Zwischen Krankheit und politischer Gesinnung

Frederik Stolte untersucht in seiner Dissertation das medizinische Wissen in den Werken Doris Lessings

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das beachtliche Werk der Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing ist verknüpft mit hochpolitischen Themen wie Kolonialismus, Rassismus und Feminismus. Nicht zuletzt spielt auch das „Setting Afrika“ eine gewichtige Rolle, wie zum Beispiel in ihrem 1950 erschienenen Debütroman Afrikanische Tragödie. Knapp zusammengefasst geht es immer wieder um Fragen von Machtstrukturen, die Lessing in ihrer Literatur in verschiedenen Schaffensphasen verhandelt.

Mit seiner Dissertation Krankheit und Heilung in den Werken Doris Lessings beansprucht Frederik Stolte, Facharzt für Neurologie, nun ein Forschungsdesiderat zu füllen, indem er mit seinem Interpretationsansatz eine ergänzende Perspektive auf Darstellung von Krankheit und Heilung in ausgewählten Romanen der Autorin wirft. Bislang existiere trotz der umfangreich vorhandenen Sekundärliteratur zu Doris Lessings Werk keine „systematische Analyse des medizinischen Inhalts“; dieser sei oftmals nur ein „Nebenthema“. Die umrissene Frage- und Themenstellung beabsichtigt, Lessings Werk mit Fragen der Darstellung von Krankheit und Heilung neu zu akzentuieren. Stolte formuliert lapidar: „Welche Eigenschaften weist gute Medizin in Lessings Romanen auf?“

Stolte versteht seine Studie als Ergänzung „eines interdisziplinären Diskurses“ und nicht als primär literaturwissenschaftliche Interpretation. Gleichwohl bedient sich Stolte analytischer Werkzeuge literaturwissenschaftlicher Provenienz, wenn er beispielsweise die Texte im Licht hermeneutischer Verfahren untersucht oder ankündigt, näher auf Allegorien und Metaphern einzugehen. Der Autor hat den Anspruch, die medizinischen Diagnosen präziser und differenzierter zu fassen, als es die Literaturwissenschaft bislang vermocht habe. Denn diese habe, so Stolte, „Neurosen oder die Aura einer Epilepsie […] mit Psychosen“ gleichgesetzt.

Der methodische Zugriff erfolgt zum einen durch die Theorien des britischen Psychiaters und bekennenden Vertreters der Anti-Psychiatrie-Bewegung Ronald David Laing. Hierzu zählen u.a. die Methoden der interpersonalen Phänomenologie oder des Schizophrenie-Verständnisses. Zum anderen geht Stolte auf das Krankheitskonzept und die Archetypentheorie des Schweizer Psychiaters Carl Gustav Jung ein. Die Theorieauswahl begründet der Autor mit dem intellektuellen Umfeld Lessings. Es ist davon auszugehen, dass die Positionen und Überlegungen Laings und Jungs der Schriftstellerin bekannt gewesen waren:

Lessing hat viele Motive und Konzepte der Analytischen Psychologie und des Krankheitsverständnisses sowie existenzielle Voraussetzungen, die Jung und Laing aufgreifen, in ihren Werken literarisch verarbeitet.

Die theoretische Darlegung fasst Stolte in seinem analytisch angelegten Großkapitel unter dem Titel „Ergebnisse und Diskussionen“ zusammen. Diese Gliederung irritiert, da der Autor grundlegende Ergebnisse erst im zweiten Teil des gleichen Kapitels, „Interpretation“, gewinnt. Die eigentliche Analyse erweist sich als das verdienstvolle Zentralstück der Studie. Die Vorstellung der Theorien Jungs und Laings wären jedoch im zweiten Kapitel, „Material und Methodik“, das keine zehn Seiten umfasst, sinnvoller aufgehoben gewesen.

Intensiv setzt sich Stolte mit Lessings Romanen auseinander, wobei er aspektorientiert vorgeht. Er beginnt mit einer eingehenden Untersuchung von Krankheitsdarstellungen und Genesungsprozessen im gesellschaftspolitischen Kontext. Stolte stellt beispielsweise in Lessings Roman Afrikanische Tragödie (1950) und der Pentalogie Kinder der Gewalt (1952-1969) u.a. einen Zusammenhang zwischen Krankheit und politischer Gesinnung her: „Krankheit hat eine politische Dimension, die korrekte Diagnose und Therapie objektivierbarer Symptome völlig verschleiert.“ Instrumentalisierung von Krankheit oder deren Leugnung waren – vergleichbar mit dem Leugnen des Coronavirus – Probleme, die Lessing bereits in Bezug auf die Tuberkulose in ihrer Pentalogie literarisch verhandelt hat.

Damit einher geht eine umfassende Analyse der subjektiven Krankheitsperspektiven. Ausgangspunkt ist die Individualität und Vielschichtigkeit der Patient:innen. Stolte kritisiert eine einseitige Betrachtung, die er als „methodische Intoleranz“ bezeichnet. Für die Interpretation zieht der Autor mehrere Figuren heran. Beispielsweise Lynda aus Die viertorige Stadt, dem letzten Band der Pentalogie, um ihr subjektives Erleben als Schizophrenie-Patientin nachzuzeichnen. Eine wesentliche Rolle spielt in dieser subjektiven Erfahrung nicht nur das Umfeld, sondern auch die unklare Diagnostik von psychiatrischen Methoden, die Lynda geschickt auszunutzen weiß. Sinnvoll erweist sich der Anschluss eines weiteren Analyse-Kapitels, das sich mit der Darstellung der Arztfigur befasst. In Lessings Literatur sei demnach eine Entwicklung erkennbar. Während in den ersten Romanen Lessings insbesondere Negativbeispiele nachweisbar sind, in denen die Arztfiguren „als Funktionär[e] und Beamte[…] des politischen Systems“ agieren, fallen in der späteren Schaffensphase Lessings vor allem solche Ärzte auf, die „aus der psychotherapeutischen Dogmatik oder wissenschaftlichen Abstraktion“ heraustreten.

Auch wenn Stolte seine Dissertation nicht primär als literaturwissenschaftliche Studie verstanden wissen möchte, ist die Ineinssetzung von Lessings Biographie und literarischer Produktion problematisch. So schreibt der Autor immerzu von einer Kritik, die Lessing an gesellschaftlichen Verhältnissen – etwa an der Frage nach der ethnischen Herkunft, der politischen Machtdiskurse, der Autonomie von Patient:innen etc. – im Kontext des Kolonialismus in ihrem Romanen äußere. Unbestritten hängen Leben und Werk bei Lessing eng zusammen, nicht zuletzt angesichts ihrer Erfahrung, die sie in jungen Jahren in Südrhodesien auf einer Farm gemacht hat. Allerdings sollte bei einer Untersuchung literarischer Texte grundsätzlich eine stärkere Differenzierung von Autor:in und Erzählinstanz getroffen werden.

Was die Untersuchung metaphorischer Darstellungsstrategien betrifft, so wäre es wünschenswert gewesen, Susan Lee Sontags berühmten Essay Krankheit als Metapher (1978) in die Überlegungen einzubeziehen. Insbesondere der ethische Gehalt ihres Essays hätte die Interpretation der Darstellungsverfahren von medizinischem Wissen bereichern können, zumal Stolte bereits in der Einleitung darauf verweist, dass die „Kernproblematik vieler Romane Lessings […] die Stigmatisierung Erkrankter durch die Gesellschaft [ist]“ und damit die ethische Relevanz der Texte hervorhebt.

Die Studie erschwert stellenweise den Lesefluss. Zum einen lassen sich einige ungelenke bzw. oberflächliche Formulierungen ausmachen. Dass zum Beispiel einige Interpretationen von Lessings Romanen etwa bei der „Anwendung der Individuationstheorie bei Analysen von Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis“ in der von Stolte gesichteten Forschungsliteratur „teilweise Fehler auf[weisen]“, bleibt eine Behauptung, Beispiele bleibt der Autor schuldig. Überdies fehlt es an einigen Stellen an Überzeugungskraft, was auf die Verwendung von Hilfsverben wie „können“ zurückzuführen ist:

Diese Dissertation kann deshalb eine sinnvolle Ergänzung eines interdisziplinären Diskurses sein.

An anderer Stelle wiederum wechselt der Autor das Register, Formulierungen wirken sehr normativ:

Eine Herausarbeitung der Beziehungen von körperlicher und geistiger Pathologie zur Individuation muss diese Voraussetzungen beachten.

Zum anderen stören viele überflüssige Verweise auf die Vorgehensweise den inhaltlichen Fließtext, dem es überdies an sinnstiftenden Absätzen, allen voran im umfangreichen Analyseteil, fehlt. Zwischenfazits hätten die Interpretation bereichert. Angesichts des Großkapitels das immerhin mehr als 130 Seiten umfasst, fällt die Zusammenfassung enttäuschend knapp aus. Ohnehin finden sich darin weniger prägnante Erkenntnisse der Textanalysen als vielmehr solche Formulierungen, die üblicherweise Teil einer Einleitung sind.

Dennoch: Der interdisziplinäre Deutungsansatz eines im weitesten Sinne humanwissenschaftlichen sowie medizinethischen, ferner durchaus literatur- und kulturhistorischen Blickes offenbaren anschlussfähige Überlegungen für verschiedene Fachkulturen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Frederik Stolte: Krankheit und Heilung in den Werken Doris Lessings.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2023.
234 Seiten , 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783825395322

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