Vom letzten Seufzer bis zum Abspann
Hans Christoph Buch lässt in „Der Flug um die Lampe“ eine Eintagsfliege um das Licht kreisen und die Gedanken um Nick Knatterton, Ötzi und Elvis Presley
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer produktive und weitgereiste deutsche Autor Hans Christoph Buch hat seinem Buch einen Titel gegeben, der sich auf einen kurzen prologähnlichen Text über die Eintagsfliege bezieht. Der Buchinhalt lässt sich daraus so wenig erschließen wie aus der Überschrift dieser Rezension, die sich der Titel des zweiten und des vorletzten Textes bedient. Die virtuosen Beiträge entziehen sich einer „Zusammenfassung“; gemeinsam ist ihnen sprachliche Eleganz, und oft kommt ein reizvolles Spiel mit pfeilgeschwind veränderter Identität dazu.
Letzteres macht der Titel des Ersten Buchs deutlich: „ICH IST EIN ANDERER“; die beiden anderen als „Buch“ bezeichneten Hauptteile dieser Veröffentlichung heißen „ELVIS LEBT ODER DIE STIMME AMERIKAS“ und „ABTRETENDE ARTISTEN“. „Mein letzter Seufzer“ spielt in Haiti, wo der Autor sich auskennt und der Icherzähler Dingsda, von Freunden Ötzi genannt, alle Schachpartien gegen den Tod verliert.
In „Bacchus und ich“ geht es, mit allerlei kunstvollen Abschweifungen, um eine Figurengruppe des französischen Bildhauers Aimé-Jules Dalou, die die „Formzertrümmerung der Kopisten und Futuristen“ vorwegnimmt. Der Icherzähler, im Traum Casanova, weiß nicht, ob er Gott träumt oder Gott ihn.
Ein „Afghanisches Zwischenspiel“ zitiert mit „Jeder liefert jedem Qualität“ einen „Propagandaslogan der untergegangenen DDR“ und bringt Ötzi mit einem amerikanischen Soldaten zusammen, dem angeblich ersten und letzten in Kabul. Dieser Mann in gescheckter Tarnuniform erzählt Geschichten, auf die Münchhausen stolz wäre. Zu Wort kommt auch ein bebrilltes Männchen namens Dr. Dingsda: ein in Geiselhaft geratener Dichter aus Österreich.
„Dr. Dingsda reist nach China“, im nächsten Text, doch nun ist er „vergleichender Toilettenforscher“ und abwechselnd Icherzähler und Figur. Urkomisch umgarnt eine satanische, also dunkelhaarige, Schriftstellerin den in eine Blondine verknallten Dingsda, während sie über Pissrinne und Jauchegrube parliert.
In „Ab die Post!“ fliegt dem Icherzähler ein Quadrocopter zu; die Spritztour kann beginnen, als das Fluggerät einen Versicherungsvertrag ausgedruckt hat.
„ELVIS LEBT ODER DIE STIMME AMERIKAS“ heißt das zweite Buch. Die Texte tragen keine Überschriften und werden durch Sternchen voneinander getrennt. Einmal ist von „Jungen Pionieren der FDJ“ die Rede. Da stutzt ein „gelernter DDR-Bürger“, war doch die „Pionierorganisation Ernst Thälmann“ für Schulkinder nicht identisch mit der „FDJ“, der „Freie Deutsche Jugend“ genannten Jugendorganisation.
Privatdetektiv Nick Knatterton, Hauptfigur einer Comic-Serie vor rund siebzig Jahren, sieht sich als Schriftsteller namens HC Buch, was wiederum ein Pseudonym des Comiczeichners Manfred Schmidt sein mag. Binnen weniger Zeilen mutiert Knatterton von der ersten zur dritten Person. Er will das Stammschloss seiner Familie im ostdeutschen Kyritz an der Knatter aufsuchen, wird von Elvis Presley k. o. geschlagen und gelangt in den Westen Amerikas, ständig von Songtexten des „King“ begleitet. Skurille Zugabe ist eine Version der Entdeckung Amerikas durch einen Mann deutscher Abstammung.
ABTRETENDE ARTISTEN geben dem Dritten Buch den Titel. In „Eismann, kehr wieder!“ ist der 5300 Jahre alte Ötzi, die Mumie von Similaun, der Icherzähler. Gern unterdrückt man alle Skepsis, wenn er von seiner Tätigkeit als Ticketverkäufer im Ötzi-Museum oder vom früheren Leben als Schamane fabuliert.
„Fiesta mexicana“ ist eine detailreiche und psychologisch fundierte historische Skizze zur 1867 geschehenen Gefangennahme und Hinrichtung des Kaisers Maximilian I. von Mexiko, der als Erzherzog von Österreich und nächstjüngerer Bruder des Langzeitkaisers Franz Joseph I. zur Welt gekommen war.
„Erschossen im Morgengrauen“ heißt ein Buch über die „Werwolf“-Schicksale mitteldeutscher Jugendlicher. Der hier (warum nur?) ebenso betitelte Text handelt vom amerikanischen Journalisten John Reed, der die erste kommunistische Partei in seinem Heimatland gründete und mit seinem Buch „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ über die russische Oktoberrevolution berühmt wurde. Reed wurde nicht erschossen, sondern starb kurz vor seinem 33. Geburtstag an Typhus, nachdem er dem Tod mehrfach von der Schippe gesprungen war.
„Ein Stolperstein namens Liane“ ist der erschütternde Bericht über die in Auschwitz im Alter von 16 Jahren ermordete Liane Löwe, eine „durch leidvolle Erfahrungen gereifte Jugendliche“. Wir lesen Briefstellen und erfahren, wie Liane durch Verrat von ihrem Fluchtort an der Atlantikküste in den Tod gelockt wurde.
Um Literatur geht es in „Jeder Greis ist eine Bibliothek“. Dieses die Altersweisheit rühmende afrikanische Sprichwort bleibt unbeachtet, solange Hektik und Hype den Literaturbetrieb bestimmen. Hans Christoph Buch betrachtet auch die eigene literarische Entwicklung kritisch. Abseits vom Schreibtisch schärfte sich in zahlreichen Krisengebieten sein Blick für das Leben und Leiden seiner Mitmenschen. Für ihn gilt darum nicht, was Alexander von Humboldt geißelte: „Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben.“
Ein „Offener Brief an Völker Schlöndorff“ nimmt den großen Regisseur und sein Wissen um Afrika vor absurder Kurzsichtigkeit in Schutz.
„Abspann: Letzte Ausfahrt Haiti“ ist ein Selbstgespräch; es schließt sich der Kreis zum ersten Text. Vor vierzig Jahren erschien H. C. Buchs Haiti-Roman „Die Hochzeit von Port-au-Prince“; das Schicksal der Menschen dieser Insel, auf der einst sein Großvater heimisch wurde, lässt den Autor nicht los.
Im neuen Buch beweist Hans Christoph Buch wieder seine auf sprachlichem und gedanklichem Reichtum beruhende Gestaltungkraft. Er erzeugt Vergnügen, wenn er sich historische oder literarische Figuren kunstvoll anverwandelt, und Ergriffenheit beim betont nüchternen Umgang mit tragischen Themen.
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