„Genau genommen bin ich Franz Kafkas Frau“:

Dora Diamant

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

1.

Als Franz Kafka am 3. Juni 1924 in einem Sanatorium in Kierling bei Klosterneuburg starb, war, außer seinem Freund Robert Klopstock, auch Dora Diamant zugegen. Sie hatten sich vor etwas mehr als einem Jahr während Kafkas Urlaub in Müritz an der Ostsee kennengelernt und dann den Herbst und Winter zusammen in Berlin verbracht, am Ende offen als Paar. Sie hatten nicht geheiratet, aber 1925 stellte sich Dora dem jiddischen Autor Melech Ravitch mit den Worten vor: „Genau genommen bin ich Franz Kafkas Frau.“ Sie war seine letzte Geliebte und die einzige Frau, mit der er zusammengelebt hat.

Dora Diamant war ein ungewöhnlicher Mensch: eine Ostjüdin, die sich räumlich und geistig von ihrer Herkunft entfernte, nach Westen ging und sich dem aufgeklärten Judentum zuwandte, als Frau und Jüdin ihr eigenes Leben zu leben versuchte, Schauspielerin wurde, sich der Kommunistischen Partei anschloss, bevor sie sich am Ende wieder für ostjüdisch-jiddische Kultur als Journalistin und Rezitatorin einsetzte. Sie hat ein bewegtes Leben gehabt, in Polen, Deutschland, der UdSSR und England gelebt. Sie ist dem Holocaust entgangen und fern ihrer Heimat vergleichsweise früh gestorben. Lange wusste man kaum etwas über sie, erst 2013 erschien auf Deutsch die erste Biographie über sie. Im Jahr des hundertsten Todestages Franz Kafkas ist sie schließlich als Film-Figur, zumindest dem Namen nach, auch einem größeren Publikum bekannt geworden.

2.

Dora Diamants Name ist in mehreren Versionen überliefert, was auch in ihrem Weg durch verschiedene Länder und Sprachen begründet ist. Ihr Vater nannte sich Dymant, sie bevorzugte Diamant. Dass sich ihre Version durchsetzte, ist durchaus typisch für sie: Sie war eine entschlossene und selbständige Frau, die für sich selber, in ihrem eigenen Namen sprechen wollte.

Als Dora Kafka in Müritz traf, war sie 25 ‒ nicht 19, wie Max Brod schreibt. Nach Kathi Diamant, ihrer namensgleichen Biographin, wurde sie nicht, wie oft behauptet, 1898 in Będzin, nordwestlich von Krakau, in Oberschlesien also, geboren, sondern in Pabianice, in der Nähe von Lodz, also in Zentralpolen, und „Dworja Diament“ genannt. Nach Będzin zog ihr Vater mit seinen Kindern erst nach dem Tod ihrer Mutter, dessen Datum nicht amtlich festgehalten ist. Die Stadt Będzin hatte bis zum Zweiten Weltkrieg einen hohen Anteil an jüdischen Einwohnern. Sie sind fast alle der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zum Opfer gefallen.

Dora Diamant entstammte einer Familie von orthodoxen Juden. Ihr Vater Herschel, ein Kaufmann, war ein glühender Anhänger des Chassidismus und verehrte den Rabbi der Gerer Bewegung, Avraham Modechai Alter. Als Herschel Dymant wieder heiratete, gab er die Tochter auf eine jüdische Mädchenschule in Krakau. Dort riss sie aus, in Breslau spürte er sie auf und brachte sie zurück. Als sie ein zweites Mal aus der Schule floh, ließ er sie ziehen: ein verlorenes Kind. Sie schlug sich nach Berlin durch, arbeitete als Kindermädchen und Näherin, bevor sie sich dem Jüdischen Volksheim anschloss, in dessen Ferienhaus in Müritz sie Kafka zuerst traf.

3.

Nach Kafkas Tod reiste Dora Diamant von Kierling aus zunächst nach Prag. Bei der Beerdigung brach sie zusammen. Sie wohnte eine Weile bei seinen Eltern, die ihr einen Anteil an den Einnahmen aus seinen Werken überschrieben. Nach zwei Monaten verließ sie das Haus der Kafkas, ohne sich zu verabschieden. Offenbar war es zu Spannungen gekommen. Der Kontakt zur Familie ging bald verloren; 1925 schrieb sie Kafkas Lieblingsschwester Ottla, flehend, ein letztes Mal, ohne eine Antwort zu erhalten.

Dora ging zurück nach Berlin und bemühte sich um eine Ausbildung als Schauspielerin. 1926 zog sie nach Düsseldorf, nahm Unterricht an der Theaterakademie des Schauspielhauses und spielte bis 1930 in verschiedenen Inszenierungen mit, teils in Düsseldorf, teils in Neuß, wo sie einen Einjahresvertrag erhielt. 1929 war sie wieder in Berlin.

Dort trat sie in die KPD ein, arbeitete für Agit-Prop-Gruppen und zog 1931 wieder nach Zehlendorf, wo Kafka u.a. während ihrer gemeinsamen Berliner Zeit gewohnt hatte. Bei einer Schulung, die in ihrer Wohnung stattfand, lernte sie den fünf Jahre jüngeren Wirtschaftswissenschaftler Ludwig, genannt Lutz Lask, kennen. Er war der Sohn der bekannten kommunistischen Schriftstellerin Bertha Lask und ihres Mannes, des Neurologen Dr. Louis Jacobsohn. Lutz Lask hatte sich auf Drängen seiner Mutter gleichfalls der KPD angeschlossen, in der er eine bescheidene Karriere machte. 1933 wurde er Redakteur der „Roten Fahne“ für Steglitz. 1932 heirateten er und Dora. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Lask von der Gestapo verhaftet, gefoltert und ein halbes Jahr inhaftiert. Seine Wohnung wurde durchsucht und dabei auch der Teil des Nachlasses von Kafka beschlagnahmt, den Dora an sich genommen hatte, vor allem Briefe und Notizen.

Nach der Entlassung aus der Haft floh Lask nach Prag, wo bereits seine Mutter lebte. Sie konnte offiziell in die UdSSR ausreisen und erreichte, dass ihr Sohn 1935 nachkommen konnte. 1934, als Lask schon in Prag war, gebar Dora in Berlin eine Tochter, Marianne. Dora folgte ihrem Mann, als offizielle Begleiterin ihres Schwiegervaters, drei Jahre später nach Moskau.

In der Sowjetunion geriet Lask, der als Mitarbeiter am Marx-Engels-Institut beschäftigt war, in die Mühlen der stalinistischen Säuberungen. Er wurde 1938 wegen Spionage zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt; erst 1953 durfte er das Land wieder verlassen. Er ging, noch immer überzeugter Kommunist, nach Ost-Berlin. Dora konnte 1938 aus der UdSSR fliehen. Welchen Weg sie genommen hat, ist nicht sicher; schließlich erreichte sie aber Den Haag. Seit 1940 lebte sie mit ihrer Tochter in England. Doch auch dort wurde sie als enemy alien zunächst interniert. 1942 konnte sie sich in London niederlassen; sie nahm allerlei Gelegenheitsarbeiten an, u.a. wie anfangs in Berlin als Schneiderin oder Näherin, und führte eine Zeitlang auch ein Restaurant im East End.

1945 begann sie für die jiddische Zeitschrift Loshn un Lebn zu schreiben, und zwar Theaterkritiken. Ihr Engagement gehörte immer mehr der jiddischen Sprache und Kultur, die sie vom Verschwinden bedroht sah. Schon früh hatte sie die jiddische Literatur kennengelernt und kannte sich in ihr mindestens so gut aus wie Kafka. Nun organisierte sie Konzerte und hielt selbst Lesungen ab.

1947 erfuhr Dora, dass nur drei ihrer elf Geschwister den Holocaust überlebt hatten und jetzt in einem Sammellager in Dachau lebten. Ende des Jahres ließ sie sich, das einzige Mal, über Kafka von Josef Paul Hodin interviewen. Sein Artikel Erinnerungen an Franz Kafka erschien 1948 auf Englisch in Horizon, ein Jahr später im Monat dann auch auf Deutsch, bis heute eine der wichtigsten Quellen zu Kafkas letzter Lebenszeit.

Von Oktober 1949 bis Februar 1950 konnte die frühere Zionistin, zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben, nach Israel reisen. Ermöglicht hatte ihr das wesentlich Kafkas in England lebende Nichte Marianne Steiner. Dora traf Verwandte wieder, u.a. einen ihrer Brüder, auch Kafkas alte Freunde Max Brod und Felix Weltsch. Auf der Rückreise besuchte sie in Paris, neben Marthe Robert, Jean-Louis Barrault, der 1947 eine von André Gide für die Bühne bearbeitete Fassung des Prozeß inszeniert hatte. Er selbst hatte den K. gespielt.

Zurück in London begegnete Dora Melech Ravitch wieder. Er war von ihr so beeindruckt, dass er, auf Jiddisch, eine Geschichte über sie schrieb (die als „I Am Franz Kafka’s Wife“ ins Englische, aber nicht ins Deutsche übersetzt wurde): das literarische Denkmal Doras auf Jiddisch. Er hat sie dabei, ungefähr zwei Jahre vor ihrem Tod, als „kleine, kräftige Frau“ porträtiert: „Ihr Gesicht hat keine Farbe, allein die Blässe der Entbehrung, wie auch ihre Stimme keine Klangfarbe hat, nur die Gedämpftheit von Armut und Schmerz“ (zit. n. Kathi Diamant, 328).

Anfang 1951 musste Dora wegen ihres sich verschlechternden Nierenleidens stationär behandelt werden. Sie versuchte die britische Staatsbürgerschaft für sich und ihre Tochter zu erhalten, verzichtete darauf aber, als sie erfuhr, dass sie dafür ihren Mann für tot erklären lassen müsste, zu dem sie den Kontakt verloren hatte. An ihrem 53. Geburtstag, dem 4. März 1951, begann sie im Krankenhaus, Gedanken und Erinnerungen an Kafka aufzuschreiben, teils auf Deutsch, teils auf Jiddisch und Hebräisch, selbst auf Englisch. Nach Monaten erst konnte sie das Krankenhaus verlassen, allerdings ohne Hoffnung auf eine Heilung.

In ihrer Wohnung in Chelsea erhielt sie noch prominenten Besuch: außer Marthe Robert, mit der sie sich befreundet hatte, suchte auch Martin Walser sie auf, der darüber den Artikel Kafkas Stil und Sterben schrieb: zerknirscht, überzeugt davon, dass er gegenüber der totkranken Frau als Mensch versagt habe.

Als Doras Zustand sich verschlechterte, wurde sie wieder ins Plaistow Hospital eingewiesen; dort starb sie am 15. August 1952. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in East Ham begraben. Ihr Wunsch, „neben Kafka in Prag beerdigt“ (zit. n. Kathi Diamant, 346) zu werden, blieb unerfüllt. 

Dora Diamant oder Dymant, wie sie sich am Ende wieder nannte, wurde 54 Jahre alt. Der Nachlass Kafkas, den die Gestapo bei ihr beschlagnahmt hatte, ist bis heute nicht wieder aufgetaucht. Mutmaßungen über ihn kursieren bis heute. Als Erinnerung an Kafka blieben Dora, eine Zeitlang, nur die Erstausgaben seiner Bücher, die er ihr geschenkt hatte. Sie versah sie, als Besitzervermerk, mit dem Namen „Dymant-Kafka“ und gab sie 1936 in Moskau einem italienischen Kafka-Verehrer zur Aufbewahrung. Im folgenden Jahr wurde auch er verhaftet; sie schrieb an den NKWD, um die Bücher zurückzuerhalten, vergeblich.

Literaturhinweise

Max Brod: Über Franz Kafka. Frankfurt a.M. 1976.

Kathi Diamant: Dora Diamant. Kafkas letzte Liebe. Die Biografie von Dora Diamant. Aus dem Amerikanischen von Wiebke Mönning und Christoph Moors. Mit einem Vorwort von Reiner Stach. Düsseldorf 2013.

Kapitel 2 und 2 dieses Essays sind mit kleinen Änderungen entnommen dem Buch:

Dieter  Lamping: Anders leben. Franz Kafka und Dora Diamant. Mit Graphiken von Simone Frieling. Berlin: ebersbach & simon, 1. Auflage 2023, 2. Auflage 2024. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags)