Kein friedliches Land
Ein Buch zur Unzeit? Lavie Tidhars Thriller „Maror“ über ein Land, das seinen Frieden sucht
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt Bücher zur Unzeit, die gerade rechtzeitig kommen. Während der Feldzug Israels im Gaza-Streifen als Reaktion auf den Angriff der Hamas die Öffentlichkeit zu extremen Positionierungen treibt, die gegenseitigen Vorwürfe eskalieren, die eine Seite der anderen jeweils das Existenzrecht abspricht und eine Lösung des Nahostkonflikts immer unwahrscheinlicher wird, erscheint bei Suhrkamp ein Thriller des in London lebenden israelischen Autors Lavie Tidhar. Sein Thema: Israel. Sein Titel: „Maror“ – die bitteren Kräuter, die am Beginn des Festes zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten verzehrt werden. Die Bitterkeit, die nie vergehen darf, weil die Erinnerung an die Sklaverei nie vergehen darf. Ein deutliches Signal in Zeiten, in denen der Nahostkonflikt auch unter postkolonialen Vorzeichen gelesen wird. Freilich eben auch eins, das auf diesen Text zurückverweist, in dem Israel selbst Ausgang von Leid, von Schmerz, von Gewalt und Verbrechen ist.
Dabei kommt es Lavie Thidar kaum auf einen stringenten Plot an: Die Ereignisse, die in diesem Text geschildert werden, finden grob zwischen 1970 und 2010 statt, werden in 74 Abschnitte und 18 Kapitel unterteilt, die jeweils einzelnen Protagonisten gewidmet sind. Im Zentrum der Geschehnisse, als ihre mehr oder weniger offene zentrale Figur, steht ein Polizist namens Cohen, der durch diese knapp vierzig Jahre israelischer Geschichte(n) führt.
Und diese Dekaden sind nicht von klaren Fronten oder eindeutigen Verhältnissen geprägt, sondern von kaum entwirrbaren Interessensphären. Sicher, die Ermittlungen zu einem Vergewaltigungsfall, der wohl zu einer Serie von tödlich verlaufenden Fällen gehört, ziehen sich mehr oder weniger durch den gesamten Text: Anfangs sind es junge Polizisten, die wissen, dass sie einen Falschen festnageln und ihm ein Geständnis abzwingen, weil sie nun einmal einen Erfolg brauchen. Aber es ist Cohen als alter Polizist, der den einzigen plausiblen Verdächtigen, gegen den es keine Beweise gibt, anscheinend umbringt. Er ist nicht das Gesetz, sondern die personifizierte Rache.
Aber Cohen geht darin nicht auf, wie auch die Ausleger der Handlung im Libanon, im Drogenmilieu, in den USA oder in Südamerika nicht in ein rein kriminelles Schema oder das von Rache oder eben von kriminellen Politikern aufgeht, die ihre Interessen mit denen ihres Landes untrennbar verbunden haben. Den Krieg im Libanon dazu zu nutzen, Drogen ins Land zu schmuggeln: Hier überkreuzen sich Interessen, offensichtlich. Die Drogenkartelle Südamerikas mit Waffen und Knowhow auszustatten, zeugt nicht von einer moralisch geprägten Weltsicht, sondern von dem Willen, globale Krisen im eigenen Sinne zu nutzen. Und die Ausbilder, die dabei eingesetzt werden, hinterher zu entsorgen, demonstriert, dass die Akteure wissen, dass sie Unrecht tun.
Israelische Ex-Militärs, die einen blühenden Drogenhandel mit den USA aufbauen und dort eine eigene Mobster-Organisation aufbauen, die dann von israelischen Ermittlern geschützt wird: Die enge Bindung beider Länder hat in der öffentlichen Wahrnehmung meist einen anderen Charakter. Kriegshelden, die eine aggressive Siedlungspolitik verfolgen, Land aufkaufen lassen, um sich am Handel zu bereichern, und sich an allem Weiblichen vergreifen, was nicht schnell genug auf Distanz ist: Man wird das als männliches Machtgebaren abtun können, oder eben als Ausdruck einer Gesellschaft, die Gewalt unterworfen ist und selbst Quell von Gewalt ist.
Israel ist in Lavie Tidhars Roman kein gelobtes Land, sondern ein unfriedliches, in dem Gewalt auch gegen die eigenen Leute eine bittere Gewohnheit ist. Politik und Verbrechen sind hier eng verwoben. Dieses Bild stößt sich mit dem eines Landes, das selbst unter der ständigen Bedrohung, in der es lebt und die von ihm eben auch ausgeht, versucht, einigermaßen zivil und friedlich zu sein. Wenn die Assoziationen, die vom Titel des Romans angestoßen werden, ernst genommen werden sollen, dann sind die Zeiten der Gefangenschaft eben nicht vergangen. Keine Tat, keine Gewalt, keine Simulation eines friedlichen Lebens kann sie aufheben. Obwohl es dazu keine Alternative gibt.
Dieses Bild Israels ist auf der Folie der jüngeren Ereignisse verfänglich, lädt zu Urteilen ein, verstört sie zugleich, und ist doch vor allem als Auftrag zu verstehen, sich mit dem, was geschehen ist, nicht zufrieden zu geben.
PS: Eine paar Sätze noch zu Stil und Übersetzung: Die Übersetzung scheint unter Druck entstanden zu sein, woher sich einige Ungelenkheiten zu Beginn erklären. Man muss sich nicht nur in den Stil einlesen, man muss auch über einige Wendungen hinwegsehen. Und notabene: das Mädchen mag eine weibliche Person sein, das Wort aber ist sächlich, also kein Mädchen, die …
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