Zeitreisen durch die Gegenwart

Eine Radiosendung zum Werk von W.G. Sebald

Von Uwe PralleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Pralle

 

W.G. SEBALD: Das Projekt, mit dem ich mich jetzt zu beschäftigen beginne, ist eines das ich sicher fünf Jahre im Kopf haben muss, bevor irgendwas halbwegs Vernünftiges dabei herauskommt. Indem ich in es hinein gehe, merke ich, wie uferlos es ist und dass man dem auf eine Weise überhaupt nur gerecht werden kann, die langsam sich in entwickelt. Das Problem ist natürlich, dass man, wenn man bereits sich dem 60. Lebensjahr nähert, mit Projekten, die sich über drei, vier, fünf oder sechs Jahre entwickeln sollen, seine Schwierigkeiten hat. Da bricht dann leicht die Panik aus.

SPRECHERIN: Im Sommer des Jahres 2001. Wenige Monate, bevor W.G. Sebald am 14. Dezember bei einem Verkehrsunfall in der Nähe seines Wohnorts Norwich in der ostenglischen Grafschaft Norfolk ums Leben kam. Winfried Georg Sebald. Aus seinen Büchern hat er die beiden Vornamen stets zu den Initialen W.G. schrumpfen lassen und seine Briefe pflegte er mit Max Sebald zu unterzeichnen. Nur eine stille Auflehnung gegen seine Herkunft?

Geboren wurde er am Himmelfahrtstag des Jahres 1944 in dem kleinen Ort Wertach im Allgäu. Doch inzwischen lebte er schon über 35 Jahre in England, war Professor für Deutsche Literatur geworden, der an der University of East Anglia in Norwich lehrte. In den ersten beiden Jahrzehnten in England hatte er in deutschen Feuilletons hin und wieder einmal Aufsätze, etwa über Jean Améry, Herbert Achternbusch oder Peter Handke veröffentlicht. Man wusste von ihm selbst in Germanistenkreisen aber lange Zeit so gut wie nichts. Jedenfalls bis 1988. Doch dann begann mit dem schmalen Prosagedichtband Nach der Natur plötzlich der erstaunliche Weg eines schon unverkennbaren Erzählers, der in den folgenden Prosabänden mit einem von Anfang an ausgereiften und völlig unverwechselbaren Sprachstil aufwartet.

SPRECHER: „Weit hinter mir im Westen zeichneten sich kaum wahrnehmbar die leichten Anhöhen des bewohnten Landes ab. Nach Norden und Süden glänzte das von einem mageren Rinnsal durchzogene Schlammbett das toten Flussarms und voraus war nichts Zerstörung. Die ringsum mit Unmengen von Steinen zugeschütteten Betongehäuse, in denen während der meisten Zeit meines Lebens Hundertschaften von Technikern an der Entwicklung neuer Waffensysteme gearbeitet hatten, nahmen sich aus der Entfernung wahrscheinlich aufgrund ihrer seltsamen Kegelformen wie Hünengräber aus, in denen in vorgeschichtlicher Zeit große Machthaber beigesetzt worden waren, mit all ihren Gerätschaften und all ihrem Silber und Gold. Der Eindruck, dass ich mich auf einem Areal befand, dessen Zweck über das Profane hinausging, wurde verstärkt durch mehrere Tempel oder pagodenartige Bauten, die ich auf keine Weise in Verbindung bringen konnte mit militärischen Einrichtungen. Je näher ich aber den Ruinen kam, desto mehr verflüchtigte sich die Vorstellung von einer geheimnisvollen Insel der Toten und wähnte ich mich unter den Überresten unserer eigenen, in einer zukünftigen Katastrophe zugrunde gegangenen Zivilisation. Wie einem nachgeborenen Fremden, der ohne jedes Wissen von der Natur unserer Gesellschaft herumgeht, zwischen den Bergen von Metall und Maschinenschrott, die wir hinterlassen haben, war es auch mir ein Rätsel, was für Wesen hier einstmals gelebt und gearbeitet hatten und wozu die primitiven Anlagen im Inneren der Bunker, die Eisenschienen unter den Decken, die Haken, an den zum Teil noch gekachelten Wänden, die tellergroßen Brausen, die Rampen und Sickergruben gedient haben mochten. Wo und in welcher Zeit ich an jenem Tag auf Orfordness in Wahrheit gewesen bin, das kann ich auch jetzt, indem ich dies schreibe, nicht sagen.“

SPRECHERIN: Die Wanderung durch eine Industrieruinenlandschaft unserer Zeit an der Küste der Grafschaft Suffolk. Eine Passage aus dem Roman Die Ringe des Saturn von 1992. Sebald war bereits 44 als seine ersten literarischen Werke erschienen. Und geblieben sind ihm dann gerade einmal 13 Jahre für Erzählungsbände wie Schwindel. Gefühle. oder Die Ausgewanderten oder Romane wie eben Die Ringe des Saturn und Austerlitz. Sehr schnell haben sie ihn jedoch nicht nur hierzulande, sondern auch in England und den USA bekannt gemacht, und als Austerlitz herauskam, wurde in der New York Times sogar spekuliert, ob sich darin nicht ein künftiger Nobelpreiskandidat zeige. Doch in jenem Sommer 2001 sah Sebald, der sich erst so spät der Literatur zugewandt hatte, mit einer merkwürdig ahnungsvollen Panik, wie die Zeit davonlief für das, was er noch plante.

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Sebalds sich in den 90er Jahren schnell verbreitender literarischer Ruf wirkt zumindest auf den ersten Blick fast ein wenig paradox, denn von Anfang an hatte er sich vor allem als Schriftsteller des Erinnerns verstanden.

SEBALD: Irgendjemand muss ja da sein, der sich noch erinnert, dass unter diesem Parkplatz mal etwas anderes gewesen ist. Und in der Form der Arbeitsteilung, die es auch im sogenannten kulturellen Leben gibt, ist das vielleicht die wichtigste Aufgabe von Schriftstellern überhaupt, dass sie diese Rolle übernehmen.

Ich erinnere mich sehr genau, wie zurückgeblieben in den 50er Jahren zum Beispiel die Gegend des Bayerischen Waldes noch gewesen ist. Man hatte also tatsächlich den Eindruck, wenn man hinter Regensburg in den Bayerischen Wald hineinfuhr, man fahre ins Mittelalter, und heute ist das mehr oder weniger genauso wie in München. Das ist etwas sehr spezifisch Deutsches, dass also mit steuerlichen Mitteln, mit allen möglichen anderen Mitteln, mit Investitionen usw. alles auf das gleiche Niveau gebracht wird, so dass es letzten Endes an Differenz mangelt und die Differenz ist wahrscheinlich das wichtigste Erkenntnismittel, das wir überhaupt haben.

SPRECHERIN: Nach den Umbrüchen von 1989 herrschte in den 90er Jahren auch in der Literatur eine manchmal recht merkwürdig anmutende Aktualitätsversessenheit. Doch in keinem von Sebalds Büchern gibt es auch nur die geringsten direkten Wiederklänge von Zeitgeschehen. Auf den ersten Blick scheinen sie geradezu gegenwartslos, so, als sei das Gewicht des Heute für ihn einfach nie groß genug gewesen, um sich gegen die Gravitationskraft der Erinnerungen zu behaupten. Es hat nicht lange gedauert, bis eine eingängige Formel für seinen literarischen Blick gefunden war. Bald galt er als der rückwärtsgewandte Melancholiker unter den deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Aber stimmt das wirklich? Ist Sebalds literarische Welt tatsächlich so gegenwartsfern, diese Welt aus scheinbar tiefverschütteten Schichten und Ge-Schichten, auf die der Erzähler Sebald allerorten stieß?

Bei manchen seiner Bewunderer ist ein Unbehagen nicht zu überhören, ihn kurzerhand als vergangenheitsverlorenen Melancholiker aus der Gegenwart abzuschieben. Thomas Steinfeld, Literaturchef der Süddeutschen Zeitung, hat bei einer Gedenkveranstaltung im Münchener Literaturhaus Sebalds spezielles Verhältnis zum Vergangenen betont.

THOMAS STEINFELD: Ein Wanderer, oder ein schöneres Wort für das Verhältnis, das Sebald zu seiner Umgebung eingenommen hat, zu seinen Projekten, ist ‚ein Nachgänger‘. Ein Nachgänger in einem besonderen Sinne: einer, der Untergängen nachgeht. Ein solcher Nachgänger von Untergängen ist das Gegenteil eines Wünschelrutengängers. Denn ein Wünschelrutengänger, der will Quellen finden, um daraus Brunnen zu machen. Sebald war aber ein Wünschelrutengänger auf der Suche nach dem Kind, das schon in den Brunnen gefallen war.

SPRECHERIN: Steinfeld sieht aber noch eine ganz andere Nuance.

STEINFELD: Das wunderbare Unternehmen des Schriftstellers W.G. Sebald war die Verlangsamung, die Entschleunigung. Das wäre ein noch besserer Begriff für diesen einzigarten Versuch des Innehaltens in hochreflektierter Weltfrömmigkeit. Damit verbunden ein literarisches Bekenntnis zum 19. Jahrhundert, und zu dessen scheinbar ruhendem Kern, dem Biedermeier, zu dessen Form stillen Widerstands. Sebalds Bücher sind ein leiser, oft wiederholter, umso nachhaltiger Angriff auf jede Art von öffentlicher Geschichtsschreibung, ganz zu schweigen von jeder Form öffentlich-rechtlicher Geschichtsschreibung. Man darf Sebalds modernes Biedermeier nicht für Erzählungen von der weltabgewandten Seite der Gegenwart halten. Und man darf ihn selbst nicht mit einem Elegiker verwechseln.

SPRECHERIN: Ein Elegiker war er schon deshalb nicht, weil es in seinem Bild vom Vergangenen, und nicht nur des 20. Jahrhunderts, kaum einen Quadratzentimeter gibt, der nicht Spuren von Zerstörungen aufweist, und sei es noch so subtil.

SPRECHER: „Zu Beginn des neuen Säkulums sah Beyle in der Scala noch einmal Il matrimonio segreto, aber obgleich der theatralische Rahmen vollkommen und die Darstellerin der Caroline von großer Schönheit war, gelang es ihm nicht wie damals in Ivrea, sich in der Gesellschaft der Handelnden zu wähnen. Vielmehr war er jetzt von allem so weit entfernt, dass ihm die Musik, wie er sicher zu spüren glaubte, beinahe das Herz gebrochen hätte. Der Applaus, der das Opernhaus am Ende der Aufführung durchtoste, kam ihm vor wie der Schlussakt einer Zerstörung, wie das von einem riesigen Brand verursachte Prasseln und lange Zeit blieb er noch sitzen, wie betäubt von der Hoffnung, dass das Feuer ihn aufzehren möge.“

SPRECHERIN: Es ist Henri Beyle, der später unter dem Namen Stendhal berühmt gewordene Schriftsteller, der hier im Jahre 1800 in der Mailänder Scala den tosenden Applaus als riesigen Brand erfuhr. Als Offizier war Beyle in diesem Jahr mit den napoleonischen Truppen über die Alpen in den oberitalienischen Feldzug gezogen und er hatte in dieser Zeit die Nähe von Schönheit und Schrecken sowohl in der Liebe als auch im Krieg zu erfahren begonnen. Diese Anfangserzählung aus Schwindel. Gefühle. von 1990 ist einer der wenigen im eigentlichen Sinne historischen und in der dritten Person erzählten Texte von Sebald.

Tatsächlich wird aber in den meisten seiner Erzählungen und Romane immer wieder die Gegenwart und ihre weltzugewandte Seite durchmessen. Nur ist es eine Gegenwart, in der es niemals gelingt, die Vergangenheit loszuwerden, die vielmehr wie der eigene Schatten an ihr haftet, der mit jedem Jahr und Jahrzehnt noch länger wird und sie manchmal sogar zu schlucken scheint.

SEBALD: Inzwischen bin ich an dem Punkt, wo ich das Gefühl habe, dass diese Vergangenheit einen derartigen großen Überhang darstellt, dass ich nie mit ihr fertig werden werde und auch begreife, dass also das Wenige, was ich inzwischen dazu weiß, äußerst fragmentarischer Natur ist, so dass ich also nun mich bemühen muss, mein Verständnis anhand von Fragmenten zu entwickeln.

SPRECHERIN: Die Gegenwart, für Sebald ist sie wohl eher ein tektonisches Phänomen gewesen, wie die Erdkruste aus sich vielfältig überlagernden Schichten bestehend, die sich ständig unmerklich weiter verschieben – aber eben ein aus Vergangenheiten geschichteter Raum. Stets beginnt sein Erzählen, meistens mit exakter Angabe von Zeit und Ort, als Reise in der Gegenwart, mal als Wanderung, mal als Bahnreise, seltener einmal auch mit dem Flugzeug. Über kurz oder lang führen diese Reisen aber immer wieder auf die Abwege vergangener Zeiten. Obwohl sie wie angesichts von Halluzinationen die Gegenwartswelt aber eigentlich nie verlassen.

SPRECHER: „Wie oft habe ich meine Erinnerungen, und meine Übertragung der Erinnerung in die Schrift, als ein erniedrigendes, im Grunde verdammenswertes Geschäft empfunden. Und doch, was wären wir ohne Erinnerung? Wir wären nicht imstande, die einfachsten Gedanken zu ordnen. Das gefühlvollste Herz verlöre die Fähigkeit, einem anderen sich zuzuneigen. Unser Dasein bestünde nur aus einer endlosen Abfolge sinnloser Augenblicke und es gäbe nicht die Spur einer Vergangenheit mehr.“

SPRECHERIN: So hat es Sebald im 9. Kapitel der Ringe des Saturns einmal den Viscount de Châteaubriand sagen lassen, einen anderen seiner Gewährsleute aus dem frühen 19. Jahrhundert, dem Autoren der Mémoires d‘outre-tombe, die sein literarisches – wie Sebald schrieb – Grab schon zu Lebzeiten gewesen seien. Aber auch für ihn selbst wäre die Gegenwart nur das Grab von sinnlos vergehenden Augenblicken gewesen, würde die Erinnerung nicht immer wieder versuchen, Licht in ihr Dunkel zu werfen und im Leben die Orientierung in der Gegenwart zu ermöglichen.

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Sebalds hartnäckiger Blick auf die Präsenz des Vergangenen hat allerdings auch eine zutiefst pessimistische Kehrseite: Dass das geschehene Grauen oft eine schier dämonische und nur schwer zu berechnende Macht über die Gegenwart behält. Wie radikal dieser Pessimismus war, konnte sich sehr deutlich zeigen, wenn er bei einem seiner immer nur kurzen Besuche in Deutschland einmal genügend Zeit hatte, um sich im Gespräch tiefer in die Motivkreise seines Erzählens hineinzubegeben. Nicht lange vor seinem Tod, im Sommer des Jahres 2001, hatte er sich in Bremen auf ein solches Gespräch über sein bis dahin vorliegendes Werk eingelassen. Im Frühjahr jenes Jahres war mit Austerlitz gerade sein bisher umfangreichster Roman erschienen.

Jacques Austerlitz, der Held dieses Romans, ist als Kind nach dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei von seinen jüdischen Eltern getrennt und nach England gerettet worden, wo er lange Zeit ohne Erinnerungen an seine Herkunft aufgewachsen und später Bauhistoriker geworden ist. In der kreuz und quer durch Europa führenden Romanhandlungen trifft Austerlitz immer wieder auf den Erzähler, dem er mit stupender Kenntnis die Bauwerke ob nun von Antwerpen, Brüssel, Paris oder Prag erläutern kann.

SPRECHER: „Es ist mir bis heute gegenwärtig, mit welcher Leichtigkeit seine von ihm so genannten Denkversuche mir eingingen, wenn er über den ihn seit seiner Studienzeit beschäftigenden Baustil der kapitalistischen Ära sich ausbreitete, insbesondere über den Ordnungszwang und den Zug ins Monumentale, der sich manifestierte in Gerichtshöfen und Strafanstalten, in Bahnhofs- und Börsengebäuden, in Opern und Irrenhäusern und den nach rechtwinkligen Rastern angelegten Siedlungen der Arbeiterschaft. Seine Recherchen, so sagte mir Austerlitz einmal, hätten ihren ursprünglichen Zweck, der der eines Dissertationsvorhabens gewesen sei, längst hinter sich gelassen und seien ihm unter der Hand ausgeufert in endlose Vorarbeiten zu einer ganz auf seine eigenen Anschauungen sich stützenden Studie über die Familienähnlichkeiten, die zwischen all diesen Gebäuden bestünden. Weshalb er auf ein derart weites Feld sich begeben habe, sagte Austerlitz, wisse er nicht. Wahrscheinlich sei er bei der Aufnahme seiner ersten Forschungsarbeiten schlecht beraten gewesen. Richtig sei jedoch auch, dass er bis heute einem ihm selber nicht recht verständlichen Antrieb gehorche, der irgendwie mit einer früh schon in ihm sich bemerkbar machenden Faszination mit der Idee eines Netzwerks, beispielsweise mit dem gesamten System der Eisenbahnen, verbunden sei. Schon zu Beginn seines Studiums, sagte Austerlitz, und später während seiner ersten Pariser Zeit, habe er beinahe täglich, vor allem in den Morgen- und Abendstunden, einen der großen Bahnhöfe aufgesucht, meistens die Gare du Nord oder die Gare de l‘Ouest, um das Einfahren der Dampflokomotiven in die rußschwarzen Glashallen sich anzuschauen oder das leise Davongleiten der hell erleuchteten, geheimnisvollen Pullman-Züge, die in die Nacht hinaus fuhren wie Schiffe auf die unendliche Weite des Meeres. Nicht selten sei er auf den Pariser Bahnhöfen, die er, wie er sagte, als Glücks- und Unglücksorte zugleich empfand, in die gefährlichsten, ihm ganz und gar unbegreiflichen Gefühlsströmungen geraten.“

SPRECHERIN: Mit diesen Faszinationen und rätselhaften Gefühlen steht Austerlitz im Bann seiner vergessenen Kindheit und der Geschichte seiner Eltern. Einige dieser Städte sind Stationen ihres Lebens gewesen, bevor ihre Spuren sich im Krieg und auf den Vernichtungstransporten im System der Eisenbahnen verloren haben. Nur die Bahnhöfe und andere Gebäude, zu denen es Austerlitz immer wieder zieht, haben ihre Spuren festgehalten. So kam es, dass Sebald mehrmals auf das eigentümliche Gedächtnis zurückkam, dass er wie in allen Dingen auch in Bauwerken liegen sah, was er einmal am Brüsseler Justizpalast erläuterte, der in Austerlitz am Rand eine Rolle spielt.

SEBALD: Ich denke, dass in Bauwerken zum Beispiel nicht nur individuelle Lebensform, also sozusagen die Vision des Architekten beispielsweise oder die eines einzelnen Maurers, sondern, dass das eben immer Nationen in einer kollektiven Anstrengung sind und dass diese Dinge insofern eine Bedeutung haben, die über unsere individuellen Aspirationen hinausgeht und die unsere individuellen Hoffnungen aus der Vergangenheit heraus determiniert und einschränkt von vornherein. Das heißt, dass wir bei ihrem Anblick, wenn wir einen Blick in die richtige Richtung senden, eigentlich zu der Erkenntnis kommen müssten, dass unsere individuellen Bemühungen, im Versuch gegen diese determinierende Geschichte anzukommen, relativ aussichtslos sind. Das heißt beispielsweise, der Brüsseler Justizpalast ist derartig befrachtet nicht nur mit der Geschichte seiner eigenen Entstehung, sondern auch mit dem, was sich später in ihm abgespielt hat, dass er tatsächlich als ein Exemplum dastehen könnte für die ganze Geschichte des europäischen 19. und 20. Jahrhunderts.

Mir hat vor einiger Zeit ein Herr, der auch zu den – wenn man das so sagen kann – Kulturschaffenden, hat man früher glaube ich mal gesagt, gehört, jedenfalls ist er ein Intellektueller, und er hat mir erzählt, dass bei der Lektüre des Buchs besonders die belgischen Passagen ihn angesprochen hätten, weil er selbst im Alter von 21 Jahren in Belgien als Exilant aus Wien, ein, zwei Jahre in Brüssel verbracht hat. Er kannte niemanden in Brüssel. Er war ein junger Emigrant, die einzigen Verwandten, die dort waren, waren ein Onkel von ihm, der in der Regierung Béla Kun Justizminister gewesen war und dessen Frau eine Schwester seines Vaters gewesen ist. Und dieser Justizminister, ehemalige Justizminister, war ein hoffnungsloser Intellektueller, das heißt, dass er nicht fähig war, ein praktisches Leben zu führen, so dass es ihm also auch nicht gelungen ist, rechtzeitig aus Belgien nach Frankreich zu gehen, als die Deutschen in Belgien einmarschierten im zweiten Krieg und er dann versucht hat, aus Brüssel hinauszukommen mit seiner Frau und dort die Frau, glaube ich, niedergeschossen wurde von Deutschen und am Straßenrand ihr Leben gelassen hat.

Er ging zurück nach Brüssel und wusste nicht aus und nicht ein und kletterte auf den Justizpalast. Ich weiß nicht, auf welche Weise, von innen nach außen wahrscheinlich, und stürzte sich von dort zu Tode. Das ist eine Geschichte, die ich beim Schreiben dieser Passagen natürlich nicht wusste, die mir hinterher von einem Leser erzählt worden ist. Aber man kann also sehen, wie diese durch kollektive Anstrengung entstandenen Objekte das persönliche Leben der Personen, die mit ihnen in Berührung kommen, determinieren.

SPRECHERIN: Die Vorstellung ist zweifellos dämonisch: dass es für das individuelle Leben relativ aussichtslos sei, der eigentümlich magnetischen Wirkung der Orte und Gebäude zu entkommen. Doch genau diese Witterung für die böse Gegenwärtigkeit solcher Magnetfelder des Vergangenen ist ein wesentliches Element seiner erzählerischen Kunst. Man kann sich fragen, was es wohl gewesen sein mag, was ein Bauwerk wie den in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts erbauten riesigen Justizpalast, für Sebald eigentlich so unheilvoll hat wirken lassen, von dem er Austerlitz einmal sagen lässt…

SPRECHER: „…dass es in diesem mehr als 700.000 Kubikmeter umfassenden Gebäude, Korridore und Treppen gebe, die nirgendwohin führten, und türlose Räume und Hallen, die von niemandem je zu betreten seien und deren ummauerte Lehre das innerste Geheimnis sei aller sanktionierten Gewalt.“

SPRECHERIN: Ein Indiz gibt schon der in Austerlitz einmal wie beiläufig auftauchende Hinweis, dass dieser Justizpalast auf dem einstigen Brüsseler Galgenberg errichtet wurde. Aber wenn man in die Ringe des Saturns zurückblättert, wird noch deutlicher, warum Sebald auf seinen erzählerischen Zeitreisen gerade in solchen Bauwerken immer wieder auch die finsteren Kehrseiten der europäischen Zivilisation witterte. Im 5. Kapitel der Ringe des Saturn ist erzählt, wie sich 1890 in Belgisch-Kongo die Wege von Roger Casement, einem britischen Diplomaten, der 1916 aber schließlich als Hochverräter in London hingerichtet wurde und des Schriftstellers Joseph Conrad gekreuzt haben, der damals noch als Kapitän im Dienst einer belgischen Handelskompanie stand.

Seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts hatten unter Schirmherrschaft des belgischen Königs Leopold diverse Handelskompanien den Kongo rücksichtslos auszubeuten begonnen, so dass es, wie Sebald einmal schreibt, „kaum ein finsteres Kapitel in der größtenteils noch ungeschriebenen Geschichte des Kolonialismus“ gäbe. Roger Casement hatte nach seiner Rückkehr aus dem Kongo begonnen, mit Denkschriften gegen die Hunderttausende von Opfern fordernden Praktiken anzugehen, und sich damit auf einen Kollisionskurs auch zur eigenen Regierung begeben, der später mit seiner Hinrichtung endete. Aus Joseph Conrads Erfahrungen ging mit Heart of Darkness später einer der großen Romane der Weltliteratur hervor. Als er im Januar 1891 schließlich aus dem Kongo über Ostende nach Brüssel zurückkehrt, empfindet er, wie Sebald schreibt…

SPRECHER: „…die Hauptstadt des Königreichs Belgien mit ihren immer bombastischer werdenden Gebäuden jetzt wie ein über einer Hekatombe von schwarzen Leibern sich erhebendes Grabmal. Und die Passanten auf den Straßen kommen ihm vor, als trügen sie allesamt das dunkle kongolesische Geheimnis in sich.“

SPRECHERIN: Eines der damals entstandenen bombastischen Gebäude ist auch der Justizpalast in Brüssel. Als heimliches Grabmal für die Opfer der einst von den Kolonialmächten praktizierten Gewalt, hat Sebald solche Bauwerke auch später immer wieder Tod und Verderben anziehen sehen. Die Vergangenheit gibt die Gegenwart nicht frei, sondern lässt den Fluch der Gewalt sich in ihr höchstens erneuern. Das sind die Abgründe, in die Sebalds Erzähler immer wieder blicken. Und was ihm der Leser von Austerlitz erzählt hat, der als junger Exilant dort seine Verwandten verlor, war für Sebald ein Indiz, wie angemessen seine Blickweise doch dem Pandämonium der europäischen Welt gewesen ist.

SEBALD: Ja also die Kolonialgeschichte ist in Deutschland natürlich nie ein besonderes Thema gewesen, aus dem einfachen Grunde, dass die Deutschen eben sehr wenige Kolonien und sehr, sehr eigenartige Kolonien hatten wie Deutsch-Südwestafrika und die Hälfte von Tahiti oder was weiß ich. Es ist ja bekanntlich der Wurzelgrund des deutschen Minderwertigkeitskomplexes, dass man also keine überseeischen Territorien hatte, aus denen man Kaffee und andere Kolonialwaren herbeischaffen konnte und übrigens auch keine Kolonien, in die man Strafgefangene hätte verschicken können. Andererseits ist es sicher richtig, dass in der Kolonialzeit kollektive Verhaltensmuster geprägt und eingeprägt worden sind, die die Bevölkerung sozusagen präpariert haben auf das, was dann im 20. Jahrhundert geschah. Also die rassistische Perspektive auf andere, wie es hieß, minderwertige Völker, mit denen man auf eine bestimmte Art und Weise umgehen muss.

Und es ist ja auch bekannt, glaube ich, dass der größte Feldherr aller Zeiten, der Führer des dritten Deutschen Reiches, fasziniert gewesen ist von der Art, in der die englischen Übermenschen einen ganzen Subkontinent mit ein paar 10.000 dorthin geschickten Militärs verwalten konnte. Also die Überlegenheit der weißen Rasse wurde für ihn, Hitler, evident an diesem englischen Beispiel der Kolonialisierung, das er dann auf seine Art und Weise nachvollziehen wollte in einem noch radikaleren und größeren Ausmaß.

Und die Kolonialgeschichte ist lange Zeit unbeachtet geblieben, auch die französische. Auch die Engländer haben sich mit ihrer Kolonialgeschichte nie sehr genau auseinandergesetzt. Bei den Holländern hat das, glaube ich, bis in die 80er Jahre gedauert. Da gab es dann plötzlich eine ganze Menge auch literarischer Arbeiten und Memoirenliteratur über das holländische Hinterindien, da es viele Leute gab in Amsterdam und Utrecht, die dort aufgewachsen sind, also Leute noch meiner Generation, deren Väter dort in der Administration oder in irgendwelchen Industrieunternehmungen oder Pflanzereien tätig gewesen sind. Und das gehört natürlich alles auch dazu, zur anderen Seite der Nationalgeschichte. Der Kolonialismus hat sich eben entwickelt über zwei, drei Jahrhunderte hinweg und ist tatsächlich, wie man in England sehr deutlich sehen kann, eine Quelle eines fast unerschöpflichen Reichtums gewesen. Das heißt, die ganze Börsenwirtschaft hat sich eigentlich aus der Kolonisierung heraus entwickelt, die Rohstoffbörsen und all diese anderen Dinge. Institutionen, in denen Geld in großem Ausmaß gemacht worden ist.

SPRECHERIN: Wie den protzigen Justizpalast in Brüssel, so hat Sebald auch Europa mit seinem auf dunklen Geheimnissen gegründeten Reichtum wie ein verwunschenes Terrain betrachtet, auf dem ein Fluch lastet. Der Fluch der jahrhundertelangen Machtpolitik in Europa. Ihre unheimlichen Hinterlassenschaften sah Sebald überall im europäischen Raum bis in die Gegenwart so etwas bilden wie sich jederzeit wieder blindlings freisetzende Zerstörungspotentiale.

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Der radikale Pessimismus gehörte zum ebenso poetischen wie politischen Projekt von Sebalds Erzählen. Es ist der Versuch, die bis in die europäische Gegenwart zu spürenden Irrwege der Spezies Mensch mit der geringen Hoffnung aufzuzeichnen, auf diese Weise wenigstens die sich blindlings fortsetzende Logik der Verhängnisse offenzulegen. Im Sommer des Jahres 2001, als er darüber sprach, hatte Sebald außerdem gerade die apokalyptisch anmutenden Bilder in England vor Augen gehabt, die nach der damals jüngsten Welle des sogenannten Rinderwahnsinns auch überall im Fernsehen zu sehen waren.

SEBALD: Letzten Endes handelt es sich um so etwas wie eine Beschreibung der Aberrationen einer Spezies, das heißt, man kann – und das ist unter anderem einer der Ideen gewesen hinter der Strukturierung in den Ringen des Saturn – man kann in konzentrischen Kreisen immer weiter nach außen gehen, und die äußeren Kreise determinieren immer die inneren. Das heißt, man kann sich Gedanken machen über den Zustand der eigenen Emotionen, über den eigenen psychologischen Haushalt, wie dieser determiniert wurde, von der eigenen Familiengeschichte, diese Familiengeschichte von der Geschichte der kleinbürgerlichen Klasse in den 20er, 30er Jahren in Deutschland, und wie das wieder umrissen wird von den ökonomischen Bedingungen dieser Jahre, wie die ökonomischen Bedingungen sich herausentwickelt haben aus der Geschichte der Industrialisierung in Deutschland und in Europa, und so weiter und so fort bis an diesen Kreis wo die Naturgeschichte und die Geschichte der menschlichen Spezies ineinander changieren. Und mit diesen Dingen leben wir. Es ist also nicht illusorisch, sich über die weiter außenliegenden Kreise Gedanken zu machen.

Wenn man zum Beispiel in den letzten Monaten erlebt hat, dass in England Hekatomben, ich glaube es handelt sich jetzt um drei Millionen Tiere, hingerichtet wurden unter den grauenhaftesten Bedingungen, wie man hinzufügen kann – weil es hieß, dass das der Markt nicht mit Rindern fertig werden kann, die irgendwann mal von einer relativ harmlosen Krankheit infiziert waren – dann kann man sehen, wie diese Dinge fortwährend unser Leben bestimmen. Und ich sehe diese deutsche Katastrophe, grauenvoll wie sie war, die von den Deutschen angerichtete Katastrophe, durchaus nicht als ein Unikum. Sie hat sich mit einer gewissen Folgerichtigkeit herausentwickelt aus der europäischen Geschichte und sich dann aus diesem Grunde auch also hineingefressen in die europäische Geschichte, deshalb sind die Spuren dieser Katastrophe in ganz Europa ablesbar, ob Sie jetzt im Norden von Schottland sind oder auf Korsika oder auf Korfu, überall finden Sie Zeugnisse dieser Geschichte.

Was dahinter stand, war der von der Machtpolitik, spätestens seit Napoleon, immer wieder verfolgte Traum, aus diesem sehr unordentlichen Kontinent Europa etwas viel Ordentlicheres, Geregelteres, Durchorganisiertes, Machtvolles zu machen. Und das ist natürlich eine besonders bizarre Ironie der Geschichte, dass die Deutschen, die jahrhundertelang, seit dem Dreißigjährigen Krieg zumindest, die zurückgebliebene Nation in Europa waren, dann diese Machtträume Ende des 19. Jahrhunderts sich angeeignet haben und im Verfolgen dieser Machtträume in all diese Gassen gekommen sind, in die niemand eigentlich hineinwollte.

SPRECHERIN: Sebald hat die Gegenwart immer historisch und in europäischer Perspektive gesehen. Um die Diskursordnungen der deutschen Vergangenheitspolitik kümmerte er sich dabei nie allzu sehr. Der Holocaust war für ihn nun einmal das grauenhafte Extrem europäischer Machtpathologien aber in erster Linie ging es für ihn darum, dessen Metastasen in der europäischen Gegenwart zumindest zu diagnostizieren. Deshalb hat Michael Krüger, der Schriftsteller und Sebalds deutscher Verleger, auch Recht, wenn er anmerkt…

MICHAEL KRÜGER: …es ist manchmal angetönt, auch in den Nachrufen, dass er mit unserer Gegenwart nicht allzu viel beschäftigt war, dass sie nicht wirklich nahe ging und affizierte. Aber sein ganzes Leben war auf seine Weise, auf seine erstaunliche ruhige Weise nichts anderes als eine Auseinandersetzung mit dem Heutigen. Sowohl seine Doktorarbeit über Sternheim wie die Habilarbeit über Döblin, bis hin zu diesem in seiner Aggressivität erschreckenden Aufsatz über Andersch, wo in ihm etwas hochkam, das geradezu als Abwehr gelesen werden muss, um die Heftigkeit zu begreifen, mit der er einem Mann begegnete, der thematisch etwas ganz Ähnliches versucht hatte wie Sebald, nur 30 Jahre vorher und mit Mitteln, die er schwer kritisiert hatte. Ich lese aber eben auch Austerlitz und ich lese natürlich die Essays über den Luftkrieg, ich lese aber auch den Spaziergang durch England immer als eine Reaktion auf dieses 20. Jahrhundert.

SPRECHERIN: Aggressiver wurde Sebalds Ton manchmal besonders im Blick auf die deutschen Nachkriegsverhältnisse, wie in der sogenannten Luftkriegsdebatte.

SPRECHER: „Der inzwischen legendäre und in einer Hinsicht tatsächlich bewundernswerte deutsche Wiederaufbau, der nach den von den Kriegsgegnern angerichteten Verwüstungen einer in sukzessiven Phasen sich vollziehenden zweiten Liquidierung der eigenen Vorgeschichte gleichkam, unterband durch die geförderte Arbeitsleistung sowohl als durch die Schaffung einer neuen gesichtslosen Wirklichkeit von vornherein jegliche Rückerinnerung, richtete die Bevölkerung ausnahmslos auf die Zukunft aus und verpflichtete sie zum Schweigen über das, was ihr widerfahren war.“

SPRECHERIN: Mit einer Vorlesungsreihe in Zürich hat Sebald 1997 eine Debatte ausgelöst über die Unfähigkeit im Nachkriegsdeutschland, das Grauen des Luftkriegs im Gedächtnis festzuhalten. Mit ungewohnter Schärfe diagnostizierte er eine Art von Amnesie im Gedächtnis der Deutschen. Dabei schien sein Blick vor allem auf die Nachkriegsliteratur gerichtet, und so war ihm in den deutschen Feuilletons erst einmal akribisch entgegengehalten worden, wo es in ihr doch überall Reflexe des Bombenkriegs gegeben hatte. Aber diese Debatte dürfte auf einer Verkennung des Angriffspunktes beruht haben, den Sebald eigentlich im Auge hatte.

STEINFELD: Es mag durchaus sein, dass publizistisch betrachtet, der größte Erfolg von W.G. Sebald der kleine Essay über den Luftkrieg war, dabei habe ich von vornherein gefunden, dass diese Debatte auf ein Missverständnis zurückgeht, denn die Klage darüber, dass die Vernichtung deutscher Städte durch die alliierten Bombenangriffe nur in wenigen literarischen Zeugnissen festgehalten sind, diese Klage wurde als Kritik an der deutschen Literatur festgehalten. Dabei scheint es mir eher so zu sein, dass Sebald von dem Bewusstsein getragen war, dass hier etwas fehlt und dass dieses Bewusstsein eher dem poetischen Projekt von Sebald geschuldet war, als einen Mangel in der deutschen Literatur.

SPRECHERIN: Für Sebald war es nicht nur die Binnenwelt der Literatur, in der etwas fehlt. Wer in den 1999 schließlich gedruckten Zürcher Vorlesungen nachliest, wird schnell entdecken können, dass er die Literatur nur als Symptom für einen weit darüber hinaus gehenden Realitäts- und Gedächtnisverlust der Deutschen betrachtet hatte.

SPRECHER: „Trotz der angestrengten Bemühungen um die sogenannte Bewältigung der Vergangenheit, scheint es mir, als seien wir Deutsche heute ein auffallend geschichtsblindes und traditionsloses Volk. Ein passioniertes Interesse an unseren früheren Lebensformen und den Spezifika der eigenen Zivilisation, wie es etwa in der Kultur Großbritanniens überall spürbar ist, kennen wir nicht. Und wenn wir unseren Blick zurückwenden, insbesondere auf die Jahre 1930 bis 1950, so ist es immer ein Hinsehen und Wegschauen zugleich.“

SPRECHERIN: Sebalds Maßstäbe für die wiederholten Vorwürfe einer deutschen Geschichtsblindheit sind immer europäische gewesen. Das hieß nicht, dass er etwa dem britischen Selbstverständnis deshalb völlig unkritisch gegenüberstand. Aber seine europäischen Perspektiven lassen einen Kern seiner schriftstellerischen Existenz erkennen, der ihn von fast allen deutschsprachigen Schriftstellern zu seinen Lebzeiten gravierend unterschieden hat.

SEBALD: Die Tatsache, dass die Wege oft an Deutschland vorbeiführen, hat vielleicht damit zu tun, dass diese Spuren der Geschichte, die sich der Landschaft und den Städtebildern eingeschrieben haben, in Deutschland am wenigsten sichtbar sind. Und dass die Zerstörung, die sich in diesem Land, in Deutschland, vollzogen hat in der zweiten Hälfte des Zweiten Weltkrieges, in all dem, was sie angerichtet hat, fast vollkommen beseitigt worden ist. Das heißt, wer heute durch Deutschland fährt, der sieht so gut wie gar nichts mehr von dem, was hier während den 40er Jahren geschehen ist.

Das ist möglicherweise eine extreme Reaktion auf eine extreme Katastrophe gewesen. Das heißt, dass für uns Deutsche nach diesem zweiten Krieg nichts so wichtig und nichts so dringend war, als all das zu beseitigen, von Grund auf und nicht nur einmal zu überbauen, sondern zwei- oder drei- oder viermal. Weil das, was in den 50er Jahren gebaut wurde, in den 60er Jahren ja schon nicht mehr gut genug war und man nie erinnert werden wollte an das, was sich damals abgespielt hat. Das heißt, wenn man Geschichte lesen will in der Landschaft oder in Städtebildern, dann muss man zunächst, glaube ich, in anderen Ländern sich umtun, eben in Belgien, eben in Nordfrankreich, möglicherweise auch in England, aber auch an ganz entlegenen Orten im mediterranen Raum beispielsweise.

SPRECHERIN: Man kann die Stellen in Sebalds Werk, die überhaupt an deutschen Orten und Schauplätzen spielen, tatsächlich an den Fingern einer Hand abzählen. Die einzigartige Konstellation dieses Werkes ist im Grunde paradox: Es gehört zu den bedeutendsten Werken der deutschsprachigen Literatur in den letzten Jahrzehnten, in dem Deutschland aber nahezu inexistent bleibt, obwohl es ohne dieses Land und seine Geschichte wiederum undenkbar ist.

STEINFELD: Sebald war ein Kartograf der europäischen Schädelstätten, wie es in Deutschland noch keine gegeben hat.

SPRECHERIN: Sein Weg führt auf ein europäisches Terrain, lange bevor es als ein künftig integraler Erfahrungsraum überhaupt in den Blick kam. Im Allgäu war Sebald am Rand der deutschen Nachkriegswelt aufgewachsen, aus der es ihn Mitte der 60er Jahre mit Anfang 20 schon früh weggezogen hatte. Zuerst für kürzere Zeit in die Schweiz und dann nach England. Wie so viele Gestalten, deren Spuren eher in seinen Erzählungen durch Europa und bis nach Amerika gefolgt ist, war er selbst ein Ausgewanderter.

Die Städte und Landschaften, nicht nur in England, sondern auch auf dem europäischen Kontinent, in Holland, Belgien und Frankreich, in die er immer wieder zu oft monatelangen Reisen aufgebrochen ist, hat er so mit anderen Augen entdeckt als übliche Reisende. Andererseits war er ein Ausgewanderter, der nirgends eingewandert ist, um eine neue Heimat zu finden. Über sein Leben in England hat er gesagt:

SEBALD: …ich betrachte mich immer noch als einen Gast in diesem Land und bilde mir nicht ein, dass ich also jetzt sozusagen naturalisiert oder anständig assimiliert wäre, aber der Zustand ist also weiterhin geblieben und ich fühle mich in dieser Art von provisorischer Existenz einigermaßen gut aufgehoben.

Zugleich ist es natürlich so, dass ich allein durch das Verfließen der Zeit – das sind jetzt immerhin so etwas wie 35 Jahre – Deutschland sehr weit von mir entfernt habe. Das heißt, das Land, das mir von Anfang an fremd gewesen ist, weil ich ja ganz am Rande dieses Landes aufgewachsen bin, ist mir auch in der Zwischenzeit nicht vertrauter geworden und das Einzige, was mich bindet an dieses Land, ist die Tatsache, dass ich aus einer Familie stamme, die eine deutsche Familie war und ist, und insofern an dieser deutschen Vorgeschichte mitgewirkt hat und diese Vorgeschichte eine Geschichte ist, die man nicht einfach ablegen kann. Und das zweite ist die Sprache, die mir natürlich auch etwas bedeutet als eine Art von Floß, auf dem ich sitze in diesem mir auch nicht vertraut gewordenen englischen Ausland.

SPRECHERIN: Sprache und Herkunft, das sind für Sebald, wie bei vielen Ausgewanderten, die beiden einzigen Verbindungslinien zu dem Land geblieben, in dem er geboren wurde. Und man muss bei seinen unversöhnlichen Blicken auf die deutschen Verhältnisse immer diese Fremdheit mitberücksichtigen, die er selbst empfunden hat. Ein deutschsprachiger Schriftsteller ist Sebald geblieben und ebenfalls einer mit dem Bewusstsein davon, dass ein Gegenwartsblick niemals die eigene Herkunft aus den Augen verlieren könnte. Aber ein deutscher Schriftsteller ist er wohl eher nicht mehr gewesen.

Er war in vieler Hinsicht, wie es so treffend gesagt wurde, ein Nachgänger. Doch in mehr als einer Hinsicht dabei auch ein Vorläufer, nämlich ein europäischer Schriftsteller. Einer der ersten sogar eines zwar nicht gänzlich neuen Typus, aber doch eines Typus, der heute durch die Folgen der seit dem 19. Jahrhundert entstandenen Lebensbedingungen von gesteigerter Mobilität erst allmählich richtig zum Vorschein kommt. Schriftsteller, die zwar durch ihre jeweils regionale Sprache und Herkunft tief geprägt sind, aber ihre Existenzen und Blicke längst nicht mehr auf die Grenzen solcher Regionen beschränken, sondern sie im europäischen Erfahrungsraum verankern, so dass er auf diese Weise erst zu einem wirklichen Erfahrungsraum zu werden beginnt. Auch Sebalds Blick und erzählerischer Sprache ist jederzeit anzumerken, wie sehr sie von der Allgäuer Landschaft seiner Jugend geprägt blieben, ganz gleich, ob er später durch die Grafschaft Suffolk wanderte oder für einen Roman, der auf Austerlitz folgen sollte, den Blick schon auf eine Gegend in der Picardie gerichtet hatte.

SEBALD: Das Herumgehen zu Fuß in der Landschaft ist eine Form der Aneignung der Vergangenheit, die es einem am ehesten ermöglicht, etwas zu sehen. Also ganz gleich wie man sonst reist, mit dem Flugzeug oder mit dem Auto, das geht einfach sehr viel zu schnell. Und es ist unabdingbar, für mich jedenfalls, wenn ich etwas über den Ersten Weltkrieg schreiben möchte, zum Beispiel, dass ich ein, zwei Monate lang mich in diesem Territorium aufhalte, wo die Hindenburglinie verlaufen ist. Also dort in dieser nordfranzösischen Gegend, die heute noch sehr zurückgeblieben ist.

Und wenn man dann an diesen Linien also entlang geht, dann sieht man tatsächlich, wie weit die Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht. Wenn man drüber fliegt mit einem kleinen Flugzeug sieht man in den Ackerfeldern noch die Verfärbungen, die durch die ehemaligen Grabensysteme entstanden sind. Wenn man auf den Hartmannwillerkopf in den Südvogesen hinaufsteigt, dann sieht man noch die Eisenstücke, die in diesem wahnwitzigen, umkämpften Gipfel drinstecken, als sei es gestern gewesen. Man sieht in der Art, wie die Wälder dort aufgewachsen sind, noch genau, was sich damals dort abgespielt haben muss, und es gibt so etwas wie eine Landschaftsarchäologie, wie eine Sozialarchäologie, wenn man dann mit den Leuten redet in der Picardie, die in einem Dorf wie Berthenicourt in der Nähe von Saint-Quentin genau mit ihrem Dorf auf dieser befestigten Linie lagen, wo die ältesten Einwohner sich heute noch erinnern können, wie das war, als die Deutschen zum zweiten Mal innerhalb einer Generation auftauchten.

SPRECHERIN: Es ist wie der Blick eines Naturhistorikers, mit dem Sebald die Wundmale der europäischen Vergangenheit noch in der Gegenwart solcher Landschaften entziffert hat. Dass seine Werke im Laufe der 90er Jahre auch in Europa und den USA so starke Beachtung fanden, lag sicher auch daran, dass sie erstmals so etwas wie die topographische Karte des in sich zutiefst verflochtenen europäischen Erfahrungsraums entwarfen. Nur gab er Gegenbilder zu dem oft proklamierten Anspruch, die Traumata der europäischen Vorgeschichte seien inzwischen überwunden. Während überall von der scheinbar tadellosen Konstruktion des Europäischen Hauses gesprochen wurde, war er längst im Keller mit der Besichtigung der weniger geheuren Fundamente Europas beschäftigt.

STEINFELD: Nachgänger heißt auch, dass Sebald ein Katastrophengänger war. Ich vermute, dass er das von Anfang an war. Seine Spezialität war die Vermessung von Schäden und Schmerzen. Er war auf Narben fixiert, aber auch eine Art Kriegsberichterstatter, das haben wir gerade gehört, von Stendhals Teilnahme an Napoleons Feldzug durch die Lombardei bis zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust und darüber hinaus.

SPRECHERIN: Diese fast traumatisch wirkende Fixierung auf Katastrophen war allerdings auch ein Erbstück seiner frühesten deutschen Vita. In dem Prosagedicht Die dunckle Nachtfahrt aus seines ersten Buches Nach der Natur heißt es einmal, er sei „dem anderwärts furchtbaren Zeitlauf zum Trotz am Nordrand der Alpen, wie mir heut scheint, aufgewachsen ohne einen Begriff der Zerstörung“. Trotzdem ist er nicht aufgewachsen, ohne so früh wie überhaupt nur denkbar schon etwas von den damaligen Zerstörungen gespürt zu haben. Eine andere Stelle dieses Gedichts handelt davon, wie seine mit ihm schwanger gehende Mutter am 28. August 1943 auf der Rückreise ins Allgäu durch einen großen Bombenangriff auf Nürnberg nur bis Fürth gekommen sei, von wo aus sie dann das in Flammen stehende Nürnberg habe vor sich liegen sehen. In der Konstellation als noch Ungeborener den Zerstörungen so nahe gewesen zu sein, ist Sebald unentwegte literarische Fragestellung bereits vorgeprägt: aus den Katastrophen, die er zwar nicht mit eigenen Augen gesehen, wohl aber gespürt hat, entsprechende Erfahrungen zu gewinnen.

Seine Lösung dieser Aufgabe im ausgehenden 20. Jahrhundert war verblüffend einfach und evident: Um die Katastrophen und ihre Folgen zu vermessen, ist vor allem Aufmerksamkeit für die Gegenwart nötig, für die Landschaften, die Bauwerke in den Städten und nicht zuletzt für die Viten von Menschen im zerklüfteten Europa. Europas Gegenwart und ihre langen Schatten. Das ist der neu entdeckte Kontinent dieses großen Erzählers und Katastrophenkundigen und ein bisher einzigartiger Impuls in der deutschen Literatur. Wird dieser Impuls nachwirken?

STEINFELD: Nachgänger, das liegt in der Natur der Zeit, werden seltener, und das liegt vor allem daran, dass der wichtigste Maßstab der Literatur heute, vor allem auch der deutschen Literatur, das Dabei-sein ist, das Ganz-vorne-stehen, das Auf-der-Bühne-mitmachen-können, die Gegenwart oder vielleicht sollte ich besser sagen: die Aktualität. Denn nichts ist dem Nachgänger ferner als die Aktualität und die Aktualität ist etwas anderes als die Gegenwart.

SPRECHERIN: Aktualität besitzt Sebalds Werk weniger. Vielmehr eine Gegenwart, die weit beständiger ist. Es mag sein, dass dieses Werk so schnell keine Nachfolger finden wird, aber wenn, in gleich welcher Sprache, dieser narbenübersäte europäische Kontinent unausweichlich doch eines Tages weitere literarische Vermesser findet wird, so wird W.G. Sebald mit seinem Werk für sie der Klassiker sein.

 

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text ist eine von Uwe Schütte erstellte Transkription einer Radiosendung des NDR3 und ORB von Uwe Pralle, die in der Reihe Kulturforum ausgestrahlt wurde. Der Text erschien zuvor in den Celler Heften 16-17. Für die freundliche Genehmigung eines korrigierten Wiederabdrucks danken wir der RWLE Möller Stiftung und Estate of W.G. Sebald.