In dubio pro reo

Die Richterinnen Juli Zeh und Elisa Hoven nutzen in „Der war’s“ den Diebstahl mehrerer extravaganter Pausenbrote, um juristisches Wissen kindergerecht zu vermitteln

Von Elena HochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elena Hoch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Maries Pausenbrot wurde geklaut – schon wieder! Bereits seit Tagen verschwinden während der großen Pause die aufwändigen Supersandwiches, die ihre Mutter ihr jeden Morgen zubereitet. Die Kinder der 6a sind fest entschlossen, den Dieb zu fassen, und haben auch schon jemanden im Visier: den neuen Mitschüler Konrad – ein dicklicher Junge, der gerne isst und verdächtig viele Krümmel auf seinem Pullover hat. Marie und einige andere aus der Klasse sind sich schnell einig, dass Konrad der Pausenbrot-Dieb sein muss. Binnen weniger Tage entspinnen sich diverse Theorien und Gerüchte rund um Konrad, der jedoch jede Schuld von sich weist. Die Lage verschärft sich, als er mit seiner Hand in Maries Rucksack erwischt wird und das Beweisfoto in den sozialen Netzwerken die Runde macht. Nachdem Konrad seine Taten aber einfach nicht zugeben will, veranstaltet die Klasse auf dem Schulhof eine Gerichtsverhandlung, um festzustellen, ob er schuldig ist oder nicht.

„Lasst uns nicht vorschnell urteilen!“, lautet das Motto der 6a. Zumindest zu dem Zeitpunkt, als sie beschließen, eine Gerichtsverhandlung zu veranstalten, um herauszufinden, ob ihr Mitschüler Konrad wirklich der Pausenbrotdieb ist. Zuvor tun die Kinder so ziemlich das Gegenteil: Sie beschuldigen Konrad vehement, ein Dieb zu sein (nur weil er beim Essen offenbar viel krümelt, neu in der Klasse ist und noch keine Freund:innen gefunden hat), er wird bedrängt, Gerüchte werden über ihn erfunden und verbreitet, er wird verfolgt (von einem Mitschüler, der Beweise gegen ihn sammeln will), er ist das Opfer von Cyber Mobbing und wird schließlich verprügelt. Erst als er mit aufgeschürftem Arm im Staub auf dem Boden liegt, schreiten Marie und der wortkarge Mika ein.

Letzter ist so etwas wie die Stimme der Vernunft der Klasse, auch wenn er sie nur selten erhebt. Als Einziger beteiligt er sich nicht an den Mobbing-Aktionen gegen Konrad und vorverurteilt ihn nicht: „Konrad ist nicht sein Freund, und Mika weiß auch nicht, ob er der Täter ist oder nicht. Aber er wirkt traurig, fast verzweifelt, und davon bekommt Mika ein komisches Gefühl im Bauch. Er kennt auch ein Wort dafür: Ungerechtigkeit.“ Mika spürt den starken Drang, Konrad zu verteidigen. „Nicht weil er denkt, dass Konrad bestimmt unschuldig ist. Sondern weil der ganz allein dasteht.“ Bei der Gerichtsverhandlung ist er es, der als Konrads Verteidiger auftritt. Die Behauptung des Verlages, „Kinder haben ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit und Verantwortung“ scheint jedenfalls nur auf Mika zuzutreffen. Alle anderen Kinder der Klasse stört es vergleichsweise wenig, dass Konrad – aus Gründen, die kaum als solche zu bezeichnen sind – verdächtigt wird, ein Dieb zu sein. Sie grenzen ihn aus und machen sich über ihn lustig.

Auch Protagonistin Marie präsentiert sich den Großteil des Romans eher unsympathisch. Sie ist schnippisch, zickig und macht besonders in Kombination mit ihrer Clique, den „Supergirls“, einen überwiegend arroganten Eindruck. Die Tatsache, dass ausgerechnet sie, das beliebteste Mädchen der Klasse, bestohlen wird, scheint sie mehr zu stören als ihr knurrender Magen. Im Verlauf des Romans bessert sich ihr Verhalten zwar, eine Sympathieträgerin wird sie aber erst auf den letzten Seiten. Hier stellt sich die Frage, ob es für die Handlung der Geschichte wirklich nötig gewesen ist, das ebenso überholte wie überzeichnete Klischee des eingebildeten, beliebten Mädchen zu bedienen, dem nur deshalb alle helfen zu scheinen wollen, weil sie hübsch und cool ist. Wäre es nicht schöner gewesen, die Kinder würden aus edleren Motiven handeln – zum Beispiel aufgrund eines ausgeprägten Gefühls für Gerechtigkeit und Verantwortung?

Die bunten Illustrationen von Lena Hesse, die das Buch schmücken, sind zwar nicht direkt „genial“, wie es auf Umschlagseite Vier angekündigt wird, aber definitiv gelungen. Sie sind ästhetisch ansprechend, liebevoll gezeichnet und vor allem im Zusatzkapitel Wie funktioniert ein Strafverfahren? ziemlich witzig. Dieses Kapitel folgt auf die eigentliche Geschichte und beantwortet 13 juristische Fragen auf kindergerechte Art und Weise. Leser:innen lernen unter anderem, wie es zu einer Strafverfolgung kommt, ob man vor Gericht lügen darf und ob man sich gegen ein gerichtliches Urteil wehren kann. Hier können auch Erwachsene noch einiges lernen.

Für die Richtigkeit der Inhalte bürgen die Autorinnen des Buches, die beide juristisch tätig sind. Juli Zeh ist promovierte Juristin und als ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg tätig. Ihre Kollegin und Co-Autorin Elisa Hoven ist Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig und Richterin am Sächsischen Verfassungsgerichtshof. In Der war’s versuchen sie, so heißt es auf der Verlagshomepage, spielerisch Kindern die Bedeutung der Unschuldsvermutung und Verfahrensfairness zu vermitteln, was ihnen gelingt.

Insgesamt ist Der war’s ist ein schönes, angenehm zu lesendes Kinderbuch mit klarer und wichtiger Message. Der Fall der gestohlenen Pausenbrote eignet sich wunderbar, um die kindlichen Figuren anzuregen, sich mit dem Thema (Un-)Schuld auseinanderzusetzen. Besonders schön ist, dass die Gedankengänge und Handlungen der Figuren stets in einem glaubwürdigen Rahmen bleiben und auch die Lösung des Falls keines Justus-Jonas-artigen Geistesblitz bedarf. Die juristischen Inhalte sind kindgerecht verpackt und auch für erwachsene Leser:innen interessant. Für Letztere hält der Roman auch das ein oder andere Augenzwinkern bereit, sei es zum Beispiel bei Maries ausgefallenen Supersandwiches, die influencer:innen-tauglicher kaum sein könnten (Bärlauch-Ingwer-Dinkel Brot, Avocado-Sellerie-Wrap…) oder ihr ironischer Kommentar gegenüber ihrem Mitschüler Torben, der sich als Kommissar aufspielt: „Ich liebe es ja, wenn Jungs mir die Welt erklären…“Die häufige Bezeichnung ‚Super‘ wirkt aus Sicht erwachsener Leser:innen zwar etwas gezwungen (Supersandwiches, Supergirls, Superbeweis), aber womöglich finden Kinder gerade das an dem Roman super.

Titelbild

Juli Zeh / Elisa Hoven: Der war’s. Mit Bildern von Lena Hesse.
Kinderroman.
Carlsen Verlag, Hamburg 2023 .
152 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783551653086

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