Wright or wrong
Rainald Goetz feiert sich mit zwei neuen Büchern
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEr ist unser Autor, der Chronist der alten und neuen Bundesrepublik, der Sänger der Hoch- und der Club-Kultur, der Grenzgänger zwischen Proll und Pop, der eine moderne Form und Variante der (romantischen) Universalpoesie geschaffen hat. Er ist unser Autor, er spricht uns – generationenübergreifend – an, vom alten Lehrer (Albert von Schirnding) über den verstorbenen Verleger (Siegfried Unseld) bis hin zum ultrapräsenten Publikum (dem Kollektiv des Jahres 2023), das ihn mit seinen Fragen quasi eingeholt hat: „Welcome to the final show“, heißt das Motto seiner Leistungsschau, in der unser Dichter all das Revue passieren lässt, was seine Zeit war, ist und sein wird.
Zwei Buchschönheiten sind hier zu avisieren. Warum sind sie schön? Zum einen sind sie herstellerisch Erste Sahne: ein augenfreundliches, handschmeichelndes, glattes, gestrichenes Papier, einmal in Fadenheftung und mit Kapitalband, das Lapidarium im großen Format, gebunden und eingeschlagen in das kräftige Kobaltblau des Schlucht-Zyklus; einmal in der anmutigen Anmutung der edition suhrkamp, mit einem Umschlag um den Umschlag: genau richtig, nämlich wrong. (Für diejenigen, die dieses besondere Blau nicht gleich vor Augen haben: Es ähnelt den Verpackungen der Nudelsorte Barilla, dem Blau mancher Kugelschreiber, und auch Irre, der Erstling von Goetz, kommt da farblich ran: „Wie ich das schöne blaue Buch von Peter Hacks sehe, zur Romantik.“)
Das Lapidarium enthält drei Stücke und ist einem Triptychon nachgebildet, wie Goetz-Leser es aus vielen seiner Bücher kennen.
Das erste und längste Stück heißt Reich des Todes und trägt den Untertitel „Politische Theorie“. Ihm vorangestellt ist die abstrahierte Darstellung eines Fotos. Das Schandmal der zivilisierten Welt zeigt den Kapuzenmann aus dem Gefangenenlager von Abu Ghraib. US-amerikanische Subalterne hatten dort die ihnen anvertrauten Gefangenen vorgeführt, gedemütigt, der Lächerlichkeit preisgegeben. Und wie es scheint, hat Rainald Goetz hier mit einer Malerquaste weiße Farbe auf schwarzem Grund verteilt, sodass von diesem bedrückenden Motiv nur noch die Konturen zu erkennen sind. Er verhindert damit eine erneute Bloßstellung des seinerzeitigen Opfers, sein Menetekel manifestiert sich als starker Reiz auf unserer Retina: Der Künstler nötigt uns nicht und zu nichts, und dennoch sind wir beschämt angesichts dieser ikonographischen Imagination. Genial gemacht!
Das Mittelstück des Triptychons heißt Baracke und trägt als Untertitel den prominenten Buchtitel des Anthropologen und Strukturalisten Claude Lévi-Strauss: „Die elementaren Strukturen der Gesellschaft“. Wir lieben das, und schon Johann Holtrop, der Roman des Schlucht-Zyklus, kombinierte im Untertitel („Abriß der Gesellschaft“) die Systemtheorie Niklas Luhmanns (Die Wirtschaft der Gesellschaft) mit dem „Abriß der strukturalen Anthropologie“ von Michael Oppitz (Notwendige Beziehungen).
Das vorgeschaltete Bild zur Baracke (und vielleicht aus der Baracke) zeigt ein Kachelmuster in Sean Scullys Manier, jedoch weniger sorgfältig und penibel ausgeführt, als vielmehr hingetuscht wie ein Aquarell. Das Lapidarium schließlich, das dritte (Teil-)Stück, dem die Trilogie in partikularisierender Synekdoche ihren Gesamttitel verdankt, trägt den Untertitel „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (Gernot Böhme mit Immanuel Kant).
Diese drei Stücke sind damit als Orte des wilden Denkens ausgewiesen, sind dabei aber nicht zügellos, sondern an Wissenschaft orientiert, an straightem Denken, wie es uns seit Kants Anthropologie (Kritik der Urtheilskraft) begleitet und wie es eben auch zur Poesie befähigt: Das Wilde und das Gezähmte, das Rohe und das Gekochte, das Sinnliche und das Abstrakte – hier kommen sie zusammen, in der Buchkunst ebenso wie in der Gedanklichkeit und besonderen Sprachlichkeit, zu der Rainald Goetz gefunden hat und befähigt ist. Das Teilstück mit dem Titel Lapidarium ist Franz Xaver Kroetz gewidmet, dem bairischen Volkstheaterstückeschreiber in der Nachfolge Marieluise Fleißers, und vielleicht soll das Porträt, das dem Stück im Stile Werner Büttners oder Albert Oehlens vorgeschaltet ist, Kroetz darstellen. Er war ja auch ein wunderbarer Schauspieler, eine jener Doppelbegabungen, die im Stück vielerorts auftreten beziehungsweise erwähnt werden. Es ist ein Nekrolog und der „Wunsch, mit den Toten zu sprechen“: mit Herbert Achternbusch, Helmut Dietl, Helmut Fischer (dem „Monaco Franze“), mit Wolfgang Herrndorf, auch Kurt Scheel oder Michael Rutschky, ist überall spürbar. Auf dessen „Theorie des Textentzugs“ kommt zurück, wer die Arbeitsweise von Rainald Goetz verstehen will.
Der andere Band, wrong, enthält „eine Sammlung von Reden und Aufsätzen aus der Zeit der Arbeit am Buch SCHLUCHT, wie es im Klappentext heißt. Diese „Textaktionen“ (wiederum ein glücklicher Terminus für die Arbeitsweise des Autors) sind mit Fotos garniert, die – scharf oder unscharf – den jeweiligen Beitrag illustrieren, sei es eine Poetikvorlesung, ein Interview, ein Tagebuch, ein Portrait oder eine Zeitmitschrift im Stile der großen impressionistischen „Material“-Sammlung aus dem Ereignisjahr 1989.
Das ist alles sehr anregend und aufregend, gestisch, sprachlich und ästhetisch, denn „der Leser steuert den Text mit!“ Für unsereins, die wir bald am Verlöschen sind – „und: verschwindet wieder“ heißt der Hashtag auf der Umschlagseite vier des Bandes –, liegt eine heitere Melancholie in diesen Begegnungen mit einem jugendlichen Autor von siebzig Jahren, dessen Kompendium von 2005 bis 2025(!) reicht: Der Beitrag über den Redakteur Moritz von Uslar stellt quasi einen Vorabdruck dar, eine Hommage, die im kommenden Jahr in der Zeitschrift Text und Kritik erscheinen soll. Dieses Buch ist pure Sozialkunst, weil es sich an persönlichen Begegnungen orientiert, an den Leidenschaften dieses Ausnahme-Schriftstellers, aber auch an seiner Intellektualität und Rationalität. Sein „maximal breit gefächertes Interesse für die anderen, für deren Hervorbringungen, Verhaltensweisen, Perspektiven auf die Welt, für politische und weltanschauliche Optionen, für Verfehlungen, Lebenserfahrung, Obsessionen“, komplementiert Literatur und Wissenschaft. Weiß man, „zu welchen Folgen das geführt hat, etwa zu einem Buchkauf“? („Absoluter Idealismus. Bericht“. August 2022)
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