Unterschätze nie das Personal
In Alex Hays Romandebüt „Mayfair House“ kommt die Gefahr aus dem Dienstbotentrakt
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit Wilhelm de Vries ist im Alter von 55 Jahren kein armer Mann gestorben. Seine siebenstöckige Prachtvilla an der Londoner Parklane ist bis unters Dach angefüllt mit Reichtümern: „atemberaubende van Dycks, kolossale Kristallschalen, […]. Kunstgegenstände aus Gold, Silber und Jade, Putten mit Augen aus Rubinen, […] Bakkarat-Tische aus Elfenbein und Nussbaum, rosa- und onyxfarbene Flamingos vor den Bädern.“ Der Mann, der unter seinem echten Namen Danny O’Flynn im früheren Leben ein kleiner Gauner war, zählt inzwischen zur High Society des Königreichs und niemand fragt mehr danach, wie er zu seinen Schätzen kam. Allein in den Himmel – im Falle von de Vries wohl eher die Hölle – kann auch er nichts mitnehmen von all dem Angehäuften. Und so schmiedet die nach seinem Tod entlassene Haushälterin Mrs. King alsbald einen raffinierten Plan.
Alex Hay (Jahrgang 1987) wuchs in London, Cambridge und Cardiff auf, studierte Geschichte an der Universität von York und promovierte über weibliche Macht an königlichen Höfen. Mayfair House ist sein erster Roman. Der Verehrer der Werke von Kate Atkinson, Ruth Rendell und Donna Tartt erhielt dafür den Caledonia Novel Award 2022. Die englischsprachige Presse verglich sein Buch mit Fernsehserien wie Downton Abbey und Bridgerton. Der Plot erinnerte viele Kritiker zudem an Ocean’s 8, die US-amerikanische Filmkomödie aus dem Jahr 2018, in der eine Gruppe von Frauen den Plan schmiedet, ein 150 Millionen Dollar teures Diamanten-Collier zu stehlen.
In Mayfair House plant Dinah King einen Coup, gegenüber dem der von Debbie Ocean – im oben erwähnten Film von Sandra Bullock verkörpert – inszenierte Raub nachgerade wie ein Gesellenstück gegenüber einem Meisterwerk erscheint. Denn nicht auf einzelne wertvolle Dinge sind Mrs. King und die von ihr rekrutierte Crew aus, sondern auf das Ganze. Just an dem Tag, an dem die ihre Trauerverpflichtungen nicht ganz so ernstnehmende Tochter des verblichenen Wilhelm de Vries einen rauschenden Ball veranstalten will, um endlich einem Mann näherzukommen, mit dem gemeinsam sie in die oberen Ränge der Londoner Gesellschaft der Belle Epoque aufzusteigen hofft, will man sie um ihren gesamten Besitz erleichtern. Nicht eine einzige Zuckerzange soll am Tag danach in dem komplett leer geräumten Gebäude mehr zu finden sein.
Um diesen Masterplan in die Tat umzusetzen, braucht es natürlich vor allem Geld und verlässliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Da aber auch die gelegentlich recht barsch gegenüber ihren Mitstreiterinnen auftretende Mrs. King einen ähnlichen Background besitzt wie ihr verstorbener Arbeitgeber – mit dem sie, wie Leser und Leserinnen später erfahren, noch ganz andere Bande verbinden als nur die dienstlichen –, hat sie überaus schnell eine schlagkräftige Truppe um sich versammelt.
Zu Letzterer gehören ein obskures, luftakrobatisch versiertes Schwesternpaar, eine Schauspielerin ohne festes Engagement, Mrs. Kings Vorgängerin im Hause de Vries, ihre eigene hochverschuldete Schwester Alice, die sich vor ihren Gläubigern verstecken muss, und zahlreiche kräftige, für den Abtransport der geraubten Güter verantwortliche Männer. Das Geld, mit dem alle anfallenden Vorauskosten bestritten werden können, kommt von Mrs. Bone, einer Heroine der Londoner Unterwelt und Schwester des Mannes, der es mit dem Handel von geraubten Diamanten vom kleinen Gauner aus dem Londoner Eastend zum steinreichen Bewohner der Villa an der Parklane und Besitzer diverser anderer Schätze gebracht hat. So bleibt unterm Strich vieles sozusagen in der Familie.
Mayfair House spielt – bis auf ein letztes Kapitel, das 12 Monate nach dem geschilderten Raub angesiedelt ist – 1905. Das ist nicht nur das Jahr, in dem sich der Chelsea Football Club gründete, sondern in dem auch zum ersten Mal die von Emmeline Pankhurst angeführten Suffragetten öffentlich protestierten und in Dublin der irische Nationalist Arthur Griffith Sinn Féin als politische Partei, deren Ziel die Unabhängigkeit Irlands war, gründete. Leider hat es der promovierte Historiker Alex Hay versäumt, mit diesen oder ähnlichen Ereignissen seinem kleinen Gaunerstück einen historischen Hintergrund zu verleihen.
Allein in der nachgestellten Anmerkung des Autors findet die Suffragettenbewegung kurz Erwähnung. Sie in den Text, der ja ein von ebenso intelligenten wie abgefeimten Frauen geplantes und durchgeführtes Gaunerstück beschreibt, einzubauen, hätte die Geschichte nicht nur lebendiger gemacht, sondern auch ein glaubwürdiges Gegengewicht gegen all die kleinen Dinge gebildet, die einem beim Lesen als nicht unbedingt plausibel erscheinen. Ein Flaschenzug, um die schweren Möbel aus den oberen Stockwerken abzuseilen, während ein paar Etagen tiefer die Musik zum Tanz aufspielt? Dutzende von starken Männern, die, unbemerkt von der Hausherrin und den ihr Ergebenen aus dem Personal, unterm Dach logieren und auf ihren Einsatz warten? Eine zwar schöne, aber im Grunde nicht unbedingt helle Aktrice, die früher als Küchenmagd im Hause de Vries arbeitete und nun ihresgleichen schult, um die hinterrücks ausgeladenen Angehörigen des Londoner Geld- und Geburtsadels zu ersetzen? Man braucht gelegentlich eine Menge Wohlwollen, um Alex Hay all dies abzunehmen.
Allein am Ende gelingt der dreiste Streich. Und das trotz einiger Hindernisse, denen sich die zweite Hälfte des Buches widmet. Da tauchen plötzlich leibhaftige Adlige in der Parklane auf und bringen Mrs. Kings geniale Choreographie gehörig durcheinander. Was das Erbe des verblichenen Danny O’Flynn alias Wilhelm de Vries betrifft, erwartet Miss de Vries eine böse Überraschung, die auch ihre Chancen auf dem Londoner Heiratsmarkt letztendlich minimiert. Und warum zu Lebzeiten des Hausherrn in schöner Regelmäßigkeit angestellte junge Mädchen plötzlich aus dem Dienst schieden, dürfte nicht nur deren Familien, sondern auch die Polizei interessieren.
Übrigens hat Alex Hay in einem Interview verraten, dass ein zweiter Roman, der in derselben Zeit, aber mit anderem Personal und einem neuen heimtückischen Plan spielt, bereits fertig geschrieben ist. Auf Sätze wie „Männer ergossen sich über die Mauern.“ wird er darin hoffentlich verzichten. Denn von dieser Sorte Poesie gibt es in Mayfair House bereits genug.
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