Schreibspuren – Lesespuren – Lebenspuren

Für Rüdiger Safranski war Kafka aus Literatur gemacht und konnte immer nur „Um sein Leben schreiben“

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pünktlich zum Jubiläumsjahr Kafkas, seinem 100. Todestag, legt auch der Essayist, Literaturwissenschaftler und „narrative Philosoph“ Rüdiger Safranski ein Werk zu Kafka vor, das in einer Reihe mit seinen bekannten Abhandlungen zu Heidegger, Nietzsche, Schopenhauer usw. steht. Auffällig ist dabei, dass Safranski Autoren ausgewählt hat – es sind in der Tat nur Autoren –, die in einer geraden literarischen Tradition antirationalistischer und antiidealistischer deutscher Literatur- oder Geistesgeschichte stehen, wenn wir etwa an die Werke über die Romantik als eine „deutsche Affäre“, Hölderlin, Schopenhauer (und die wilden Jahre der Philosophie), Nietzsche (Biographie seines Denkens), Heidegger (Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit) usw. denken. Die Untertitel geben dabei den Interpretationsansatz vor. Die einzige Ausnahme sind vielleicht die auf den ersten Blick nicht so direkt in die Reihe passenden Schiller und Goethe, insbesondere das Werk zu Schiller. Aber Kafka scheint wieder in dieses erzählerische „Beuteschema“ Safranskis hineinzupassen.

Im Positiven wie im Negativen ist darauf hingewiesen worden, dass die zum Teil relativ umfangreichen Werke sich insbesondere auf die Primärliteratur der Autoren konzentrieren und wenig Sekundärliteratur miteinbeziehen. Das macht die Werke allerdings gerade für Nichtfachleute sehr gut und spannend lesbar. Diesem Prinzip bleibt der Autor auch in seinem neuesten Oeuvre treu. In der bekannten, erzählenden Weise setzt Safranski für jedes der insgesamt 13 Kapitel seine Stichworte, die das jeweilige Kapitel strukturieren. In den meisten dieser Kapitel nimmt die Interpretation eines bestimmten Werks den größten Raum ein, wie z. B. im dritten Kapitel: Das Urteil, Von sich selbst überrascht werden, im vierten: Die Verwandlung, im fünften: Der Verschollene, im siebten: Der Prozess usw., oft mit einem prägnanten Kurzsatz als erstem Interpretationsimpuls verbunden. Safranski nimmt sich in jedem der Kapitel für eine gründliche Analyse der jeweiligen Werke Zeit. Dabei berührt er wichtige Themen Kafkas wie den Tod, die Frage nach Gott bzw. der Religion, die Frage nach dem Anti-Kapitalistischen in Werken wie Der Prozess, aber auch den bekannten Topos des „Labyrinths” in Kafkas Denken und Schreiben, etwa in Bezug auf eines der letzten Werke Kafkas, Der Bau, und die Metaphorik des Bauens und Grabens, wieder mit einem Ich-Erzähler als „Tier“.

Des Weiteren ist viel darüber gesprochen worden, dass Safranski eigentlich immer eine zugespitzte (Interpretations-)Aussage formuliert, die er dann auf den weiteren Seiten begründet. So war es etwa bei Nietzsche der Satz: „Nietzsches ganze Philosophie ist der Versuch, sich am Leben zu halten, auch wenn die Musik vorbei ist.“ Auch in diesem Werk zeigt sich der Verfasser wieder von dieser Seite. Der Untertitel deutet es schon an: „Um sein Leben schreiben“.

Ebenso fällt hier auf, dass er sich vor allem auf die Primärtexte Kafkas bezieht, trotz der im Anhang erwähnten Sekundärliteratur – man denke nur an Peter André Alt, Beda Allemann, Hartmut Binder, Wilhelm Emrich, Erich Heller, Michael Kumpfmüller oder natürlich „den Kafka-Biografen” Reiner Stach, den Safranski allerdings einmal konkret nennt. Gerade zum Jubiläumsjahr hat diese Literatur zu Kafka erneut einen großen Anschub bekommen. Auf literaturkritik.de zum Beispiel erschien eine Besprechung zu Gerhard Riecks Kafka ist nicht rätselhaft, der ebenfalls unter Ausblendung anderer Quellen eine psychoanalytische Annäherung an das Werk Kafkas versucht. Desweiteren wurden dort kürzlich Werke des bekannten Wiener Zeichners Nicolas Mahler Komplett Kafka. Eine neue Comic-Biographie zu Kafka rezensiert.

Der Verfasser zeigt sich als ein guter und genauer Leser der Texte Kafkas, wozu er immer wieder viele Originalzitate bringt. Safranski legt seinem Werk erneut ein Zitat Kafkas zugrunde: „Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur. Ich bin nichts anderes. Und kann nichts anderes sein.“ Das stellt gleichermaßen die Ouvertüre der Betrachtung Safranskis dar, was er dann im weiteren Verlauf modifiziert und ständig variiert. Es geht um seine „Sache“, wie Kafka das selbst nennt: „Die Sache ist eben das Schreiben, und da er um sein Leben schreibt, wie man um sein Leben läuft, hat alles demgegenüber zurückzustehen.“

Etwas überraschend scheint vielleicht, dass er mit dem bekannten Topos beginnt, dass Kafka zu Lebzeiten nur wenigen Eingeweihten bekannt war. In den jetzt zum Jubiläum erschienenen Filmen über Kafka wie Die Herrlichkeit des Lebens (Regie: Judith Kaufmann und Georg Maas, D, A 2024, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Michael Kumpfmüller von 2011) oder die Miniserie Kafka (2024, Regie: David Schalko, unter Mitarbeit von Daniel Kehlmann) und auch in einigen weiteren Werken, die in jüngster Zeit erschienen sind, wird dagegen nahegelegt, dass Kafka zu seiner Zeit gar nicht so unbekannt war, wie lange Zeit angenommen wurde, wenn wir nur an die Begegnung mit Rainer Maria Rilke bei einer Kafka-Lesung der Strafkolonie am 10. November 1916 in München denken, der ihn für sein Werk schon damals sehr lobte. Zudem legen die Interpretationen auf der Basis des Werks von Dora Diamant in ihrer Wahrnehmung nahe, dass Kafka durchaus ein lebensbejahender und oft lachender Autor und Mensch war.

Für einen Kafka-Fachmann bzw. eine -Fachfrau mag es im Werk wahrscheinlich relativ wenig Neues, wenig Unbekanntes oder Innovatives geben. Dennoch lässt sich festhalten, dass Safranski durch seine Optik besondere Aspekte im Werk Kafkas herausstellt, diese auf andere Weise in Form einer Art von Kaleidoskop neu mixt und so noch einmal einen anderen, „fremden” Blick auf das Werk Kafkas wirft.

Zum einen überrascht es immer wieder, dass der „nicht hauptamtliche Schriftsteller“ Franz Kafka – er hatte ja einen ganz normalen Beruf, war Jurist und er war auch nicht unerfolgreich in seinem Beruf, wenngleich das nach Safranski für Kafka nicht wichtig war – dass dieser Schriftsteller sozusagen in seiner Freizeit, frei nach Thomas Mann nach Laden- oder Arbeitsschluss, zu einem der größten, vielleicht dem größten, aber auf jeden Fall zu dem am meisten zitierten Schriftsteller deutschsprachiger Zunge wurde. Also hat er, etwas salopp ausgedrückt, die Literatur in seiner Freizeit betrieben, obwohl für ihn das Schreiben zutiefst essentiell war – „Ich bin Schreiben“, worauf Safranski, diesen Satz von Kafka zitierend, hinweist.

Es handelt sich dabei um eine der vielen Paradoxien, die das Werk Kafkas in der Interpretation Safranskis nahelegt. Außerdem weist der Essayist auf eine weitere „Unerklärbarkeit“ hin: Es scheint nämlich so, als ob Kafka gegen vieles verstößt, was heute in Literaturschreibseminaren vermittelt wird. Beispielsweise, und auch das ist bekannt, hat Kafka auf eine gewisse Weise „losgeschrieben“. Das heißt, es gibt die bekannten Hinweise darauf, dass er innerhalb einer Nacht Das Urteil oder den Brief an den Vater niederschreibt. Und dass Kafka – und darauf haben ebenfalls viele Kafka-Exegeten hingewiesen – eigentlich ständig neu angefangen habe mit dem Prozess des Schreibens. Und dass ihn dann dabei dieser Prozess selbst geleitet hat, nicht etwa eine große Konzeption, die er sich vorher zurechtlegte.

Ein weiterer entscheidender Punkt ist, wenn wir etwa an den Amerikaroman Der Verschollene (zunächst sollte das Werk ja Amerika heißen) denken, dass Kafka auf eine gewisse Weise dadurch Versatzstücke der Realität verfremdet, dass er sie in fast surreal anmutende, neue Zusammenhänge setzt. Und dass er selbst für sein Schreiben nicht unbedingt in dieser Realität, wie der amerikanischen, oder als Heizer auf dem Schiff nach Amerika, gelebt haben muss, macht wiederum gerade seine große (Schreib-)Kunst aus, die u. a. darin besteht, diese bestehende Wirklichkeit zu transzendieren. Er selbst, der gerade mal einen nach Amerika ausgewanderten älteren Vetter, Otto Kafka, hatte, braucht nicht selbst in Amerika gewesen zu sein, um sich dann ein Amerika oder ein „Schiff nach Amerika” zu imaginieren und dieses so „präzise“ niederzuschreiben, dass es ästhetisch glaubhaft wirkt. Auf diese Weise schafft er nicht ein Abbild des realen Amerika, sondern erschafft einen in sich äußerst stimmigen „literarischen Raum Amerika“.

Worauf viele Kafkainterpretinnen und -interpreten aufmerksam gemacht haben, das nimmt dann auch Safranski noch einmal auf. Es sind die drei großen S in Kafkas schriftstellerischer Existenz: Schuld, Scham oder Sünde, wovon die größte Schuld das Schreiben selbst ist, „weil es schuldig gegenüber dem Leben“ macht.  Diese scheint so wichtig, dass sich mit Safranski von einer Art (Selbst-)Rechtfertigungsliteratur bzw. Selbstermächtigung durch die Literatur als Mittel gegen die als unzulänglich erfahrene Realität sprechen lässt. Aber der Erzähler rechtfertigt sich für Dinge oder „Verbrechen”, die er nicht selbst begangen hat. Er hat sich keinerlei Gesetzesverstößen schuldig gemacht, nimmt seine „Strafe“ aber dennoch an. Das wird zum Beispiel in Der Prozess sehr deutlich, ansatzweise auch in Das Schloss. Im Zusammenhang mit der momentanen politischen Situation kommt man nicht umhin, an Männer wie Alexander Nawalny etc. zu denken, die in Straflagern und Strafkolonien verschwinden. Zugleich kommt einem dabei der resignativ-bittere Satz von Georg Lukács in den Sinn, wonach „Kafka doch Realist” gewesen sei. Dazu gesellen sich noch zwei weitere S’, die für Kafka fundamental sind: die Selbstbeobachtung, wozu nach Kafka „der Verkehr mit den Menschen verführt”, und die Selbsterkenntnis, worin das, „was erkannt mit dem Erkannten verschmilzt”.

Kafka, dessen Prosa gemeinhin als so hermetisch gilt, nimmt also immer wieder auf Elemente seiner eigenen Wirklichkeit Bezug, etwa auf die seiner Zumutungen und Verwerfungen der ihn zugleich umgebenden wie einschränkenden Welt des Vaters, von der sich Kafka ein Leben lang nie zu lösen verstand. Desweiteren wurde er von seinem Arbeitgeber der AUVA (Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt) innerhalb von Böhmen und später der Tschechoslowakei öfter „entsandt“, um vor Ort als Jurist etwas zu klären. Und auf diese Weise entstehen dann seine Bilder vom „Landvermesser“ in Das Schloss, der er selbst nicht war, dessen Figur aber aus der Wirklichkeit genommen wurde. Im Übrigen ist Kafka gar nicht so wenig gereist, wie gemeinhin angenommen wird, wenn auch vorwiegend innerhalb der Kuk-Monarchie bzw. Italien (den Teil der KuK-Monarchie wie Riva etc.), nach Preußen bzw. nach Berlin oder an die Ostsee nach Grals-Müritz.

Und schließlich ist außerdem unter dem Eindruck der Lektüre von Safranskis Werk noch darauf hinzuweisen, dass Kafka, darin Rilke ähnlich, sehr stark auf der Freiheit des Einzelnen besteht. In einigen Kapiteln weist Safranski auf diese Art der Beziehung von Leben und Schreiben hin, beispielsweise in der Beziehung zu Felice Bauer, aber auch zu der verheirateten Übersetzerin Milena Pollack oder zu der tuberkulosekranken tschechischen Jüdin Julie Wohryzek. Die Beziehungen haben ihn vom Schreiben abgehalten, aber viceversa hat gleichzeitig das Schreiben ihn wiederum von einer intakten Beziehung zu den Frauen behindert, was besonders sinnfällig in der zu Felice Bauer wird. Man stößt in diesem Zusammenhang schnell auf den Satz von Rilke, wonach eines anderen Freiheit nicht zu vermehren eine Art von „Schuld” am anderen ist.

Es wurde gleich zu Beginn dieser Besprechung die Frage aufgeworfen, ob Kafka wirklich so unbekannt geblieben ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Was ihn selbst betrifft, so hat er sich zum einen noch nicht als berühmter Schriftsteller wahrgenommen. Zum anderen spricht er aber auch, ob ironisch oder nicht, von sich als das dem „literarischen Zentrum Prags“.

Jedenfalls hat er die Literatur im Allgemeinen für sich über alles gestellt. Wie allgemein bekannt, bat er seinen Freund Max Brod darum, große Teile seines Werks zu verbrennen (von Kafka ausdrücklich davon ausgenommen waren die Werke Das Urteil, Der Heizer, Die Verwandlung, In der Strafkolonie, Der Landarzt und die Erzählung Ein Hungerkünstler, die er selbst als Werke gelten ließ), ein Wunsch, dem dieser nicht nachkam. Und trotzdem war, und das ist Safranskis These, die er wieder und wieder in verschiedenen Varianten durchspielt, Kafka selbst Literatur und lebte nur in der Literatur und alles Leben wurde ihm zu Literatur. Das ließe sich auf gewisse Weise sicherlich auch zum Teil bezweifeln, wenn man etwa die durchaus vorhandenen Erfolge im Beruf mitberücksichtigt (seine Chefs, die ihn selbst zur Zeit der Tschechoslowakei halten wollten, die ihm jede Gehaltserhöhung genehmigten und auch immer wieder Gesundheitsurlaube gewährten). Wobei Kafkas eigene Einschätzung Safranski sicherlich Recht geben würde. Aufgrund der Darstellung dieser unterschiedlichen Facetten in Kafkas Leben wie Schreiben sei das Werk insgesamt sehr zur Lektüre empfohlen.

Was Kafkas Poetologie betrifft, ist Safranskis Interpretation der letzten Erzählung Kafkas Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse besonders aufschlussreich. Josefine kann etwas, was eigentlich alle können, nämlich das Pfeifen, besonders gut; sie beeinflusst damit das ganze Mäusevolk. Genau in diesem Sinne hat Kafka nach Safranski auch seine Tätigkeit als Schriftsteller verstanden, als jemand, der etwas besser konnte als das, was alle konnten, und daher sein Schreiben durchaus als Einfluss auf die Gesellschaft begriff.

Titelbild

Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben.
Carl Hanser Verlag, München 2024.
256 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446279728

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch