Eine Flohplage in der Bretagne

Auch Fred Vargas‘ elfter Roman um ihren Pariser Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg besticht durch Einfallsreichtum, Witz und Spannung

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn sich der Pariser Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, lässt er sich von niemandem mehr davon abbringen. Dann bleibt er stur, auch wenn ihm alle anderen Angehörigen seines kleinen, aber auserlesenen Teams beim Kommissariat im 13. Arrondissement nicht sofort folgen können und seine Vorgesetzten nicht nachzuvollziehen vermögen, warum seine Wege der Verbrechensaufklärung stets so halsbrecherisch anmuten. Aber die Ergebnisse seiner Arbeit geben ihm halt immer recht. Und so lässt man den ganz auf seine Instinkte vertrauenden, unscheinbaren Mann halt machen. Denn was dieser immer etwas verträumt wirkende Adamsberg anfasst, liefert in der Mehrzahl der Fälle Ergebnisse, mit denen andere dann die Öffentlichkeit beeindrucken können.

Diesmal, im elften Roman der französischen Bestsellerautorin Fred Vargas rund um ihren verschrobenen, den Kopf immer voll mit den seltsamsten Gedanken habenden Kriminalkommissar, dessen Lieblingssatz „Ich weiß es nicht.“ lautet, erregt ein immer größere Dimensionen annehmender Fall in der Bretagne Adamsbergs Aufmerksamkeit. Das Örtchen Louviec hat nur wenig mehr als 1000 Einwohner. Jeder kennt hier jeden und was einer am einen Ende der Ansiedlung tut, weiß man Minuten später bereits am anderen. Die Kriminalität machte bei dieser Lage der Dinge eigentlich bisher immer einen Bogen um den Ort. Und unbesonnen ließen seine Bewohner ihre Häuser offenstehen, auch wenn sie einmal für mehrere Stunden wegblieben. Doch damit ist es nun vorbei.

Denn jemand hat sich offenbar ausgerechnet Louviec ausgesucht, um seine mörderischen Triebe auszuleben. Erst findet man einen hünenhaften Wildhüter mit einem Messer in der Brust, dann entwickelt sich das Ganze nach und nach zu einer Mordserie, die die örtliche Polizei sichtlich überfordert. Spezialisten mit Erfahrung und Gespür müssen her. Und weil Adamsberg just in der Gegend um Louviec vor Kurzem noch durch einen seiner legendären Geistesblitze eine andere Mordserie aufklären und den Täter dingfest machen konnte, nimmt er gern den von ganz oben kommenden Auftrag, an den Ort, in dem er sich schon ein bisschen auskennt, zurückzukehren an. Zumal es rund um die brutalen Mordfälle noch einiges andere Geheimnisvolle gibt, was einen Mann wie ihn noch jedes Mal in seinen Bann zu ziehen vermochte.

Da ist zum Beispiel der Geist des „Hinkenden“, eines Grafen des nahe gelegenen Schlosses Combourg, der 1709 in einer Schlacht ein Bein einbüßte, dessen Ersatz, eine schlichte Holzprothese, noch mehr als dreihundert Jahre später die Bürger erschreckt. Denn immer, wenn sie bisher nachts auf den Gassen zu hören war, drohte jemandem aus der Gemeinde Unheil. Nicht weniger interessant als diesen hölzernen Todesboten findet Adamsberg eine in regelmäßigen Abständen tagende Gesellschaft, in der sich diejenigen Einwohner zusammengefunden haben, die dem Glauben anhängen, man beschädige die Seele eines Menschen, wenn man – absichtlich oder unabsichtlich – auf dessen Schatten trete. Als sogenannte „Schattenschützer“ organisieren die Mitglieder dieses obskuren Klubs die Verteidigung ihrer Welt gegen die „Schattenschmutzer“ – und das mit allen erdenklichen Mitteln. Ob dazu auch Mord gehört, bezweifelt der Pariser Kommissar zwar, aber man weiß ja nie.

Doch nicht nur die bis in die Gegenwart gelebten Mythen der Gegend sind es, die Adamsbergs Aufmerksamkeit erregen, sondern auch eine Reihe von äußerst merkwürdigen Menschen. Denn wie überall in den Romanwelten der Fred Vargas leben natürlich auch in Louviec Verschrobene und Verschwiegene, Geheimnisumwitterte, Gehörnte und all die vielen, die sich durch nichts Besonderes hervortun. Man begegnet einem liebenswerten Gastwirt und exzellenten Koch, hinterhältigen Frauen wie der, welche man „die Viper“ nennt und die von vielen für die „Chef-Schattentramplerin“ gehalten wird, und nicht zuletzt Exzentrikern wie Josselin de Chateaubriand, einem späten Nachfahren des französischen Schriftstellers und Politikers François-René de Chateaubriand (1768 – 1848), der seinem berühmten Ahn wie ein Ei dem anderen ähnelt und deshalb sein Gesicht tagsüber an die Tourismuswerbung vermieten muss.     

Nicht zu vergessen: die Flöhe. Keinem fallen ihre Bisse an den Opfern, deren Zahl auch während der Anwesenheit der Pariser Polizisten wächst, auf. Allein Adamsberg lässt das Thema nicht los. Denn für den Kommissar deuten frische Flohbisse an Körpern, die keine älteren Bissstellen aufweisen, darauf hin, dass die unscheinbaren Tierchen im Augenblick der Tat vom Mörder auf seine Opfer übergesprungen sein müssen – eine Theorie, die, verfolgt man sie nur mit aller Konsequenz weiter, den Kreis der möglichen Täter schon einmal nicht unwesentlich einschränkt.

Jenseits des Grabes konfrontiert seine Leserinnen und Leser mit einer jener typischen Geschichten, wie sie unter allen europäischen Kriminalschriftstellerinnen und Kriminalschriftstellern wohl nur die Historikerin, Mittelalterarchäologin und Archäozoologin Frédérique Audoin-Rouzeau, die als Autorin unter dem Pseudonym Fred Vargas auftritt, erzählen kann. Voller fantastischer Einfälle, liebenswert-skurriler Figuren, poetischer Überspitztheiten und humorvoller Episoden kommt das daher. Erneut dabei bei den Ermittlungen in Louviec sind wieder die hünenhafte Polizistin Violette Retancourt, der Adamsberg auch diesmal viel zu verdanken hat, der aus demselben kleinen Pyrenäenort wie der Kommissar stammende Lieutenant Veyranc, mit dem dieser deshalb auch ohne Worte auf einer Wellenlänge ist, sowie der selbst im größten Trubel seine Schlafpausen benötigende Narkoleptiker Mercadet.

Und natürlich gerät das kleine Polizistenteam aus Paris, das diesmal unterstützt wird durch den einheimischen Kommissar Matthieu und seine Männer, wieder in unvorhersehbare Gefahren, als man seine Kräfte plötzlich auf eine gut organisierte Verbrecherbande konzentrieren muss, deren Mitglieder schon seit ihrer gemeinsamen Schulzeit Angst und Schrecken in der Gegend verbreitet haben. Ob unter ihnen auch der gesuchte Messermörder zu finden ist und welch Gedankenblitz Adamsberg schließlich hinter dessen Identität kommen lässt, soll hier nicht verraten werden. Erwähnenswert ist freilich noch, dass Fred Vargas bei all ihrem Hang zum Surrealen und Exzentrischen die Probleme unserer gegenwärtigen Welt durchaus auch im Auge hat. Denn Adamsberg und die Seinen wissen schon Bescheid über die Risiken, die der Klimawandel mit sich bringt. Und wenn im Monat April, in dem der Roman spielt, schon eine unerträgliche Hitze über dem Land liegt, ist der Gedanke, dass das „nichts Gutes für die Zukunft“ verspricht, durchaus nicht so abwegig.    

Titelbild

Fred Vargas: Jenseits des Grabes. Kriminalroman.
Aus dem Französischen von Claudia Marquardt.
Limes Verlag, München 2024.
528 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783809027829

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch