke aufzunehmen und mögliche Erzählanschlüsse zu suchen, sondern er vergleicht die Romanabfassung, wie schon der Titel der ersten Vorlesung, „Eine Welt entsteht unter meinen Schritten“, verdeutlicht, ebenfalls mit einem Spaziergang. Als nicht-zielgerichtete Raumergreifung steht nicht die Verfertigung, sondern das Finden im Vordergrund, wovon es in der dritten Vorlesung „Vom Machen und vom Finden“ geht. Der Roman orientiert sich nicht an einem genauen Plan, sondern folgt angelegten Figuren und Konstellationen, entwickelt Möglichkeiten und sieht, wohin sie führen. Dieses Vorgehen rückt den Autor zwar einerseits in die Position des Schöpfers, der Entscheidungen trifft und womöglich auch mit einer gewissen „sublimierte[n] Aggression“ der hervorgebrachten Welt gegenüber agiert, andererseits aber nicht alles über die geschaffene Welt und ihre Figuren weiß. In der fortschreitenden Entwicklung des Romans ergeben sich daher Momente, die zu Beginn nicht angedacht waren. Der größten Änderung, dem Tod Wechslers nach dem ersten Drittel des Romans, widmet Stamm seine zweite Vorlesung.

Dieses plötzliche Ableben kommt sowohl für die diegetische Filmemacherin wie für ihren Autor überraschend. Für Stamm zeigt es sich allerdings als glücklicher Fund, der sich aus seinen Vorüberlegungen ergibt und auf den auktorialen Gedanken reagiert, dem Zufälligen und Flüchtigen des Lebens mehr Raum zu geben. Mit dem Verstummen seiner Hauptfigur entzieht sich zwar das zu verstehende Objekt, zugleich aber stockt das Erzählen, was die Unberechenbarkeit des Lebens sinnfällig werden lässt. Erzählen ist kein Selbstzweck, sondern soll die Wirklichkeit abbilden. Weil das Leben selbst aber nicht narrativ strukturiert ist, verstellen Erzählstrukturen vielmehr den Blick. Bereits in seinen Bamberger Poetikvorlesungen hat Peter Stamm darauf hingewiesen, dass das Paradies ein geschichtenloser Ort sei. Wenn man das Leben also einfangen will, muss das Erzählen eigentlich zurücktreten. Daher begeistert er sich (und mit ihm Andrea in seinem Roman) für einen schwedischen Kurzfilm mit dem Titel Ten Meter Tower, der jenseits narrativer Überformungen unkommentiert Menschen auf einem Sprungturm präsentiert. Idealerweise verstummt auch die Literatur, indem sie jenseits der Narration die Realität zeigt und damit zum Medium einer Selbst- und Welterkenntnis wird.

Wie die über Stamm gedrehte Dokumentation mittels der Fiktion zu einer wahren Darstellung des Autors und seines Schaffens vorzudringen versucht, zeigt sich parallel dazu der Autor in seinem Roman, der schließlich besser als jede Autobiographie die Persönlichkeit festhält. Leben und Kunst bedingen und durchdringen sich dabei gegenseitig. Das Ich ist in den literarischen Texten zugegen, sodass eine andere Art des Schreibens eine Veränderung der Persönlichkeit voraussetzte: „Die literarische Arbeit ist oft weniger eine Arbeit an der Sprache als eine Arbeit an sich selbst. Denn nur wer sich selbst verändert, kann seine Stimme nachhaltig verändern.“ Mit dem Thema des entstehenden Buches, dem Porträt eines Schriftstellers, geht es aber stärker noch als in anderen Romanen um die Frage der Selbstdarstellung. Wie sich ein Maler bei einem Porträt in seiner Kunstausübung und Weltsicht zugleich selbst porträtiert – Stamm wählt als Beispiel Alberto Giacomettis Porträt von James Lord – präsentiert sich auch der Schriftsteller in seinen Büchern als derjenige, der er ist – oder zumindest, der er war. „Ich bin in meinen Texten zu Hause“, schreibt Wechsler in seinen Notizen, die auch diejenigen Stamms sind.

Das aufeinander bezogene Triptychon aus Filmdokumentation, Roman und Poetikvorlesung beschäftigt sich auf jeweils unterschiedliche Weise mit dem Porträt des Autors. Die drei Zürcher Vorlesungen Peter Stamms bieten dabei als Seitenteil eine lesenswerte Reflexion und Auslegung seines Schreibens, die im Zusammenspiel mit den anderen beiden Werken ein Bildnis entwerfen, das die flüchtige Wirklichkeit der Lebens- und Projektphase um In einer dunkelblauen Stunde fasst.

Titelbild

Peter Stamm: Eine Fantasie der Zeit. Poetikvorlesung.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2024.
128 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103975277

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