Das literarische Lebenswerk eines gefeierten und gescholtenen Schriftstellers
Harro Zimmermann legt eine umfassende und fulminante Günter Grass-Biografie vor
Von Manfred Orlick
Der Literaturwissenschaftler Harro Zimmermann beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Leben und Werk von Günter Grass und hat dazu bereits viel veröffentlicht. Nun legt er acht Jahre nach dem Tod des Literaturnobelpreisträgers eine erste, erhellende Biografie des Blechtrommel-Autors vor, die von den Widersprüchen, Höhen und Tiefen sowie den persönlichen und poltischen Wechselfällen erzählt. Mit Günter Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses (2006) und Günter Grass und die Deutschen. Eine Entwirrung (2017) hatte sich Zimmermann bereits in zwei Studien mit Grass intensiv beschäftigt, aber diese neue Biografie fand er notwendig. Frühere „biografische Ansätze waren mehr oder weniger in Anfängen stecken geblieben, andere in kleinsten Detailbeschreibungen“. Außerdem wartet der riesige Nachlass, der in der Akademie der Künste „ruht“, noch auf eine gründliche Aufarbeitung.
Für Zimmermann spiegelt „kaum ein anderes Kunst- und Literatur-Lebenswerk nach 1945 die politischen, kulturellen und mentalitären Auf- und Abschwünge der Bundesrepublik in vergleichbarer Repräsentanz wider“. In zwölf umfangreichen Kapiteln und auf rund 850 Seiten zeichnet er den Lebensweg und die Karriere des Schriftstellers nach. Dabei wollte er „ein eingängiges Buch schreiben, den Menschen klarmachen, was da für eine Literatur, für ein Werk vorliegt“.
Im Anfangskapitel beleuchtet Zimmermann nicht nur die Kindheit in Danzig, wo Grass in bescheidenen und behüteten Verhältnissen aufwuchs, sondern auch die Ideologiewelt Nazi-Deutschlands, die den Jungen prägte, sodass er sich 1944 freiwillig zum Waffendienst meldete. Anschließend wurde der 17-Jährige zur Waffen-SS beordert, was Grass erst 2006 enthüllte. Dieser ideologischen Verführung und seiner Verstrickung hatte er zeitlebens den Kampf angesagt. In diesen Lebensabschnitt fiel auch sein frühes Interesse für Kunst und die Bildhauerei. So absolvierte er 1947 zunächst ein erweitertes Praktikum als Steinmetz und Steinbildhauer und studierte danach an der Kunstakademie Düsseldorf (1948-1952) und an der Hochschule für Bildende Künste Berlin (1953-1956).
1956 debütierte Grass als Lyriker und 1957 als Dramatiker. Diesen Wechsel von der „Bildarbeit“ zur „Wortarbeit“ verfolgt Zimmermann detailliert. 1954 hatte Grass die Schweizer Ballettstudentin Anna Schwarz (*1932) geheiratet, mit der er Anfang 1956 nach Paris ging. Hier lernte er den Holocaust-Überlebenden und Lyriker Paul Celan (1920-1970) kennen, der mit Interesse Grass‘ epische Arbeiten an der Blechtrommel verfolgte. Zimmermann widmet sich ausführlich dem Entstehungsprozess des Romans sowie der gegenseitigen Wertschätzung und der von Spannungen durchsetzten Freundschaft der beiden Künstler. Mit seiner Blechtrommel wollte Grass in der restaurativen Bundesrepublik die Vergangenheit und die Schuld lebendig halten. Für Zimmermann war das Erzählwerk „ein Weltentwurf von Heimatgeschichte“; es war aber auch der erste ordentliche Literaturskandal der Nachkriegszeit.
Nach der Rückkehr aus Paris 1960 zog Grass mit der Familie nach Berlin, wo er sich verstärkt in politische Diskussionen einmischte und sich öffentlich zur SPD bekannte. So ging er 1965 auf Wahlkampfreise für Willy Brandt, doch hatte er es dabei an Parteikritik gegenüber der SPD nicht fehlen lassen. Neben dem politischen Engagement widmet sich Zimmermann auch dem Verhältnis von Grass zur „Gruppe 47“ und den Studentenunruhen in der Frontstadt Berlin in den 1960er Jahren. Nach 1970 werden die globalen Umweltprobleme immer sichtbarer, die Grass in seinem Butt-Roman (1977) zum Ausdruck zu bringen versucht, in dem er auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau hinterfragt. In seinem späteren Roman Die Rätin (1986) thematisierte Grass ebenfalls die ökologische Apokalypse.
In den 1980er Jahren mischte sich Grass auch vehement in die bundesdeutsche Innenpolitik ein, z.B. gegen die Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß. Nach der politischen Wende von 1989/90 wurde er zum „Kritiker der unversöhnten Einheit“. Er kämpfte für eine deutschlandpolitische Perspektive einer Konföderation von BRD und DDR und erhob seine Stimme gegen die pauschale Verdammung der DDR-Literatur und ihrer Autor*innen (vor allem Christa Wolf). Für diese Haltung wurde er im Westen als „vaterlandsloser Geselle“ bezeichnet, im Osten als „Fürsprecher ihrer Interessen“. Die 1990er Jahre in Grass‘ Biografie, die mit dem Geschichtspanorama Mein Jahrhundert und der Verleihung des Literaturnobelpreises endeten, beleuchtet Zimmermann besonders akribisch. Im Mittelpunkt des abschließenden Kapitels Späte Konflikte steht die tiefgreifende Auseinandersetzung um Günter Grass nach dessen Enthüllung seiner jugendlichen Waffen-SS-Beteiligung, die er in seiner Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel (2006) erstmals offen eingestanden hatte. Sein spätes politisches Gedicht Was gesagt werden muss (2012) heizte die Debatten und Angriffe noch einmal an. Ein Antisemitismus-Vorwurf stand im Raum und erschwerte das ohnehin schwierige Verhältnis zu Presse und Kritik. Doch Grass blieb bis zu seinem Tod am 13. April 2015 in Lübeck seinem „selbstgesetzten Mahn- und Orientierungsauftrag treu“.
Zimmermann, der Grass 1988 auf einem Kulturforum in Telgte persönlich kennengelernt hatte, will mit seiner Biografie den ganzen Günter Grass zeigen: den literarischen Grass und den poltischen Grass mit seiner öffentlichen Rolle. Er hatte zudem Gelegenheit, mit zahlreichen Zeitgenossen und Wegbegleitern zu sprechen, um ein vollständigeres Bild zu bekommen. In seiner Darstellung verbindet sich das erzählerische mit dem analytischen Element. Die Biografie ist nicht nur eine Lebensbeschreibung über einen streitbaren Künstler, der sich, wo immer es ihm nötig erschien, in Gesellschaft und Politik einmischte, sondern auch ein Report über ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte. Ergänzt wird die Neuerscheinung durch einen mehrseitigen Prolog und einen umfangreichen Anhang mit zahlreichen Anmerkungen, einer Bibliographie und einem Personenregister.
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