Nach 100 Jahren bleibt die Wirkung von Franz Kafkas Werken ungebrochen
Die Anthologie „Kafka gelesen“ versammelt Beiträge von 27 renommierten Autor*innen
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn seiner Satiresammlung Lieblose Legenden (1952) hatte Wolfgang Hildesheimer eine Kurzgeschichte mit dem Titel Ich schreibe kein Buch über Kafka aufgenommen. Dabei hatte er sich – „wie schließlich jeder sensible Intellektuelle“ – mit dem Gedanken getragen, doch über Kafka zu schreiben. Allein der Umstand, dass seine „sämtlichen Bekannten bereits an einem Buch über Kafka schrieben“, hatte ihn schließlich von seinem Vorhaben abgehalten.
Bis heute hat das Schreiben und Denken über Franz Kafka kein Ende genommen und es wird wohl auch nicht enden. Kafkas Werke verführen stets zur persönlichen Interpretation. Wer Kafka versucht zu deuten, hinterfragt meist sich selbst. Zum 100. Todestag von Franz Kafka äußern sich nun 27 deutschsprachige und internationale Autor*innen und Künstler*innen über das, was in ihren Augen das Überzeitliche, das drängend Aktuelle des Jahrhundertschriftstellers ausmacht. Die Anthologie Kafka gelesen versammelt eine Vielzahl an Aspekten für gegenwärtige, individuelle Deutungen. Teilweise sind es anekdotische Geschichten über Erfahrungen von Kafka-Lektüren, prägende Erkenntnisse mit einzelnen Werken oder persönliche Lesarten von rätselhaften Motiven und Sätzen.
In der Auftaktgeschichte Ein Irrtum, den ich Kafka verdanke erinnert sich der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß ausgerechnet in einem steckengebliebenen und stockdunklen Lift an den 16. Aphorismus Ein Käfig ging einen Vogel suchen, den er in der Vergangenheit gelegentlich in kleinerer oder größerer Runde zum Besten gab. Ein Satz, der zum Nachdenken anregt, in welcher Art Käfig sich jeder von uns befindet. Ulf Erdmann Ziegler war mit Kafka auf einer Lesereise unterwegs in Oklahoma und Marcel Beyer beweist, dass man Kafka auch in einem Baumarkt begegnen kann. Der Norweger Jon Fosse erzählt von seinen Erfahrungen, Kafka zu übersetzen, und der Erkenntnis, dass Kafka ein „so starker Schriftsteller bleibt, egal in welcher Sprache“.
Michael Kumpfmüller berichtet von seiner jugendlichen Begeisterung für Kafka und seinen ersten eigenen Schreibanfängen. Der Schriftsteller und Musiker hat ebenfalls schon mehrfach über Kafka publiziert, u.a. den biografischen Kafka-Roman Die Herrlichkeit des Lebens (2011). In seinem Beitrag widmet er sich ausführlich den unterschiedlichen Schlussvarianten der Erzählung In der Strafkolonie (1919), die Kafkas Tagebüchern entnommen wurden.
Für den Übersetzer und Schriftsteller Clemens J. Setz ist Kafkas kurze Erzählung Die Sorge des Hausvaters (1919) so etwas wie ein „heiliger Text“, der mit dem Wesen Odradek ein Musterbeispiel für Kafkas bildnerische Gestaltung geistiger, also unsichtbarer Inhalte und Probleme ist. Auch für die gebürtige Rumänin Dana Grigorcea, die mit ihrer Familie in Zürich lebt, war Franz Kafka ein frühes Lektüreerlebnis. Sie las sich durch die zerlesenen Kafka-Ausgaben ihrer örtlichen Bibliothek. Später, während ihres Philologiestudiums, entdeckte sie Kafkas Tagebücher, die die passende Anregung für die angehende Schriftstellerin waren. Die Leipziger Schriftstellerin Isabelle Lehn schätzt ebenfalls Kafkas Tagebücher. Mit Selbstironie konnte er hier auf Distanz gehen und die Welt wie ein Fremder betrachten. In den Tagebüchern funktionierte das „Ich“ als Akt der Entfremdung, zumal „die Tagebucheinträge bewusst literarisch gestaltet sind und in dem Bewusstsein geschrieben wurden, dass er im Freundeskreis gelegentlich daraus vorlesen würde.“
Die Beiträge mit ihren Lektüren, Einsichten und Erfahrungen veranschaulichen die unterschiedlichen Sichtweisen und zeigen, dass Kafkas Werke bis in unsere Gegenwart nichts an Aktualität und Wirkung eingebüßt haben und für Schreibende von heute immer noch einen Fixpunkt darstellen. Sie versprühen den Reiz eines einhundert Jahre währenden Rätsels, das sicher auch in Zukunft modern bleiben wird.
Neben den Textbeiträgen wird die Neuerscheinung durch zwei Bildstrecken (Spaziergänge von Zürau nach Oberklee bei Tag und bei Nacht) des österreichischen Illustrators Christian Thanhäuser ergänzt. Im Anhang finden sich dann die Kurzbiografien der Autor*innen.
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