Wenn wir zu gefallen suchen
Sebastian Riedel betrachtet in einer opulenten Publikation die „Liebeswerbung im Dialog“
Von Jörg Füllgrabe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass Liebe im besten Falle eine zweiseitige Angelegenheit ist, liegt einerseits nahe und wird andererseits, wenngleich dann tendenziell dann eher der Weg- oder gar der Negativfall thematisiert werden, durch Regalkilometer der entsprechenden Sehnsuchts- und Verarbeitungsliteratur nachgewiesen. Dass in Zusammenhang mit Literaturen der Empfindsamkeit immer wieder Phasen höherer literarischer Aktivität zu beobachten sind, ist für die jüngere Vergangenheit recht gut belegt, aber auch für frühere (literarische) Epochen erkennbar. Zweifellos gehört die Zeit des deutschen Minnesangs in eine solche Kategorie, die – fiktive wie gelegentlich wohl auch tatsächliche – Liebeswerbung zum Thema hatte. Der Einfluss gerade der französischen Troubadoure auf die deutschsprachige Minnedichtung ist hinlänglich gut untersucht, und so ist der in der vorliegenden Publikation gewählte Ansatz, explizit die lateinische Literaturtradition in den Blick zu nehmen, sicherlich nicht neu, gleichwohl jedoch etwas außergewöhnlicher. Mit der Einbettung der Untersuchungen in eine literaturformale Typologie verfolgt Sebastian Riedel in Liebeswerbung im Dialog den Ansatz einer multidependenten Literaturbetrachtung.
Dass in dieser Studie die Werbungsdialoge des deutschen Minnesangs im Fokus stehen, ist sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass diese bislang nicht nur im Windschatten der Forschung lagen, sondern auch weniger oft überliefert sind als andere Minnetext-Konstellationen, sodass sich stilistisch schärfere Kategorisierungen erarbeiten lassen, als das im Hinblick auf einen größeren Textpool der Fall wäre. Die angestellten Untersuchungen erfolgen vor dem Hintergrund ausgewählter Textbeispiele aus der Tradition mittellateinischer Werbungsdiskurse. Dabei wird auf das vielgestaltige Spektrum rhetorischer Argumentationskunst und Debattierstrategien Bezug genommen: liebesprogrammatische Liebeslieder und auch Streitgedichte, Texte in der Ars-dictaminis-Tradition und satirische ‚Liebesbriefcorpora‘ bis hin zur Königsklasse pseudo-ovidianischer Liebesdidaktik.
Die Blicklenkung auf diese Texte und die „in ihnen erkennbare Virtuosität“ generiert eine Referenzbasis, auf deren Grundlage die Untersuchung der Dialoglieder des Minnesangs erweiternde Komponenten erkennbar gemacht werden können. Sebastian Riedel lässt in diesem Zusammenhang mit intensivem Blick auf die volkssprachlichen Texte erkennen, was deren Reiz und Qualität ausmacht. Er konstatiert eine „ausgefeilte Kunstfertigkeit der Werbungsdialoge des Minnesangs, die im Schlagabtausch der Argumente, im Einsatz von Wortwitz und überbietungsrhetorischer Ablenkung zu einem Wettkampf um literarische Meisterschaft in sprachlicher Artifizialität und argumentativer Rafinesse mutieren“. Die Stationen dieses Wettkampfes zu definieren und zu kontextualisieren, ist das Movens der Studie, die eine Überarbeitung der Kölner Dissertationsschrift Sebastian Riedels darstellt.
Dieses Ansinnen macht der Verfasser bereits in der knapp 40 Seiten umfassenden Einleitung deutlich, in der es ihm nicht nur darum zu tun ist, allgemeine Aussagen zu treffen, sondern bereits erste Vorstöße in das Arbeitsfeld zu unternehmen oder anders formuliert: einen Vorgeschmack auf das Kommende zu liefern. Explizit wird in diesem Kontext auf den Aspekt des Lehrhaften in der mittellateinischen Dialogdichtung abgehoben, der – durch die Form des Dialoges bedingt – allerdings eine Art ‚streitende‘ oder vielleicht auch ‚streitbare‘ Didaktik mit sich bringt.
Der Weg in das Feld der Minnelyrik ist daher kein unbedingt einfacher, und es werden bereits an dieser Stelle sehr wohl bestehende Unterschiede – auch hinsichtlich der ‚klassischen‘ Minnesang-Ausformung – sichtbar gemacht, denn „der Minnesang als ein Sprechen über Liebe präsentiert sich […] in den Dialogliedern vor allem als ein Sprechen über das Sprechen im Kontext einer Liebesthematik, welches allerdings alles andere als einheitlich ausfällt“. Diese Binnen-Uneinheitlichkeit korrespondiert zum einen mit den gewohnten Minnelyrik-Formen, aber eben auch mit der vom Autor als Basis-Referenz herangezogenen mittellateinischen Tradition, die ihrerseits Texttraditionen der lateinischen Klassik verarbeitet hatte.
Dass unter dem Begriff der ‚Liebe‘ ein weites Feld zusammengefasst werden kann, wird im ersten thematisch für die Fragestellung herausgearbeiteten Großkapitel zu „Werbung und Liebesdiskussion in dialogisch angelegten lateinischsprachigen Texttypen“ deutlich gemacht. Mag der Bezug auf Ovid etwa mit seiner Ars amandi durchaus naheliegen, ist der Blick auf den kaum als Liebesdichter hervorgetretenen Cicero zunächst überraschend. Allerdings, und das ist der Bezugsanker, wird über die amicitia-Bezogenheit des spätrepublikanischen Dichters eben durch das Phänomen der zweckfreien Freundschaft das Phänomen der Gefühlsintensität auf ähnliche Weise als Vorbild tauglich, wie das explizit für die Liebesthematik eines Ovid der Fall ist. Dass auch biblische Traditionen einflossen, zeigt Sebastian Riedel anhand der Adaption des Hoheliedes, die, wie es scheint, jedoch angesichts der Relevanz dieses alttestamentlichen Textes doch recht übersichtlich ausfällt, wohingegen der mittelalterlichen Pastourellen-Tradition deutlich mehr Raum zugemessen wird.
Konkreter und mit teils ausführlichen Textbeispielen unterfüttert sind die sich anschließenden Untersuchungen hinsichtlich etwa der ‚Musterbriefkultur‘, die praktische Vorlagen zum Verfassen von Briefen darstellte. Im Rahmen dieser ars dictaminis werden etwa die Tegernseer Liebesbriefe untersucht und in teils recht umfangreichen Textauszügen vorgestellt.
Diesen folgen die „Gesprächsanleitungen“, in denen mit erkennbarem didaktischem Ziel und expliziter ‚sprechpädagogischer‘ Ausrichtung Dialoge zwischen Mann und Frau fixiert sind. Diese sind dann, so etwa in der Pseudo-Ars amatoria, gewissermaßen ‚Gebrauchsanleitungen‘, mit deren Hilfe Verführung funktionieren soll. Hier wird der Unterschied zur Referenzgattung, dem mittellateinischen Dialog, herausgearbeitet, der die wechselseitige Argumentation Gleichgestellter zur Grundlage hat und nicht quasi eine Art ‚Werkzeugkasten‘ darstellte.
Seriöser erscheint hier der Text Pamphilus, de amore, dessen Duktus trotz komödienhafter Überprägtheit wenig asymmetrische Positionen erkennen lässt. Und dennoch: Der Verfasser erkennt hier immer wieder eine Komik, die durch das Auseinanderfallen von „Sein und Schein“ generiert wird. Auch in diesem Kontext werden umfangreiche Textbeispiele geliefert, die den Argumentationsgang untermauern.
Mit dem Blick auf die Gattung der „Dialoggedichte“ erfolgt die konkrete Annäherung an die im Fokus der Untersuchungen stehenden Dialoglieder des Minnesangs. Hier werden zunächst allgemeine, bisweilen recht formale Aspekte in den Blick genommen, bevor auch explizit die den thematisierten Mann-Frau-Beziehungen zugrunde liegenden Liebeskonzeptionen untersucht werden. Dieses Unterkapitel des ersten thematischen Hauptteils betrachtet in zum Teil sehr ausführlicher Weise Texte wie etwa De iuvene et moniali, die Carmina Florentina sowie – besonders breit vorgestellt – die Werbungsdialoge im Codex Buranus und gibt sie auch in Auszügen wieder. Als weiterleitendes Zwischenfazit steht eine uneindeutige Eindeutigkeit, die darauf hinausläuft, dass enge Verbindungen zur volkssprachlichen Minnedichtung, gerade auch im Hinblick auf eine Art ‚Matrix-Funktion‘, nicht zu leugnen sind, diese aber divergiert und mitunter auch durch Brüche und Antagonismen geprägt zu sein scheint.
Der sich anschließende und mit über 300 Seiten umfangreichste Großabschnitt ist dem eigentlichen Thema, den mittelhochdeutschen Dialogliedern, also den „Werbungsliedern des Minnesangs“ gewidmet. Auch hier wird – in Fortsetzung der hinsichtlich der lateinischsprachlichen Texte getätigten Ausführungen – auf Divergenzen und Unbestimmtheiten verwiesen. Zunächst spürt Sebastian Riedel den Dialogstrukturen in Texten der Sammlung Des Minnesangs Frühling nach, wobei hier als Beispiele Texte des Kürenbergers und Walthers von Mezze angeführt sind. „Strophisch organisierte Dialoglieder“ findet der Verfasser etwa bei Walther von der Vogelweide und Ulrich von Singenberg (jeweils drei Beispieltexte) sowie Munegiur, Hawart und Hugo von Werbenwag (jeweils ein Beispiel); Ulrich von Liechtenstein ist mit zwei Dialogliedern vertreten.
Trotz der grundsätzlichen Uneinheitlichkeit lassen sich demnach bestimmte Parameter als Referenzwerte konstatieren. Genannt wird in diesem Zusammenhang etwa das gemessen an den standardisierten Erwartungshaltungen ‚Ergebnisoffene‘ dieser Gattung oder auch die Brechung tradierter Rollenvorstellungen dahingehend, dass – zumindest im Dialoglied – die Dame mitunter den Disput und damit letztlich das Geschehen dominiert. Diese Aspekte der Erwartungsbrechung werden in anderem Textgattungskontext noch deutlicher herausgearbeitet.
Dieser Aspekt wird in den folgenden drei Unterabschnitten zu den „Pastourellendialoge[n]“, den „[s]tichomythische[n] Dialoge[n]“ sowie den „[n]arrativ eingebettete[n] Dialoge[n]“ untersucht, wobei auch in diesem Zusammenhang der referenzielle Grundbezug zur lateinischen Dialogdichtung immer wieder zumindest implizit anklingt. Dass sich hier insbesondere hinsichtlich der Pastourellen allein schon definitorische Probleme ergeben, wurde bereits im Themenblock zur lateinischsprachlichen Dichtung des Mittelalters angedeutet, wird hier noch einmal angesprochen und darüber hinaus darauf verwiesen, dass je nach unterschiedlicher Interpretation der Parameter Eindeutigkeit der Zuordnung mitunter nur bedingt gegeben, also von Übergangsformen auszugehen ist. Wo die formale Eindeutigkeit nicht gegeben ist, können Wege über den Inhalt gewählt und so zumindest Zuordnungs- und Deutungsmöglichkeiten angeboten werden. Dies ist auch der Grund dafür, dass Riedel trotz formal anderer Einordnungsmöglichkeit die unter den Stichworten der „stichomythischen“ sowie „narrativ eingebetteten“ Dialoge in den Blick genommenen Texte aufgrund ihrer Naturthematik konnotativ eng mit den Pastourellen verbunden sieht.
Die Argumentation ist auch bei diesen Beispielen stringent und einleuchtend und das dialogische Spannungsverhältnis zwischen Frau und Mann als tragendes und konstruktiv-produktives Element der entsprechenden Textgattung(en) gut begründet. Allerdings sollte spätestens an dieser Stelle ein Defizit des Aufbaus Erwähnung finden: das Fehlen überleitender Passagen beziehungsweise eines Zwischenfazits vor dem Eintritt in eine größere Themeneinheit. Selbstverständlich finden sich die relevanten Gedankengänge im Textfluss der jeweiligen Abschnitte, aber da es an die Einzelschritte noch einmal paraphrasierenden Zeilen fehlt, hat das Ganze in gewisser Hinsicht ‚Rohbau-Charakter‘. Formal ist derlei nicht absolut und zwingend notwendig, es würde jedoch, gerade angesichts des nicht unerheblichen Buchumfangs, eine konstruktive Lektüre erleichtern.
Dies gilt denn auch für das uneigentliche Fazit des abschließenden Kapitels, in dem unter der Überschrift „poetica sollertia sine cultu“ Erkenntnisse zu den „poetischen Schnittstellen zwischen volkssprachlicher und lateinischer Literaturtradition“ (so weiter explizit in der Überschrift zu Kapitel 4) verheißen werden. Wird diese Übertitelung ernst genommen, wäre dies eher am Anfang des Buches zu erwarten respektive angemessen, denn hier ließe sich vom Grundsätzlichen zum Speziellen heruntergradieren.
Wie bereits angedeutet, ist dieser Abschnitt eher eine Art Fazit, aber eben eines, das eigenartig vage bleibt. Statt noch einmal die Arbeitsschritte und deren Ergebnisse Revue passieren zu lassen, Abweichungen und Übereinstimmungen zusammenzustellen oder auch grundsätzliche Parameter und deren erfolgreiche oder auch erfolglose Anwendung zu benennen. Stattdessen erfährt der geneigte Leser abschließend (und tatsächlich abschließend!) Folgendes:
Um das Verständnis der Dialoglieder des Minnesangs zu erhellen, aber vor allem auch um den Blick für deren außergewöhnliche Kunstfertigkeit zu schärfen, hat sich die hier vorgelegte Arbeit mit diesem Textcorpus auseinandergesetzt und versucht, einen Beitrag zu dessen Erschließung zu leisten.
Hamlet lässt grüßen. Die Publikation ist fraglos ambitioniert angegangen worden; grundsätzliche wie formale und auch inhaltliche Aspekte der Dialoglieder sind angesprochen, Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede dargelegt worden. Positiv sind die oft sehr umfangreichen Textwiedergaben, die gelegentlich auch mit neuhochdeutscher Übertragung versehen wurden. Aber die jeweiligen Abschnitte stehen merkwürdig allein; eine wirkliche Verknüpfung oder auch nur eine die untersuchten Einzelgattungen verbindende Überleitung ist allenfalls zu erahnen. Oder anders ausgedrückt: Potenziale werden ausgewiesen, deren Umsetzungen dann jedoch ins Leere laufen. Die Lektüre hinterlässt ein eigenartiges Gefühl, vergleichbar mit dem weiterbestehenden Hungergefühl nach einer eigentlich gehaltvollen Mahlzeit – es drängt sich mithin eine Form von Unzufriedenheit auf, die es eigentlich nicht geben sollte.
Ungewöhnlich und für den Umfang der Publikation auch nicht wirklich ideal ist die Realisierung als Taschenbuch, das zwar definitiv nicht in jede Tasche passt, aber trotz des solide wirkenden Pappeinbandes vermutlich früher in Mitleidenschaft gezogen werden wird, als dies bei einer festen Bindung der Fall sein würde. Das ist umso verwunderlicher, als der Preis nicht unerheblich ist. Positiv abgerundet wird die vorliegende Publikation durch eine 50 Seiten umfassende Bibliografie, der ein aussagekräftiges Register angefügt ist, das neben den herangezogenen lateinischen Texten auch historische Persönlichkeiten sowie die thematisierten Minnesänger ausweist. Abschließend bleibt zu sagen: Ein aufgrund der umfangreichen Textbeispiele und stringenten Argumentation interessantes ‚Buch der Möglichkeiten‘, dem aufgrund struktureller Schwächen gleichwohl Essenzielles abgeht.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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