Das Mädchen und der Revolutionär
In Michael Köhlmeiers Roman „Das Philosophenschiff“ begegnen sich eine 14-Jährige und der Führer der russischen Revolution an Bord eines Schiffes
Von Dietmar Jacobsen
Woher nehmen Schriftsteller die Geschichten, die sie erzählen? Im Falle von Michael Köhlmeier (Jahrgang 1949) wohl hauptsächlich aus drei Quellen: dem großen Fundus bereits existierenden Erzählguts, dem eigenen Erleben und, wie im Falle seines aktuellen Romans Das Philosophenschiff, aus den Erlebnissen anderer, mit denen man – rein zufällig oder wie in diesem Fall gezielt herbeigeführt – zusammenkommt.
Jene hundertjährige Professorin Anouk Perleman-Jacob nämlich, die den Schriftsteller zu ihrer Jubiläumsfeier nach Wien einlädt, damit er auf der vom Österreichischen Ingenieur- und Architektenverein zur Ehrung einer seiner ältesten und bekanntesten Angehörigen ausgerichteten Festivität seine Version der Dädalus-Geschichte, derem Helden er eine Vergangenheit eben als Architekt angedichtet hatte, zum Besten gibt, hat dabei noch einen Hintergedanken gehabt. Denn zwei eher schwache Biographien, die bereits über sie und ihr Leben geschrieben wurden, enthalten nicht das, was nach Meinung der alten Dame unbedingt noch gesagt werden muss. Und wer, wenn nicht „ein Schriftsteller, dem man nicht glaubt, was er schreibt“, ein, wie Perleman-Jacob gehört hat, „etwas windig[er]“ Vertreter seiner Zunft, wäre besser für diese Aufgabe geeignet.
Also verzichtet der Autor darauf, Wien am Tag nach seinem – letzten Endes gar nicht zustande gekommenen – Auftritt als Gastredner schnell wieder in Richtung seines Zuhauses in Vorarlberg zu verlassen, und nimmt sich die Zeit, einer Geschichte zuzuhören, die ihm die alte Dame portionsweise an den folgenden Tagen erzählt. Es ist die Geschichte der Exilierung ihrer Familie im Zuge der Operation „Philosophenschiff“, eine „unerhörte Begebenheit“, wie sie nach Goethe kennzeichnend für das literarische Genre der Novelle ist.
Mit einem Schlag waren in den Monaten September und November 1922 auf Anordnung Lenins Hunderte von Intellektuellen mit zwei Schiffen, aber auch auf dem Landweg außer Landes gebracht worden. Als einen Fall von „vorausschauender Humanität“ hat der zu diesem Zeitpunkt mit Lenin noch nicht zerstrittene Leo Trotzki diese Aktion damals bezeichnet. Denn durch sie würde verhindert werden, dass man die von der Exilierung betroffenen Wissenschaftler, Schriftsteller, Ärzte und Journalisten zu einem späteren Zeitpunkt wahrscheinlich erschießen müsse.
Freilich haftet der Vertreibung der Familie der 1922 gerade einmal 14-jährigen Anouk Jacob – der Vater Professor für Architektur in St. Petersburg, die Mutter promovierte Biologin – von vornherein etwas Merkwürdiges an. Denn die drei Personen werden mit wenigen anderen Exilanten auf ein drittes Schiff gebracht, ein Schiff, von dem die Historie nichts weiß.
Dass es kein maroder Seelenverkäufer ist, sondern ein schwimmendes Prachtstück, ja das „vornehmste Schiff im Hafen von Sankt Petersburg“ überhaupt, macht die Sache noch geheimnisvoller. Und die Fahrt, die Anouk mit ihren Eltern und den wenigen anderen Passagieren in den Kabinen der 3. Klasse verbringen muss, ohne Zugang zu den oberen Decks zu bekommen, endet bereits nach kurzer Zeit „mitten auf dem Finnischen Meerbusen“.
Dort wartet man schließlich fünf lange Tage darauf, dass ein letzter Passagier noch an Bord gebracht wird. Dass es der nach einer Reihe von Schlaganfällen im Rollstuhl sitzende Lenin selbst ist, ahnt man zwei Decks tiefer nicht. Nur das Mädchen Anouk, dass die Nächte nutzt, um auch jene Ecken auf dem Schiff zu erkunden, die ihr eigentlich verboten sind, begegnet nach einer waghalsigen Klettertour auf das Oberdeck dem „mongolisch dreinschauende[n], ernste[n] Mann mit vielen Gedanken hinter der Stirn“. Er liest in einem Exemplar von Jack Londons Roman Der Ruf der Wildnis: „Die Augen hohl und groß. Knebelbart und Schnauzer, Ohrenschützer. Haut und Knochen. Eingehüllt in mehrere Decken.“
Zwischen dem jungen Mädchen und dem todkranken Revolutionsführer entspinnt sich in den darauffolgenden Nächten ein Gespräch, das, nachdem es die unterschiedlichsten Materien berührt hat, auf eine Frage hinausläuft, nämlich jene der Macht. Und obwohl das Mädchen nicht unbedingt wissen will, was der unheimliche Mann im Rollstuhl unter Macht versteht, macht er ihr schließlich unmissverständlich klar, dass es sich bei den geläufigen Erklärungen von Philosophen, Politikern und Literaten, Macht sei da, um zu gestalten, das Richtige zu tun oder ganze Staaten in eine glücklichere Zukunft zu steuern, lediglich um Ausreden handele. Denn im Grunde, so Lenin, gäbe es nur eine Macht:
„Die Macht zu töten. Von ihr leitet sich alle andere Macht ab. Die Macht, über ein Leben zu entscheiden. Ob ja oder nein. Über tausend Leben zu entscheiden. Ja oder nein. Wie wenig ein Leben wert sei, wisse man erst, wenn man tausend ausgelöscht habe.“
Es ist die Logik einer ideologischen Radikalisierung, die ab einem bestimmten Moment demjenigen, der einst angetreten war, das Leben aller Menschen in seinem Wirkungskreis zu verbessern, um sich herum nur noch Feinde wahrnehmen lässt. Feinde, die es, je näher sie ihm einst standen, umso unbarmherziger zu eliminieren galt. Dass es der in seine Ideologie verrannte Mann selbst ist, der am Ende des Romans zum nächsten – und beileibe nicht letzten, die Reihe ließe sich mühelos bis in unsere Tage fortführen und Köhlmeier baut in seinen Roman zwei weitere Beispiele ein – Opfer dieses Denkens wird, ist die bittere Ironie mit der Michael Köhlmeier seinen Roman schließlich enden lässt.
Woher nehmen Schriftsteller die Geschichten, die sie erzählen? Für Das Philosophenschiff hat Michael Köhlmeier alle drei seiner eingangs erwähnten Inspirationsquellen angezapft. Natürlich ist die Geschichte mit Lenin an Bord eines dritten Schiffes mit Deportierten erfunden. Die Operation „Philosophenschiff“ freilich hat es gegeben. Sie betraf damals weit mehr als 200 Ärzte, Professoren, Schriftsteller und Journalisten, Lehrer und Ingenieure, Richter und Anwälte. Unter der Überschrift „Denkfähigkeit als Staatsverbrechen. Hundert Jahre nach dem ‚Philosophenschiff‘ verlässt die akademische Elite aufs Neue ihre Heimat“ hat der Schriftsteller Viktor Jerofejew vor gut zwei Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ vom 13. 10. 2022) anlässlich des Exodus Hunderttausender junger, gut ausgebildeter Russen, die ihre Leben nicht in dem sinnlosen Angriffskrieg gegen die Ukraine riskieren wollten, gezeigt, dass die alte Geschichte aus den ersten Jahren der Sowjetunion durchaus keine Geschichte ist, die sich nicht wiederholen kann. Köhlmeiers Roman überträgt diese Erkenntnis mit seinen fantastischen Mitteln in die Welt der Literatur und warnt zugleich davor, Ideologien Vertrauen zu schenken, die in ihrer Ausschließlichkeit letzten Endes immer in den Terror führen.
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