Ich bin ein Kind, holt mich hier raus!

Thomas Oláhs Debütroman „Doppler“ ist ein faszinierender Abgesang auf die österreichische Provinz

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alles beginnt mit einem Autounfall. Die Boccia-Kugeln fliegen durchs Innere des Gefährts. Die Mutter versucht ihre beiden Kinder hinter die Sitze zu retten. Der Abgrund neben der Fahrbahn ist tief. Aus der Perspektive des älteren der beiden im Auto befindlichen Jungen wird erzählt. Die distanzierte Kinderperspektive ermöglicht es, den Schrecken des Moments durch tragikomische Beschreibungen zu verfremden, dabei ahnen die Leser:innen, dass es knapp ist für die vierköpfige Familie. Wie schwer die Verletzungen der einzelnen Familienmitglieder sind, wird nicht wirklich deutlich, da lediglich aus den Gesprächen, die der Junge belauscht, Rückschlüsse auf den Zustand der Erwachsenen möglich sind. Zu vermuten ist: Die von den Boccia-Kugeln am Kopf getroffene Mutter ist am stärksten von den Auswirkungen des Unfalls betroffen, der Vater muss sich um den jüngsten Sohn kümmern und der namenlose Junge, aus dessen Augen wir die Erzählung erleben, wird – nachdem er auf der einem Gefängnis ähnelnden Kinderstation des Krankenhauses seine Gehirnerschütterung auskuriert hat – zu den Großeltern aufs Land geschickt. Im Rückblick auf die Zeit im Krankenhaus formuliert die Figur sehr eindrücklich ihren Seelenzustand, an dem sich die nächsten Wochen wenig ändern wird:

Ich weiß nicht, wie viele Tage ich dort schon zubringe, was es zu essen gibt, ob je ein Arzt nach mir sieht. Ich bin gestrandet, weiß nicht weiter und will nur weg. Was ich nicht ahne: dass dies das mich bestimmende Gefühl bleiben sollte, für lange Zeit.

Bei Vater und Mutter, wie die Großeltern von der ganzen Familie genannt werden, fühlt sich der Junge nicht wohl. Was ein verlängerter Ferienaufenthalt bei den Verwandten werden könnte, schildert Thomas Oláh als einen Ausflug in ein ländliches Gruselkabinett: Abgeholt wird er von dem „Onkel mit dem wilden Auge“, spielen wird er mit den „enthusiastischen Cousins“, die sich vor ihrem Vater, dem „grausamen Onkel“ fürchten, und wenn die Großeltern ausgehen, bleibt er alleine mit der „kindischen Tante“, einer Epileptikerin, deren Anfälle der Junge nicht einordnen kann. Einen Eigennamen trägt kaum eine der Figuren im Roman, weshalb schnell deutlich wird, dass es Oláh um eine metaphorische Erzählung geht. Hier wird mit dem Österreich der Kindheit – angesiedelt in den frühen 1970er Jahren – abgerechnet. Ein beliebtes literarisches Sujet. Anders als in den autobiographischen Schriften Thomas Bernhards arbeitet Oláh in seinem nicht weniger bissigen Text mit Verfremdungen, die bewusst auf jeglichen biographischen Bezug verzichten.

Das Leben auf dem Land, so könnte man zusammenfassen, ist von Gewalt geprägt. Damit ist nicht der atmosphärisch dicht beschriebene Schlachttag gemeint, der damit endet, dass gemeinsam das Schweinsherz verspeist wird, sondern der Umgang der Menschen miteinander, der, selbst wenn die Absichten gut sind, den Leser:innen die Haare zu Berge stehen lassen. Am eindrucksvollsten beschreibt Oláh dies am Beispiel der spielenden Jungen.

[M]it einem halbseitigen Grinsen kommt Herla auf mich, den Dritten im Bunde, zu. Für Flucht ist es zu spät, schon hat er den Arm um meinen Hals gelegt und drückt mich nach unten: „Warum das überhaupt Schwitzkasten heißt?“

Eigentlich ist Finger-Umbiegen seine bevorzugte Tortur. Dabei fasst er das auserwählte Opfer am Unterarm, mit der anderen Hand ergreift er den Daumen und biegt ihn mit etwas Schwung, um den Widerstand von Sehnen und Gelenkkapsel leichter zu überwinden, nach unten, bis der Daumen an der Elle des Unterarms anliegt. Das geht schnell, bereitet große Schmerzen und sieht nach Unfall aus. […]

So gesehen habe ich ja durchaus Glück, im Schwitzkasten zu sein, auch wenn sich das Blut in meinem Kopf staut und der Druck hinter den Augen steigt.

„Jetzt machen wir ihn auf. Und schauen hinein in den Großstadt-Schädel. Arla, bring‘ mir einen Stein, einen spitzen, ich hack‘ ihn auf, den Bubikopf.“

Die Konsequenz, die der intellektuell überlegene Junge aus der Stadt aus dieser Situation zieht: Man darf den beiden „enthusiastischen Cousins“ nie den Rücken zukehren und muss sie immer mit irgendetwas beschäftigen. Aus diesem Projekt ergeben sich im Folgenden großartige Beschreibungen von Jungenstreichen: Ob sie sich zum Ziel gesetzt haben, herauszufinden, ob Hochwürden unter seinem Talar eine Hose trägt oder ob sie versuchen mit geklauten Fahrrädern oder dem Traktor des Großvaters aus dem Dorf zu fliehen, die zwischen Witz und Tragik changierenden Erzählungen zeugen nicht nur von dem immensen erzählerischen Talent des Autors Thomas Oláh, sondern auch von einem enormen Sprachgefühl und einem hervorragenden Gespür für die Sorgen und Nöte dieser Kinder, die mit einer wahrlich beängstigenden Phantasie ausgemalt werden.

Neben den Fluchtversuchen der Jungen dreht sich ein weiterer Handlungsstrang um den namensgebenden Doppler. Hierbei handelt es sich nicht um den österreichischen Mathematiker und Physikers Christian Doppler, der allerdings wie andere Wissenschaftler und Erfinder des 19. Jahrhunderts in als Zwischenspielen komponierten Kapiteln zu Wort kommt, sondern um eine zwei Liter Alkohol fassende Flasche. Der Doppler steht mit einem durchdringenden Zwetschgengeruch schon auf dem Frühstückstisch der Großeltern und der Enkel wird folgerichtig im Lauf seines Aufenthaltes bei den Großeltern in das Mysterium des selbst produzierten Weines eingeführt:

Vater lockert die Fingerkuppe an der unteren Öffnung des Tupfers und lässt blassgelbgrünen Wein über seine von der Welt ringsum mit schwarzgrauen Furchen gezeichneten Finger in die Gläser rinnen. Er schiebt eines in meine Richtung, ich nehme die Herausforderung an, ergreife das Stifterl, wir blicken uns nicht an, doch sehe ich aus dem Augenwinkel, was Vater tut, und dem folge ich: Glas an den Mund, Lippen auf, nicht trinken, sondern einatmen, den Wein durch den Luftzug in Bewegung bringen und schließlich ein wenig davon einschlürfen, möglichst gut hörbar. Glas absetzen. Laute Schmatzgeräusche produzieren, kauen. Endlich schlucken, Glas abstellen, Lippen aufeinanderpressen und bedeutungsvoll Nicken. Auf keinen Fall jetzt etwas sagen, nein, gedanklich ganz bei der Sache bleiben, vor sich hinblicken, auf einen imaginierten Punkt irgendwo auf dem Boden. Zurück bleibt ein säuerliches Ziehen am Gaumen. Und die Erkenntnis, Wein schmeckt nicht nach Trauben. So war mein erstes Mal.

Solch kleine Miniaturen enthält der Roman viele. Sie sind wie Musikstücke komponiert. Hier entwickelt der Roman einen unglaublichen Sog. Das sprachliche Stakkato steht im Widerspruch zu der stillen Szene, die den Enkel ganz in der Imitation des Großvaters zeigt. Die mystisch-religiöse Dimension der Beschreibung steht im Gegensatz zur profanen Handlung des Weinkostens, die aufgrund der täglichen Wiederholung ihre Einmaligkeit verliert. Dass hier zudem am Ende explizit eine Erkenntnis formuliert wird, zeigt, wie sehr die Dorfbevölkerung auf die sinnliche Wahrnehmung fokussiert ist. Wissen wird hier über den Körper und nicht intellektuell erworben. Das hier eingeübte Prozedere ist natürlich nur der erste Schritt zur Einführung in die Welt der Genüsse. Der zweite Schritt besteht dann darin, im Exzess mitzuhalten und trinkfest zu werden.

Oláh bleibt aber nicht auf der Ebene der kritischen Reflexion der zerstörerischen Verflechtung von Landleben, Familienbeziehungen und Alkoholkonsum stehen. Sein Roman erhält zunehmend eine historische Dimension, wenn in Rückblenden die Erfahrungen der letzten Kriegstage erzählt werden. Sie sollen wohl weniger dazu dienen, eine psychische Herleitung der trostlosen Verhältnisse zu ermöglichen als vielmehr darauf verweisen, dass nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint:

Was aber lebt hinter den Objekten? Das sind harte Brocken für den kindlichen Geist. Wer auch immer den Spruch prägte, es würde grundsätzlich nur darum gehen, die richtigen Fragen zu stellen, hat offensichtlich noch nicht so richtig die irritierende Ratlosigkeit bei fehlenden Antworten erfahren. Es muss eine Erklärung für die Rätselhaftigkeit der Menschen hier und ihre Gepflogenheiten geben. Wein dürfte dabei jedenfalls eine wesentliche Rolle spielen.

Und so sind die Leser:innen aufgefordert, hinter den Text zu blicken und sich einen Reim auf dieses beeindruckende Romandebüt zu machen.

Titelbild

Thomas Oláh: Doppler. Roman.
Müry Salzmann Verlag, Salzburg 2023.
224 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783990142394

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