Teddybär und SS-Dolch
Ein grandioser Bildband von Angeniet Berkers zum „Lebensborn“
Von Dirk Kaesler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer renommierte Verlag Eriskay ist ein niederländisches Studio für Bookdesign, das sich in enger Zusammenarbeit mit seinen Autorinnen und Autoren auf zeitgenössisches Geschichtenerzählen an der Schnittstelle von Fotografie, Forschung und Schreiben konzentriert. Der hier anzuzeigende Band ist ein mustergültiges Beispiel für eine derartige Symbiose.
Mit ihrem Bildband Lebensborn. Birth Politics in the Third Reich hat die niederländische Dokumentarfotografin Angeniet Berkers einen Bildband zum Thema der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik im Rahmen der SS-Organisation „Lebensborn e.V.“ vorgelegt. Ihre Vita hat sie überzeugend qualifiziert für ein derartiges Vorhaben: Bevor Berkers ein Fotografie-Studium an der Königlichen Akademie der Künste in Den Haag absolvierte, arbeitete sie 13 Jahre im Bereich der Soziotherapie sowohl von Kriegsveteranen und Flüchtlingen mit schweren posttraumatischen Störungen als auch von Jugendlichen mit akuten gravierenden psychischen Erkrankungen. Als Fotografin spezialisiert sie sich auf überaus sensitive Themen, die sie in einfühlsamer und leicht melancholischer Manier abzubilden sucht.
Um sich allein auf den hier vorzustellenden Bildband konzentrieren zu können, wird für die Hintergrundinformation über den „Lebensborn“ auf meine vorausgegangene Rezension verwiesen (siehe https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=29652).
Die Ausgangsposition für Berkers Fotoarbeit ist die Tatsache, dass viele „Lebensborn“-Kinder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stigmatisiert, missbraucht und misshandelt worden waren. Zudem erfuhren zahlreiche dieser Kinder niemals etwas von den tatsächlichen Zusammenhängen ihrer Geburt und ihrer Kindheit. Nicht zuletzt jene Kinder, die aus den Lebensborn-Heimen zur Adoption an deutsche Familien, die dem Nationalsozialismus sehr positiv gegenüberstanden, weitergegeben worden waren. Ganz zu schweigen von jenen „geraubten“ Kindern, die in Adoptivfamilien aufwuchsen und keine Chance hatten, etwas über ihre leiblichen Mütter in den diversen Ländern außerhalb des Deutschen Reiches zu erfahren. Angeniet Berkers hat neun solcher Menschen, die heute zwischen 70 und 80 Jahre alt sind, aufgesucht und ihren Lebensgeschichten in ihren jeweiligen häuslichen Umgebungen zugehört. Gerahmt sind diese Erzählungen durch die fotografisch dokumentierten Begegnungen und die Ergebnisse ihrer Nachforschungen und Funde in diversen Heimen des Lebensborn in Deutschland, Österreich und Norwegen. In einer grandiosen Mischung aus Fotografien von Menschen, Landschaften, Objekten und Dokumenten entstand auf diese Weise ein Panoptikum von visuellen Eindrücken, dem man sich nicht leicht entziehen kann.
Wer nichts von der Geschichte dieses Vereins der SS weiß, wird nach aufmerksamer Lektüre des Fotobuches viel über die ideologischen Hintergründe und die Praxis dieser janusköpfigen Organisation gelernt haben.
Bis Kriegsbeginn 1939 unterhielt der Verein sechs Heime auf dem Gebiet des Deutschen Reichs, eines davon im okkupierten Österreich. In den ersten Kriegsjahren wurden im „Altreich“ weitere Heime eröffnet, um die zunehmende Zahl an nichtdeutschen Frauen betreuen zu können, die ein Kind von einem Wehrmachts- oder SS-Angehörigen erwarteten. Ab 1942 richtete der Lebensborn vor allem in Norwegen Heime ein. Die SS-Organisation bewertete den Nachwuchs nordeuropäischer Frauen als besonders „erwünscht“, da er dessen Ideal einer „nordischen Rasse“ zu erfüllen versprach. In Norwegen gab es in Relation zur Bevölkerungszahl die meisten Betreuungsplätze des Lebensborn. Einzelne Häuser öffneten in Luxemburg, Belgien und Frankreich. Die Kapazitäten der Heime waren sämtlich stark ausgelastet. Gleichzeitig wuchs die Verwaltung des Vereins. 1942 waren rund 220 Personen in der Münchner Zentrale beschäftigt, die neben der ehemaligen Villa Thomas Manns weitere Gebäude vormaliger Sozialeinrichtungen der jüdischen Gemeinde und Privatwohnungen jüdischer Bürgerinnen und Bürger in München in Beschlag genommen hatte.
Insgesamt wurden zwischen 1936 und 1945 in den Lebensborn-Heimen auf dem deutschen Reichsgebiet zwischen 8.000 und 9.000 Kinder geboren, etwa die Hälfte von ihnen unehelich. In den Heimen in Norwegen betreute der Verein nahezu 8.000 Kinder, die mehrheitlich unehelich geboren worden waren.
Auch durch die Fotografien von Angeniet Berkers erkennt man einerseits in den Lebensborn-Heimen den geschützten Rettungsraum für schwangere Frauen in den Jahren 1935 bis 1945 auf dem Gebiet des Deutschen Reiches. Zum anderen nimmt man die Heime wahr als Verteilungsstationen geraubter Kinder aus den von der deutschen Wehrmacht „eroberten“ Gebieten in Österreich, Norwegen, Belgien, Luxemburg, Frankreich und Polen. Aus eigenem Antrieb und mit großenteils eigenfinanzierten Mitteln besuchte die holländische Fotografin Heime in Deutschland, Österreich und Norwegen. Ein Crowdfunding, durch das über 200 Menschen einen Gesamtbetrag von 10.697 Euro zusammenlegten, ermöglichte die Produktion des großformatigen Bildbandes (der allerdings in den ersten Tagen einigermaßen streng riecht, vermutlich bedingt durch den Geruch der Druckfarben).
Die neun von ihr porträtierten Menschen suchte die Fotografin persönlich auf. Es entstand ein Buch, das die beeindruckenden und anrührenden Biographien dieser vier Frauen und fünf Männer einbettet in den Kontext jenes wahnwitzigen Programms der programmatischen Steigerung der Geburtenzahlen von als „arisch“ definierten Menschen. Es zeigt zugleich, dass es nicht „die“ Lebensbornkind-Biographie geben kann. Einige der Interviewten weisen sogar nachdrücklich diese Etikettierung zurück, räumen allenfalls ein, dass sie in einem Heim des Lebensborn geboren wurden.
Insgesamt ist es ein überaus besonderes Buch voller inhaltlicher Grusel und dennoch ästhetischer Schönheit geworden. Schon die – bedauerlicherweise unvollständige – Wiedergabe der Broschüre „Aufgaben und Ziele des Lebensborn“ – bei dem zwar die Rune Elhaz, die sogenannte „Lebensrune“ abgebildet, das im Original darunterliegende Hakenkreuz jedoch wegretuschiert wurde – vermittelt der Leserschaft ein erstes Gefühl der einen Seite dieser Organisation:
Die Lebensborn-Heime sind für die Frauen von Angehörigen der SS und der Deutschen Polizei sowie allgemein für alleinstehende eheliche und ledige Mütter geschaffen worden, die eines besonderen Schutzes bedürfen. Voraussetzung für die Heimaufnahme ist der Nachweis der Gesundheit, der Erbgesundheit und der arischen Herkunft bis einschließlich zu den Großeltern, den Vater und Mutter des erwarteten Kindes erbringen müssen.
Ungeachtet meiner eigenen engen Verbindung zu diesem ganzen Themenkomplex (siehe https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=29916) hatte ich noch nie vorher die graphischen Darstellungen der eugenischen Propaganda über die „Reinerbigkeit“ und den „Mischling“ gesehen und über die „Reinhaltung des Blutes“, das den „Fortbestand des deutschen Volkes“ sichern soll. Noch nie sah ich die „Rassekundlichen Bestimmungs-Tafeln für Augen-, Haar- und Hautfarben und für die Iriszeichnung“ und noch nie das Röhrchen für die „Lebensborn-Stammblutprobe“. Die beeindruckend schönen Fotos der diversen Heime in ihrem jetzigen Zustand, heute zumeist Heime für Senioren oder Behinderte, lassen nichts ahnen von den Abläufen der Nazi-Zeit. Man muss schon so genau hinsehen wie Angeniet Berkers, um das Gitter des Heims „Hochland“ in Steinhöring bei München zu finden, auf dem die SS-Runen eingelassen sind. Manche der seitengroßen Fotos von auf den ersten Blick vollkommen harmlosen Objekten wie dem silbernen Suppenschöpfer mit der Gravur „Lebensborn“ oder dem hellbraunen Teddybär mit den rötlichen Knopfaugen aus Glas aus dem Bestand des „United States Holocaust Memorial Museum“ in Washington, D.C. können der heutigen Leserschaft Gänsehautempfindungen bereiten. Von dem SS-Ehrendolch ganz zu schweigen, der bei den entsakralisierten Zeremonien der Namensgebung den Neugeborenen über den Kopf gehalten wurde und bei dem dazu die Formel deklamiert wurde: „Ich nehme Dich hiermit in den Schutz unserer Sippengemeinschaft und gebe Dir den Namen xyz. Trage diesen Namen in Ehren.“
Eine kleine Ahnung von „transgenerationaler Weitergabe von Traumata“ bekommt eine heutige Leserschaft, wenn sie beim Schlusskapitel des Buches angelangt ist. Dort findet sich ein Essay der norwegischen Sozialwissenschaftlerin Ingvill Constanze Ødegaard mit dem Titel „Endurance and Empowerment – reflections on the life development of children of Lebensborn.“ Eines der zentralen Themen dieser Wissenschaftlerin, die seit 2020 als Privatdozentin an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln lehrt, ist die Frage, woher die in dem Buch porträtierten Menschen die Kraft nahmen, die durch die Umstände ihrer Kindheit und Jugend vorgegebenen Schwierigkeiten erfolgreich zu meistern. Und sie fragt danach, ob diese besiegten Schwierigkeiten ausschlaggebend für ihre jeweilige Berufswahl gewesen sein mögen. Nur eine kleine Fußnote weist darauf hin, dass sie selbst die Tochter eines der neun Porträtierten ist: des norwegischen Mediziners Svein Vogel Ødegaard. Für ihren Vater kann sie ihre Frage beantworten: Er wurde nicht nur Arzt, sondern engagierte sich leidenschaftlich in einem Projekt, das sich um Kinder kümmerte, die in Kriegszusammenhängen geboren wurden (siehe https://www.cbowproject.org/).
Dieses grandiose Buch macht überaus deutlich, dass die Themen, um die es darin geht, alles andere als „nur historisch“ sind. Alle, die die aktuellen Geschehnisse in den Kriegsgebieten dieser Welt verfolgen, wissen, dass das Elend der Kinder, die sich oft erst Jahrzehnte nach ihrer Geburt auf die Suche nach ihren „Wurzeln“ machen, täglich fortgesetzt wird. Und nicht alle werden so erfolgreich sein, wie die von Angeniet Berkers porträtierten Menschen. Aber das Buch kann Mut machen. Menschen – manche Menschen – können sich erfolgreich von der Last befreien, die durch die Verbrechen ihrer Eltern auf ihre Schicksale gelegt wurde.
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