Leistungsschau der Bücher

Patricia F. Blume legt die Geschichte der Leipziger Buchmesse in der DDR vor

Von Günther FetzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Fetzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es zeugt von feiner Ironie, wenn Patricia F. Blume die Einleitung ihres mit 772 großformatigen Seiten in jeder Hinsicht gewichtigen Werks mit dem Satz eröffnet: „Walter Ulbricht war ein seltener Gast auf der Buchmesse.“ Die Umschlagabbildung, nach den Usancen wissenschaftlichen Publizierens von der Autorin ausgewählt, zeigt eine Szene von der Leipziger Buchmesse 1963. Günther Schmidt, der Verlagsleiter des Kinderbuchverlags, präsentiert Lotte Ulbricht, der Gattin des Staatsratsvorsitzenden, ein Werk wohl aus der neuesten Produktion. Sie betrachtet das Buch amüsiert schmunzelnd. Walter Ulbricht steht mürrisch-uninteressiert daneben. Ein einziges Mal noch ist der Staatsratsvorsitzende im Buch abgebildet, nämlich als er zehn Tage nach dem Einmarsch der sowjetischen Panzer am 21. August 1968 in Prag in Begleitung von Erich Honecker, Willi Stoph und Klaus Gysi den Messestand des Dietz Verlags besuchte. Doch das ganze Buch ist so ernsthaft, seriös, umfassend, vorzüglich recherchiert, ausgiebigst dokumentiert und in einer gut lesbaren Fachprosa geschrieben, wie man sich das für ein wissenschaftliches Werk nur wünschen kann.

In ihrer Dissertation aus dem Jahr 2023 beschreibt Blume die Geschichte der Leipziger Buchmesse von 1946 bis in die 1990er. Die Messe war während der DDR-Zeit immer ein Bestandteil der großen Leipziger Handelsmesse und profitierte einerseits davon, litt aber darunter wohl in noch höherem Maß. Das Buch ist chronologisch in fünf Großkapitel gegliedert, die den „buchmesseimmanenten Zäsuren“ folgen, die sich aus den Wechseln der Ausstellungsorte ergeben. Dabei ist der Zeitabschnitt von 1973 bis 1989 nicht nur der längste, sondern auch der umfangreichste und der mit 40 Unterpunkten am meisten ausdifferenzierte. Diese Kleinteiligkeit der Gliederung ist für die Lektüre von großem Vorteil: Man weiß immer, woran man ist, und muss Zusammenhänge nicht mühsam über das Register erschließen.

Rekonstruiert wird in erster Linie die faktische Geschichte der Leipziger Buchmesse zu Zeiten der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR. Zudem wird die Messe „als Triebfeder des deutsch-deutschen Buchaustauschs“ sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch in der kulturellen Dimension dargestellt. Darauf weist prominent der Untertitel „Literaturtransfer, Buchhandel und Kulturpolitik in deutsch-deutscher Dimension“ hin. Auf beiden Seiten spielen Abgrenzung, Konkurrenz und Kooperation eine wichtige Rolle, wie sich an den wechselhaften und nicht selten konflikthaften Beziehungen zwischen den Börsenvereinen in Ost und West beispielhaft zeigt. Die deutsch-deutschen Buchhandelsbeziehungen ziehen sich leitmotivisch durch das gesamte Buch und werden ausführlich dargestellt; zum einen im Porträt der 1953 gegründeten Firma Buch-Export, die organisatorisch-strukturell für alle Aufgaben im Außenhandel mit Büchern zuständig war, zum anderen durch Interviews mit Agierenden aus bundesrepublikanischen Verlagen und der Presse wie Hans Altenhein, von 1974 bis 1987 Leiter des Luchterhand Verlags, Michael Krüger, zunächst Lektor, ab 1986 Chef des literarischen Teils des Carl Hanser Verlags, Klaus G. Saur, seit 1966 im wissenschaftlichen Verlagsbereich (u. a. seit 1978 mit dem K. G. Saur Verlag) verlegerisch tätig, sowie Wolfgang Werth, der viele Jahre in der Süddeutschen Zeitung über die Leipziger Buchmesse berichtete.

Auch die sehr wichtige Funktion der Messe als „Motor des Buchvertriebssystems“ und damit der Förderung des Binnenhandels in der DDR wird beschrieben. Nicht zuletzt stellt die Autorin die Frage, ob die DDR „die Buchmesse als Plattform der kulturellen Selbstdarstellung für eine öffentlichkeitswirksame Ausstrahlung in die Bundesrepublik“ nutzen konnte und untersucht die Mechanismen parteilicher Steuerung, unter anderem durch ein Interview mit der „Oberzensorin“ Mara Marquardt, der Leiterin der Gutachterkommission der Hauptverwaltung Verlagswesen. Marquardt zensurierte zwischen 1967 und 1988 die Exponate auf der Buchmesse auf ihre „Ausstellungsfähigkeit“. Die Zahl der auf der Buchmesse – als Leistungsschau des DDR-Verlagswesens inszeniert – verbotenen Titel aus der Bundesrepublik und den westlichen Industrieländern erreichte in den Jahren 1971 bis 1973 mit über 300 Büchern den Höhepunkt. Danach nahm die Zahl kontinuierlich ab. Für die Bundesrepublik allein erreichte die „Konjunktur der Messezensur“ 1973 den bei weitem höchsten Punkt. Ausschlaggebend war nicht nur die große Zahl der ausstellenden westdeutschen Verlage, sondern auch „eine Reihe von besonders problematischen Verlagen“ (so der offizielle Bericht über die Exponatenkontrolle), die im Jahr zuvor nicht auf der Buchmesse vertreten waren. Als Problemverlage wurden Rowohlt, S. Fischer, die Europäische Verlagsanstalt und das Verbandssortiment evangelischer und katholischer Buchhändler explizit erwähnt.

Schließlich sind auch die Mechanismen der geheimdienstlichen Kontrolle Gegenstand der Darstellung. Das Fazit ist eindeutig: „Das Interesse der Staatssicherheit an der Buchmesse war allumfassend, der Überwachungsfokus lag aber klar auf den deutsch-deutschen Kontakten.“ Vor allem Journalisten, die die kulturpolitischen Entwicklungen in der DDR über einen langen Zeitraum hinweg mit ihrer Berichterstattung begleiteten, waren Zielobjekt der Stasi. So etwa Konrad Franke, Kulturjournalist beim Bayerischen Rundfunk und Autor des Buchs Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, erschienen 1971 in Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Ihm rückte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) im Jahr darauf mit acht Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) zu Leibe. Sie berichteten an ihre Behörde, sie hätten das Objekt ihrer Beobachtung „weitestgehend unter op. [operativer] Kontrolle“ gehabt und „seine Verbindungen und seine Pläne“ aufklären können.

Innerhalb des skizzierten weiten Fragehorizonts entsteht „weit mehr als eine Sammlung von unterhaltsamen Anekdoten über die Blindbände und den Bücherklau“, aber glücklicherweise erfahren wir auch die Geschichte vom legendären Messemantel, den der Maler Günter Glombitz besessen haben soll: „Das Kleidungsstück war eigens für den Besuch der Buchmesse präpariert und mit zusätzlich eingenähten Innentaschen ausgestattet, um die gestohlenen Bücher unbemerkt verschwinden zu lassen.“

Im kurzen Schlusskapitel wird die Entwicklung nach dem Mauerfall dargestellt: der Wandel zur Publikumsmesse mit dem erfolgreichen Format „Leipzig liest“ in Abgrenzung zur Frankfurter Fachmesse und der räumliche Umzug aus dem Messehaus in der Leipziger Innenstadt auf die Neue Messe. Rückblickend ist die Buchmesse das einzige Segment aus dem Spektrum der Leipziger Handelsmesse, die erfolgreich zu einer Branchenveranstaltung umgebaut werden konnte. 

Für den Rezensenten sind die Passagen über den literarischen Teil des Carl Hanser Verlags aus autobiografischen Gründen interessant. Kenntnisreich greift die Autorin Details des Verlagsprogramms auf und integriert diese in den Rahmen ihrer Untersuchung. Von 1980 bis 1984 besuchte der Rezensent die Frühjahrsmesse als Lektor und Assistent des Verlegers. Nicht nur hat er noch heute den Braunkohlegeruch der Stadt in der Nase, sondern erinnert sich genau an die (An)Spannung beim Standaufbau, welche der vorab aus München nach Leipzig geschickten Titel die Zensur nicht passiert hatten. Und er erinnert sich an die Kordel, die den Messestand des Verlags absperrte und verhinderte, dass zu viele Messebesucher – „Sehleute“ – zeitgleich sich den ausgestellten Büchern nähern konnten.

Der ungemein inhaltsreiche Text wird nicht nur durch Literaturverzeichnis und Register komplettiert, sondern durch 128 Abbildungen, die zeitgenössische Fotos wiedergeben, aber auch andere aufschlussreiche Darstellungen, darunter das von Buch-Export 1969 aufgestellte Netzwerk „Leipziger Messen“, das so unübersichtlich ist, dass es nichts aussagt. Die zahlreichen in die Darstellung integrierten Tabellen begleiten den jeweiligen Text, ergänzt durch drei große Abbildungen im Anhang, darunter die Lieferungen und Bezüge der Bundesrepublik im innerdeutschen Handel. Beeindruckend ist auch die Liste der Archive, die ausgewertet wurden, offizielle Archive wie zum Beispiel das Bundesarchiv oder das Archiv des Börsenvereins in Leipzig ebenso wie etliche Verlags- und Privatarchive.

Nicht nur weil die Geschichte der Leipziger Buchmesse in der DDR historisch abgeschlossen ist, liegt hier ein unüberholbares Buch vor. Der Rezensent weiß nicht, woran er Kritik üben sollte.

Titelbild

Patricia F. Blume: Die Geschichte der Leipziger Buchmesse in der DDR. Literaturtransfer, Buchhandel und Kulturpolitik in deutsch-deutscher Dimension.
De Gruyter, Berlin 2024.
772 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783111315966

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