Auf dem Weg zur vollkommenen Kontrolle
Anna Metcalfes Roman „Chrysalis“ schildert eine faszinierende Veränderung
Von Larissa Decke
Chrysalis ist ein Roman, dessen Titel einen biologischen Status beschreibt, bei dem eine Raupe während der Metamorphose zum Schmetterling kurzzeitig völlig bewegungslos verharrt. Inhaltlich widmet sich der Roman der Körperlichkeit und der weiblichen Emanzipation. Auf den ersten Blick gehören Titel und Inhalt nicht zusammen, jedoch werden beim genaueren Lesen immer wieder Parallelen ersichtlich, die eine tiefere Verbindung des Titels zum Geschehen offenbaren.
Die namenlose Protagonistin taucht im gesamten Roman selbst nicht auf. Stattdessen wird sie von drei ihr nahestehenden Figuren beschrieben. Jede dieser Figuren schildert die Handlung aus der Ich-Perspektive: Die Leserinnen und Leser betrachten das Geschehen folglich durch die Augen der drei Erzähler und es bleibt offen, was in der Heldin selbst vorgeht.
Elliot, ein Einzelgänger, welcher die Protagonistin im Fitnessstudio trifft, beginnt mit dem Porträt. Von Anfang an verehrt er sie, wobei er wie hypnotisiert wirkt:
Sie machte mich nervös, aber auf eine gute Art. Ich mochte es in ihrer Nähe zu sein, und dieses Gefühl war neu.
Aus der einseitigen Beobachtungentwickelt sich eine Fitnessstudio-Bekanntschaft, die vor allem durch eine körperliche Verbundenheit geprägt ist. Der Körper der Protagonistin, den sie nach der Flucht aus einer missbräuchlichen Beziehung ‚verwandeln‘ will, stellt ein zentrales Motiv in Elliots Beschreibung dar. Sie will stärker, schwerer und gelassener werden: Sie will – um eine Parallele zum Titel „Chrysalis“ zu ziehen – wie eine Raupe aus ihrem Kokon ausbrechen, da ihr Ex-Freund Paul sie immer wieder einsperrt. Zunächst bekommt die Leserschaft den Eindruck, dass die Protagonistin ihre Verwandlung gemeinsam mit Elliot bewältigen kann – jedoch nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung, als sie ihn plötzlich fallen lässt. Elliot steht der Heldin bei ihrer Entwicklung im Weg. Für die Heldin ist „der einzige Weg dorthin […] die Isolation.“
Die zweite Perspektive auf die Protagonistin wird von ihrer alleinerziehenden Mutter Bella eingenommen. Von Bella erfährt die Leserschaft, dass die Hauptfigur ihren Namen hasste und diesen mehrfach änderte:
Sie identifizierte sich voll und ganz mit einem Namen, nur um ihn dann so plötzlich, wie sie ihn angenommen hatte, wieder abzulegen.
Ein Hinweis darauf, dass die Protagonistin noch nicht diejenige ist, die sie gerne sein will. Außerdem gewährt die Mutter einen Einblick in die schwierige Kindheit der namenlosen Hauptfigur, welche unter anderem von Mobbing in der Schule aufgrund von Zitteranfällen geprägt war. Gegen diese Anfälle konnte die Heldin jedoch eine eigene Mediationstechnik entwickeln, die sie auf ihrem Videoblog mit Millionen von Followern teilt.
Das dreiteilige Porträt wird von Susie vervollständigt – einer Arbeitskollegin, welche die Protagonistin nach ihrer Trennung aufnahm.
Der Roman verhandelt die Themen Selbstfindung, Selbstinszenierung, soziale Medien, Einsamkeit, Liebe, Mobbing in der Schule sowie Missbrauch in Beziehungen, also aktuelle, gesellschaftlich bedeutsame Themen. Die Probleme, die sich aus diesen Themen ergeben, beleuchtet der Roman auf eine faszinierende Weise: Es werden beispielsweise die Herausforderungen und Potenziale des weiblichen Körpers in einer Welt, in der dieser von allen beobachtet wird, eindrucksvoll dargestellt. So versucht sich die Protagonistin aus den Zwängen der Gesellschaft zu lösen, indem sie sich nicht fest an eine Person bindet und sich immer wieder vollständig isoliert. Gemeinsam ist allen drei Erzählfiguren, dass die Protagonistin sich aus einer von Macht und Abhängigkeit geprägten Beziehung löst und sie am Ende fallen lässt.
Anna Metcalfe lässt viel Spielraum für die Interpretation der Leserinnen und Leser, es bleiben viele Fragen offen, beispielsweise die nach der Sichtweise der Protagonistin oder die nach ihrem Namen. Fraglich ist zudem, ob die Heldin nach dem Erfolg ihres Videoblogs tatsächlich die Kontrolle über sich erreicht hat oder ob lediglich eine glänzende Fassade aufgebaut wurde, welche die Wirklichkeit verschleiert. Einen Hinweis liefert der Titel des Romans: Dieser lautet eben nicht „Schmetterling“, sondern „Chrysalis“.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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