Worüber Lord Chandos heute klagen würde
Frank Witzel erkundet in „Die fernen Orte des Versagens“ wie Erzählen gelingen kann
Von Miriam Seidler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt Erzählungen, die überzeugen durch ihre sprachliche Finesse, und es gibt Erzählungen, die faszinieren durch ihren ausgefallenen Plot. Wenn beides zusammenkommt, so ist das Lesevergnügen perfekt und der Leser oder die Leserin fragt sich: Wie kommt man auf eine solche Idee? Gerade in Zeiten wie der unseren, in der jeder zweite Roman als Autofiktion angekündigt und das Publikum somit aufgefordert wird, die Spuren des realen Lebens zu finden und zu würdigen, sind Erzählungen mit ausgefallenem Plot selten geworden. Sprühender Ideenreichtum ist daher eine Eigenschaft, die einen Text in der Gegenwart auszeichnet. Die Lust am Fabulieren, am Ausgestalten von fiktiven Szenarien ist dem neuen Erzählungsband von Frank Witzel Die fernen Orte des Versagens anzumerken. Dabei sind die Erzählungen, das muss vorweg schon gesagt werden, keine Lektüre, die sich so nebenbei verschlingen lässt. Vielmehr erwarten die Texte von ihren Leserinnen und Lesern eine gewissen Aufmerksamkeit, die sich auf die Zusammenhänge ebenso einlässt wie auf die vielfältigen literarischen Bezüge. Was Frank Witzel hier präsentiert, sind poetologische Erzählungen, das heißt Texte, die das Erzählen selbst zum Thema machen.
Bereits die erste Geschichte mit dem Titel Von der Arbeit des Verfehlens lässt erkennen, wo Frank Witzel seine Anregung gefunden hat und in welche literarische Tradition er sich einschreibt. In der Nachfolge von Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos beklagt der Briefeschreiber mit dem Namen Philipp, nicht mehr schreiben zu können. Wie bereits Lord Chandos, dem die Worte wie Pilze im Mund zerfallen, gelingt es auch Witzels Erzähler nicht mehr, seine „Erzählstümpfe“ zu einem runden Narrativ zu vervollständigen. Die fiktiven Biographien und die vielfältigen Merkmale, die die Figur zu einer runden Figur machen sollen, die realistisch wirkt, kann das Ich nicht (mehr) in eine Geschichte integrieren, die ihn überzeugt und der Selbstkritik standhält. Dabei führt Witzel anhand der unterschiedlichen in den Text eingebauten Beispiele aus diesen Erzählstümpfen vor, auf welche Art und Weise ein Autor scheitern kann. Mal verliert sich ein Text in einer Überfülle an Details, dann springt er von einer Figur zur nächsten, ohne ein Beziehungsnetz zwischen diesen aufzubauen, mal stehen die Textbausteine mehr oder weniger unverbunden nebeneinander und werden nicht zu einem Erzählstrang verknüpft. Nicht die Worte sind es, die dem Erzähler im Mund zerfallen, sondern die Texte lösen sich in immer kleinere Bausteine auf. Drei bis vier Abschnitte sind sie am Ende nur noch lang und geben lediglich eine Ahnung von der zu erzählenden Geschichte. Dabei durchziehen diese Textbausteine, die thematisch von Gewalt, Mord und Totschlag erzählen und nicht mehr als Inhaltsangaben sind, eine Melancholie, die zunehmend in ihren Bann zieht und verstört.
Den Auslöser für diese Schreibkrise, so beschreibt es zumindest der eloquent schreibende Briefautor, war ein Klappentext auf einem Buch von Thomas Bernhard. Der namenlose Rezensent des Tagesspiegels bezeichnet das Buch als „vielleicht das schönste, das Bernhard geschrieben hat“. Ob nun das Adjektiv schön auf einen Text von Thomas Bernhard anwendbar ist, sei einmal dahingestellt. Es ist vor allem die Relativierung des Superlativs, die Zurücknahme des Lobs noch bevor es ausgesprochen ist, die das schreibende Ich aufbringt. Er zieht einen weiteren Bernhard-Band aus dem Regal, in der Hoffnung, dort einen „nicht vor Blödheit strotzenden“ Satz zum Werk des österreichischen Autors zu finden. Hier wird nun nicht das „Vielleicht-Schönste“ gelobt, sondern unter Bezug auf die Frankfurter Allgemeine Zeitung wird darauf verwiesen, dass Bernhards Text durch „absolute Wahrhaftigkeit“ gekennzeichnet sei, die man von diesem Autor lernen könne. Den Autor in der Schaffenskrise veranlasst dies zu einem kritischen Abgesang auf die Literaturkritik:
Diese absolute Wahrhaftigkeit war natürlich um keinen Deut besser als das Vielleicht-Schönste, sondern verriegelte im Gegenteil den letzten Notausgang auf der Flucht vor diesem Vielleicht-Schönsten, so dass ich mich nun vom Vielleicht-Schönsten und Absolut-Wahrhaftigen eingekesselt fand, wie jemand, der ins Fegefeuer geworfen wird und im Fegefeuer erkennen muss, dass Himmel und Hölle sich nicht unterscheiden, weil sie beide gleichermaßen von dem einzigen Ort entfernt sind, an dem eine Abwehr des Vielleicht-Schönsten und Absolut-Wahrhaftigen möglich gewesen wäre.
Kann es das Ziel eines Schriftstellers sein, sich monate- oder gar jahrelang mit einem Text abzumühen, der dann eine so unreflektierte Rückmeldung erhält? Die Verzweiflung, die Witzel in seinen kaskadenhaften Sätzen auf einmalige Weise zum Ausdruck bringt, steht Bernhards Tiraden in nichts nach. Dieses Beispiel zeigt aber zugleich auf, wie er geschickt inner- wie außerliterarische Bezüge in seine Erzählungen einflicht und damit nicht nur sein eigenes Schreiben, sondern auch den Literaturbetrieb kritisch reflektiert.
Die Schaffenskrise der Figur wird in dieser Bernhard-Episode dadurch verstärkt, dass ihm plötzlich nicht mehr klar ist, warum er eigentlich schreibt. Er hat dabei nicht nur das Ziel aus den Augen verloren, der Brief zeigt auch, wie er sich selbst schreibend zurückerobern möchte, denn
[d]er Literat erscheint wie eine der symbolischen Gestalten aus der antiken Mythologie, die für die Fähigkeit, über alles schreiben zu können, etwas hatte opfern müssen, was sich am Ende als noch wertvoller als das dafür Erhaltene herausstellen würde, nämlich die Fähigkeit, über sich selbst zu sprechen.
Ob und zu welcher Lösung der Briefeschreiber und ehemalige Autor gelangt, sei hier nicht verraten. Es sei nur soviel gesagt: Frank Witzel reflektiert nicht nur Bedingungen und Möglichkeiten des Schreibens, er zeigt dabei auch immer, dass er selbst sein Metier beeindruckend beherrscht.
Diese erste Erzählung des Scheiterns gibt allerdings nicht den Ton vor für das, was folgt – auch wenn sich alle Texte in irgendeiner Art und Weise um das Erzählen drehen. Die vierzehn Erzählungen greifen zwar alle thematisch das Thema Versagen auf, doch in jeder findet Frank Witzel eine andere Note. Ist es der Pilzsammler, der eine Leiche im Wald entdeckt, diese liegen lässt und am Ende der Erzählung selbst tot im Wald liegen wird. Oder der Ich-Erzähler, der an einer Persönlichkeitsstörung leidet und den der erste Ausgang aus seinem Wohnheim in eine tiefe Krise stürzt, von der er sich vielleicht nie mehr erholt. Auch der Jurist, der so sehr von der Gerechtigkeit überzeugt ist, die die Auslegung des Gesetzes zur Folge hat, ist eine besessene Figur. In ihrem inneren Monolog reflektiert diese die Grenzen des Erzählens vor dem Eingang zum Gesetz (um mit dem ebenfalls zitierten Franz Kafka zu sprechen).
An der Grenze zum Surrealismus hingegen steht die Hexenerzählung mit dem bezeichnenden Namen Hekate. Hier zieht Witzel alle Register des mythischen Erzählens. Bereits der Auftakt der Erzählung, in dem der Hund Zerberus eingeführt wird, beweist dies:
Nach zwei Wochen, als die Eingewöhnungszeit vorbei war, holte Hekate Zerberus zum ersten Mal aus dem Keller und führte ihn in den Garten. Kaum hatte sie ihn von der Leine gelassen, trottete er mit leicht benommenem Schritt zu dem brachliegenden Beet. Er blinzelte in die Sonne. Dann durchfuhr ihn ein starkes Zittern. Er bebte am ganzen Körper, und ehe wir uns versahen, hatte er sich in einem starken, beinahe wasserklaren Schwall auf den Boden erbrochen. Langsam ließ das Zittern nach. Seine Pfoten zuckten noch etwas, der Kopf schwang aus. Für einen Moment stand er wie erstarrt, dann trottete er zu Hekate zurück. Sie tätschelte ihn, legte ihm das Halsband wieder an und führte ihn in den Keller zurück. Als ich am nächsten Morgen aus dem Schlafzimmerfenster in den Garten sah, tobte er dort bereits ausgelassen herum. Das Beet, auf das er sich am Vortrag erbrochen hatte, war dicht mit winzigen Sturmhütchen überzogen.
Der Ich-Erzähler befindet sich fortan – wie der Höllenhund Zerberus – an der Grenze zwischen Leben und Tod, ohne diese allerdings selbst zu überschreiten. Seine Frau Hekate, die ihn bereits erfolglos dazu angestiftet hat, seine Eltern zu ermorden, tötet mit dem Saft der Sturmhütchen ihren Vater. Zwar wird Hekate daraufhin verhaftet und vom Erzähler durch die Bäckereiverkäuferin Marlies ersetzt, aber dennoch ist ihre Präsenz nach wie vor zu spüren. Erst mit dem Tod von Zerberus nimmt die Erzählung eine neue, unerwartete Wendung. Die mythologischen Versatzstücke werden von Witzel aufgegriffen und in das Heute übertragen. Die Erzählung, die er daraus entwickelt, überrascht und macht zugleich ratlos. Es ist doch nicht leicht zu entschlüsseln, welche Funktion dem Ich-Erzähler zukommt, was er tatsächlich wahrnimmt und wo seine Phantasie ihm einen Streich spielt. Witzel spielt auf der Klaviatur der Mythen, wodurch es ihm gelingt, die Leser*innen in seinen Bann zu ziehen. Jede Geschichte ist dabei auf ihre je eigene Art und Weise offen gestaltet und gibt den Leser*innen keinen Schlüssel zur Interpretation an die Hand. So stellt sich beim Lesen auch ab und an die Frage, ob es eine Form des Versagens ist, wenn man diesen Geschichten keinen Sinn abringen kann.
Frank Witzel hat einen Erzählungsband vorgelegt, der allen Leseerwartungen zuwiderläuft. Es sind alles bemitleidenswerte Figuren, die er schildert. Sie verbindet ihr Scheitern, ebenso wie ihre eigenwillige Skurrilität. Diese zieht Leserinnen und Leser immer wieder in ihren Bann und stellt sie dabei wiederholt vor die Frage: Wie kommt man auf einen solchen Plot?
Der Satz: „Wenn etwas aus diesem Werk zu lernen wäre, dann ist es eine absolute Wahrhaftigkeit.“ findet sich bezeichnenderweise auf dem ersten Teil von Thomas Bernhards Autobiographie Die Ursache. Eine Andeutung (den Band mit dem ersten Kritikerzitat habe ich leider nicht in meinem Bücherregal, bin mir aber sicher, dass er auch einen Bernhard-Band ziert). Ein Glück, dass Frank Witzel aus seinen „Erzählstümpfen“ den vorliegenden Erzählband komponiert hat.
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