Literaturgeschichte spannend aufbereitet
In seinen Vorlesungen „Meisterwerke der europäischen Literatur“ analysiert Hans Sanders kanonisierte Werke der Literatur und weckt dabei Lust am Lesen
Von Günter Rinke
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Vorlesung als Form akademischer Lehre ist in jüngster Zeit in Verruf geraten. Kritisiert werden aus vermeintlich moderner didaktischer Sicht Lehrerzentriertheit und rezeptives Verhalten der Zuhörerschaft im Hörsaal. Die sogenannte Bologna-Reform der Studiengänge ist der Vorlesung nicht gerade förderlich, sind doch die zu erwartenden credit points für diese Lehrveranstaltungen oft nicht so üppig, dass Studierende, denen die Anwesenheitspflicht erlassen wurde, sich zur Teilnahme ermuntert fühlen würden. Was aber verloren ginge, würde das Angebot an Vorlesungen weiter eingeschränkt, als dies jetzt schon vielerorts der Fall ist, lässt sich durch die Lektüre des neuen Buchs des Hannoveraner Romanisten Hans Sanders herausfinden.
Sanders, der bereits 2021 einen Band mit seinen Literaturvorlesungen aus den Jahren 2017 bis 2019 veröffentlicht hat, legt nun eine weitere Sammlung von vier Vorlesungen vor. Sie enthalten Vortragsreihen über zwei kanonisierte Autoren nicht nur der europäischen, sondern der Weltliteratur: Shakespeare und Honoré de Balzac. Zwei weitere Vorlesungen beziehen sich auf die Darstellung des Ehebruchs in Werken von der Antike bis ins 20. Jahrhundert und auf die Gattung Komödie von Aristophanes bis Friedrich Dürrenmatt. Die relativ kurzen Texte zu den einzelnen Werken sind sowohl anspruchsvoll, weil analytisch angelegt, als auch unterhaltsam zu lesen, weil das Bemühen erkennbar ist, die Zuhörenden ‚bei der Stange zu halten‘, also das Publikum nicht durch zu trockene Vorträge zu verlieren. Sprachlich ist in der Veröffentlichung der Stil des mündlichen Vortrags weitgehend beibehalten worden.
Sanders informiert zunächst sehr knapp über die Autoren bzw. im Fall der Mme de La Fayette, die Autorin, gibt dann eine, ebenfalls knapp gehaltene, Inhaltsangabe des jeweiligen Werks, bevor er zu einer überwiegend sozialhistorisch fundierten Analyse kommt. Dabei macht er vor allem deutlich, wie sich soziale Wandlungen auf Moralvorstellungen auswirken und wie sich diese wiederum in den literarischen Werken niederschlagen. Es entsteht ein hermeneutischer Zirkel, der sonst aus Einzelinterpretationen bekannt ist: Aus der „Signatur des Zeitalters“ erklären sich Eigenarten eines Werks, das wiederum zu dieser Signatur beiträgt, sie ausdrückt und weiterentwickelt. Das eben ist die Stärke der Vorlesungsform: Ein kundiger Fachmann stellt Zusammenhänge her, die sich den Lernenden nicht so leicht erschließen, deren Kenntnis und Verständnis dann zu eigenem Weiterforschen anregen können, in erster Linie natürlich zur eigenen Lektüre der Werke: Die „Hannoveraner Vorlesungen“ sind nicht zuletzt eine Anregung zum Lesen oder Wiederlesen bedeutsamer Werke der (Welt-)Literatur.
Beispiel Shakespeare: Die Sonderstellung, die dieser Dichter in der Weltliteratur hat, ist nicht selbstverständlich, gehört er doch einem von heute aus gesehen entrückten Zeitalter an, aus dem weitere Autoren (fast) nur noch einigen Spezialisten bekannt sind. Diese Sonderstellung zeigt sich daran, dass manche Stücke Shakespeares immer noch aufgeführt werden und dass etliche seiner Figuren zum bildungsbürgerlichen Gemeingut gehören: Hamlet, Lear, Macbeth, Romeo und Julia und etliche mehr. Das liegt sicherlich an der großen Bühnenwirksamkeit der Stücke, zum anderen an einem offenbar aktuell gebliebenen Problemgehalt. Sanders stellt ihn unter die Überschrift uncertainty, eine generelle Unsicherheit, die im elisabethanischen England eine Grundstimmung gewesen sei, der Shakespeare in seinen Stücken Ausdruck verliehen habe. Wegen dieser problematisch gewordenen Grundlage des Gemeinwesens kann Shakespeare in seinen Stücken „Diskursdestruktionen“ vornehmen, die sich auf die Rolle des Königs, Familienbande und Clanstrukturen sowie auf moralische Normen beziehen. Die Macht des Finanzkapitals dämmert herauf, Geld und Macht geraten in Konflikt mit der Moral, und oft zeigt sich bei alledem „die unbeherrschbare Kontingenz der Dinge“, der Einfluss der Fortuna, so zum Beispiel in dem Stück Romeo und Julia mit seinen Zufällen und tragischen Verkettungen.
Beispiel Balzac: Mit einem einprägsamen Satz gelingt es Sanders, am Beispiel der Vaterrolle den Unterschied zwischen frühmoderner (Shakespeare) und moderner Gestaltung (Balzac) aufzuzeigen: „Die Krise also verschiebt sich von der Ebene des Verhaltens (Lears Torheit) auf die Ebene der Verhältnisse (nachrevolutionäre Gesellschaft).“ Dies jedenfalls sei Balzacs Sicht der Familienprobleme, von denen er in seinen Romanen erzählt. Mit seiner realistischen Darstellungsweise richte er die Aufmerksamkeit auf die ökonomischen und sozialen Determinanten menschlichen Verhaltens und Handelns. So habe Balzac, als Vorläufer der Naturalisten, eine naturwissenschaftliche Methode für seine Romanproduktion genutzt. Für ihn sei der Roman „Introspektion plus Geschichte“ gewesen. Besonders spannend ist Sanders‘ Darstellung der Auswirkungen älterer sozialer Prägungen (etwa von Standesschranken) auf die Verhältnisse im restaurativen Frankreich und danach in der Julimonarchie des „Bürgerkönigs“. So zeigten sich ein Autoritätsverlust der Eltern sowie des Ehemanns und, damit einhergehend, eine allmähliche Schwächung der Institution Ehe. Sanders stellt seine Erkenntnisse anhand ausgewählter Beispiele dar – darunter übrigens einige weniger bekannte, während etwa die berühmtere Trilogie Verlorene Illusionen fehlt.
Dem Thema Ehebruch ist die nächste Vorlesung gewidmet. Der Vortragende schlägt einen großen Bogen von mittelalterlichen Bearbeitungen des Tristan-Stoffs über Mme de La Fayette, Rousseau, Flaubert, Tolstoi, Fontane bis zu Arthur Schnitzlers Traumnovelle. Die These von der sich verringernden Bindekraft der Institution Ehe, die im Mittelalter noch mit der königlichen Autorität verknüpft sein konnte (siehe Tristan), lässt sich so durch die Jahrhunderte verfolgen. Während der Ehebruch in La Fayettes Prinzessin von Clèves und Rousseaus Nouvelle Héloïse nur als Möglichkeit aufscheint und noch nicht wirklich stattfindet, wird er in Madame Bovary, Effi Briest und Anna Karenina vollzogen – jeweils mit katastrophalen Folgen – und bei Schnitzler als eine der „jederzeit verfügbaren Möglichkeiten der Person“ vorgeführt, wobei es nebensächlich ist, ob er nur imaginiert wird oder wirklich stattfindet. Dass eine solche Überblicksdarstellung nicht ohne Vereinfachung (bzw. didaktische Reduktion) auskommt, zeigt sich am komplexen Roman Anna Karenina, in dem es ja nicht nur um Annas Ehebruch mit Wronski, sondern über viele Seiten auch um die Möglichkeit der geglückten Ehe zwischen Lewin und Kitty geht.
Am Ende des Bandes folgt ein weitgespannter Überblick über europäische Komödien seit der Antike, also seit Aristophanes, dem Begründer der Gattung Komödie. Von ihm sind immerhin elf Stücke erhalten, von denen einige, darunter die von Sanders untersuchte Lysistrate, bis heute gespielt und bisweilen neu adaptiert werden (beispielsweise von Hochhuth). Die meisten der in den Vorlesungen behandelten Stücke sind wohlbekannte Klassiker von Plautus, Shakespeare, Molière, Goldoni, Lessing, Kleist, Hofmannsthal und Dürrenmatt. Es kommen aber auch weniger bekannte Komödien wie Der Kälberbrüter (1551) von Hans Sachs und König Ubu (1896) von Alfred Jarry vor. Die vorangestellte Einleitung dient der Abgrenzung des Komischen „als komplementäre[r] und korrelierende[r] Kontrapunkt des Tragischen“. Mit dem Verschwinden der Götter aus der Welt, dem Machtverlust der Institutionen und der nachlassenden Bindekraft von Normen sei in der Moderne der Tragödie die Grundlage entzogen. Es blieb das Komische, dessen „Urfigur“ nach Sanders der Clown ist. Er bringe uns durch sein Aussehen und durch sein Handeln zum Lachen und sei im Übrigen ein rein innerweltlicher Typus, der ohne Gott auskomme.
Liest man nun die Ausführungen zu den Stücken, so ist man auf die Spur gesetzt und sucht den Clown – allerdings oft vergeblich. Zumindest wechselt er ständig seine Gestalt, es sind ganz unterschiedliche Typen, die in Frage kommen, etwa Kleists Dorfrichter Adam oder Hans Sachsʼ Kälberbrüter. Schwieriger wird es schon bei Hofmannsthals „Schwierigem“, dem Grafen Bühl, oder bei Dürrenmatts „Irrenärztin“ Mathilde von Zahnd. Sind sie Clowns? Zumindest müsste man von Metamorphosen dieses Typus sprechen, wie es Andrea Bartl in ihrer Überblicksdarstellung zur deutschen Komödie tat, die den Untertitel „Metamorphosen des Harlekin“ (2009) trägt. Hätte die Vorlesung kolloquialen Charakter, wie es heute oft der Fall ist, und ich wäre unter den Zuhörern, hätte ich von meinem Recht zur Zwischenfrage Gebrauch gemacht und nach dem Anteil von Tragik in modernen Komödien gefragt. In seinen „21 Punkten zu den Physikern“ schrieb Friedrich Dürrenmatt: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ Viel spricht dafür, dass moderne Komödien zum Tragikomischen tendieren und dass starre Gattungsgrenzen überholt sind.
Die „Hannoveraner Vorlesungen“ sind eine anregende, viele Einsichten vermittelnde Lektüre, zu empfehlen natürlich für Studierende der Literaturwissenschaft, die ihr Überblickswissen stärken wollen, aber auch für alle anderen Literaturinteressierten, die ohne ein Übermaß an wissenschaftlicher Fachterminologie Erkenntnisse über große Literatur gewinnen wollen.
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