Von Wokeismus, Cancel-Culture und ihrem Ende

Andreas Brenner geht dem nach, was Susan Neiman ausgespart hat

Von Rolf ParrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Parr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Philosophinnen und Philosophen scheint das Phänomen „Wokeness“ zurzeit besondere Anziehungskraft zu besitzen. Nach Susan Neimans viel diskutierter Streitschrift Left is not Woke (dt. „Links ≠ woke“), in der sie Grundwerte der Aufklärung wie Universalismus, Gerechtigkeit und Fortschritt gegen die auf ihr Stammesdenken, ihre kollektiven Identitäten fixierten Woken als das bessere und eigentliche Linkssein verteidigt, nun mit Andreas Brenner ein weiterer Philosoph, der sich des Themas annimmt. 

Anders als Neiman, die alles, was mit woker Cancel-Culture selbst zu tun hat, gleich im ersten Satz ihres Essays programmatisch ausklammert, setzt Brenner jedoch genau dort an: beim Furor des Cancelns, wie er sich in vielen Bereichen des öffentlichen und insbesondere kulturellen Lebens in den USA und auch in Europa beobachten lässt. Brenners Ausgangsbefund und zugleich seine Beschreibung des Ist-Zustands des Wokeismus sieht dabei so aus: Zum einen macht „sich unmöglich“, wer nicht genau wahrnimmt, „was zu sagen opportun ist“ und wer nicht „penibel alles vermeide[t], was in der neuen Kultur als geächtet gilt. Um es mit einem Wort zu sagen, man muss in der neuen Kultur des Wokeismus woke sein.“ Zum anderen hat der Wokeismus für Brenner aber seinen Zenit bereits überschritten. Denn indem im Wokeismus „nicht mehr Individuen, sondern kollektive Identitäten, nicht mehr Argumente, sondern Glaubensüberzeugungen“ gelten, unterminiere die neue Kultur ihre eigene Grundlage, weswegen man bereits heute, auf dem Höhepunkt des Wokeismus, von seinem Ende reden könne.

Wozu aber dann noch die philosophische Anstrengung einer mehr als einhundertseitigen Argumentation? Um nicht einfach nur immer wieder mit den Auswirkungen von Cancel-Culture und Wokeismus im eigenen Alltag konfrontiert zu werden, sondern genauer zu verstehen, wie wokes Denken funktioniert, welche durchgängigen Denkmuster ihm zugrunde liegen und welche Gemeinsamkeiten sich in den vielen Einzelfällen von letztlich stets sprachpolitischen Interventionen, auf die Wokeismus und Cancel-Culture hinauslaufen, ausmachen lassen.

Philosophischen Grund legt Brenner zunächst im Rekurs auf Arthur Schopenhauers Ethik und ihren zweiteiligen Leitsatz „Verletze niemanden; vielmehr hilf allen, soweit du kannst“, dessen Innovation darin liegt, eine Unterlassungspflicht um eine positive Leistungspflicht zu ergänzen. Davon ausgehend entwickelt Brenner Überlegungen zu einem Begriff subjektiver Verletzung, wie ihn auch die Cancel-Culture nutzt, in welcher der jeweils „Verletzte seine Verletzung nicht nachweisen“ muss, es vielmehr ausreicht, „dass er sich verletzt fühlt“. Das wiederum erlaubt es dem Wokeismus im Namen eines Kollektivs Partei zu ergreifen, auch stellvertretend, also durch Nichtverletzte, für potenziell Verletzte. Gedroht wird dabei stets mit der sozialen Vernichtung der Täter:

Die woke Schuldzuschreibung bedeutet letztlich den Ausschluss der Schuldigen und wirkt daher wie das Verdammungsurteil einer Jenseitsreligion.

Aus Verletzungen aber entspringt auf Seiten der Täter Schuld. Daher kann Brenner den Wokeismus im dritten Kapitel als „ein großes Schuldsystem“ charakterisieren, das in vielerlei Hinsicht Merkmale einer säkularisierten Religion aufweist (bei mehr als nur latenten Parallelen zum Schuldnarrativ der christlichen Lehre von der Erbsünde): Ebenso wie viele andere Religionen ist nämlich auch der Wokeismus gekennzeichnet durch „eine weitgehend hermetische Lehre, die einen Daseinszweck, ein Ziel, ein geschlossenes Wertesystem samt Sanktionssystem und eine Funktions-Elite hat.“ Im Unterschied zur christlichen Religion – so Brenner – habe der Wokeismus aber kein jenseitiges Heilsversprechen oder zumindest so etwas wie Trost zu bieten. Er könne immer nur neu Schuld in immer neuen Feldern aufdecken, ist daher ein auf permanente Expansion hin angelegtes „Schuldengenerierungssystem.“ Es müssen immer wieder „neue Verletzungen beschrieben werden, die immer neue Opfer und immer neue Täter identifizieren.“ Es ist dieses Basis-Setting, das die ungeheure Dynamik des Wokeismus und seinen Drang zur Expansion erklärt.

Überlegungen wie diese sind es, die die Lektüre von Brenners Buch lohnen und einem manches vielleicht bereits latent Gedachte noch einmal in luzider Klarheit vor Augen stellen. Dazu gehören im Abschnitt über die „Out-Gründe“, also diejenigen, die zur Inkriminierung durch den Wokeismus führen, die Reflexionen zum Thema kulturelle Aneignung. Hier kann Brenner zeigen, dass dem woken Verbot der kulturellen Aneignung gerade kein Kulturbegriff, sondern der juristische des Urheberrechts zugrunde liegt. Kultur wird „in Analogie zum Copy-Right-Konzept“ verstanden.

Steht bei Neiman die Aufklärung am Anfang, so bei Brenner am Ende seines Buches („Aufklärung adé“), was noch einmal nahelegt, beide Bücher zusammen zu lesen. Einig sind sich Neiman und Brenner darin, dass sich Wokeismus und Universalismus wechselseitig ausschließen: „Die Partikularisierung der Welt, welche die Identitätspolitik des Wokeismus betreibt, geht damit zwangsläufig mit der Verabschiedung des Universalismus einher.“ Beginnen sollte man vielleicht mit Brenner, um zunächst das Funktionieren des „Wokeismus“ zu verstehen und dann die „linke“ Position Neimans auf dieser Folie in den Blick zu nehmen. Dazu kann Brenners auf hohem philosophischem Niveau, aber stets gut lesbare, nachvollziehbar argumentierende und bisweilen mit feinsinniger Ironie verfasste Schrift einen sehr viel besseren Beitrag leisten, als es manch langer Feuilletonbeitrag zum Thema in den letzten Jahren getan hat. Wer sich bei dem einen oder anderen Einzel-Wokeismus-Ereignis gefragt hat, „warum denn das“, „warum denn so“, der wird bei Brenner Antworten finden und auch lernen, warum es keine praktischen Anweisungen zum Umgang mit den inzwischen vielen Wokeismen geben kann.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Andreas Brenner: Das Ende des Wokeismus.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2024.
110 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783826087400

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