Letzte Gedichte
Adam Zagajewskis Gedichtband „Das wahre Leben“
Von Daniel Henseler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDen 2021 verstorbenen polnischen Lyriker Adam Zagajewski braucht man im deutschsprachigen Raum nicht näher vorzustellen. Er war mit seinen Gedichten und den Essays zu Fragen etwa des künstlerischen Schaffens bei uns schon längst eingeführt und etabliert. Sein letzter Gedichtband, Prawdziwe życie aus dem Jahr 2019, ist nun als ganzes unter dem Titel Das wahre Leben auf Deutsch erschienen, und dies wieder in der bewährten Übersetzung von Renate Schmidgall.
Zagajewski eröffnet seinen Band mit einem Motto aus Emmanuel Levinas: „Das wahre Leben ist abwesend. Aber wir sind auf der Welt.“ Damit ist der Ton für die insgesamt 54 Gedichte bereits vorgegeben. Man wird in dieser Sammlung keinen neuen, gänzlich anderen Zagajewski entdecken. Die Themen bleiben im Großen und Ganzen dieselben wie früher, wenn sich auch der eine oder andere Akzent unterdessen ein wenig verschoben haben mag.
Auch in diesem Band treffen wir wieder auf Gedichte, in denen der Autor nach seiner Herkunft fragt und seine Familiengeschichte in Erinnerung ruft. Erneut handeln die Texte von den Künsten, der Musik, der Literatur und der Wissenschaft und davon, was diese zu leisten vermögen oder auch nicht. Wir erleben noch einmal einen Zagajewski, der unterwegs ist – etwa in Istanbul, in Griechenland oder in seiner Geburtsstadt Lemberg. Wir begegnen nun allerdings auch einem inzwischen alten Mann, der im Krankenhaus liegt: Das Gedicht „Selbstporträt am Tropf“ ist einer der Höhepunkte des Bandes. Hier fragt sich der Dichter ironisch und ganz ohne Selbstmitleid, ob und wie er noch Anteil am Leben hat, das draußen vor dem Spitalfenster blüht und tobt.
Stärker als in früheren Bänden zieht Adam Zagajewski in Das wahre Leben freilich nun Bilanz, und zwar sowohl auf persönlicher wie auf globaler Ebene. Das lässt sich ganz eindrücklich schon im Eröffnungsgedicht des Bandes, „Das 20. Jahrhundert im Ruhestand“, beobachten. Man kann dieses Gedicht auf jeden Fall als programmatisch für den Band lesen. Darin wird in wenigen, knappen Zeilen und Bildern Rückschau auf ein ganzes, ein schwieriges und kriegerisches Jahrhundert gehalten, bevor dann am Schluss ein gleichermaßen besinnliches wie überraschendes Fazit gezogen wird:
Es gibt nur das Mitleid,
immer zu spät.
„Litość“, Mitleid, Erbarmen ist überhaupt ein wichtiger Begriff in Zagajewskis Lyrik. Auch andere Schlüsselwörter für sein Werk tauchen in Das wahre Leben wieder auf, wie etwa „chwila“ – der Augenblick, der Moment. Dieses Wort evoziert natürlich unter anderem Goethe und den seither immer wieder formulierten Wunsch, der Augenblick möge doch verweilen.
Auch in stilistischer und formaler Hinsicht bleibt Adam Zagajewski erkennbar. Seine Gedichte sind meist von eher erzählender Art, mäandrieren in einem prosanahen Duktus dahin. Reime finden sich bei ihm kaum, dafür aber Assonanzen und manchmal refrainartige Zeilen, die sich mehrfach wiederholen. Oft sind die Gedichte in Strophen gehalten. Bei Zagajewski ist diese Tatsache sicher nicht nur als eine Hommage an die literarische Tradition zu verstehen. Man kann das unter anderem auch als das Bemühen des Dichters interpretieren, der Welt und dem Geschehen (noch) eine gewisse Ordnung einzuschreiben.
Die längeren Gedichte haben oft einen philosophischen, nachdenklichen Charakter. Dabei scheint im Übrigen die Suchbewegung, das tastende Voranschreiten des Denkens, meist wichtiger zu sein als das unbedingte Streben nach einer inhaltlichen Abrundung des Texts. Diesem gemächlich dahinziehenden Flanieren der Gedanken folgt man wie stets bei Zagajewski sehr gerne und mit Gewinn. Nicht umsonst hat die Bewegung, haben Reisen und Pilgern dem Dichter schon immer wichtige Impulse gegeben. Letztlich stellt das Unterwegssein – auf dem Planeten wie im Kopf – für ihn wohl auch eine Bedingung dar, ohne die seine Art des Schreibens gar nicht möglich wäre.
Selten sind Zagajewskis Gedichte nur wenige Zeilen lang. Gerade in solchen Fällen kann eine wunderbare, dichte Miniatur entstehen, wie das folgende Beispiel zeigt. In knappen Versen wird hier die – wirtschaftliche und private – Beziehung eines Paares ausgeleuchtet:
FEIGEN
Feigen sind süß, aber sie halten nicht lange.
Durch den Transport verderben sie schnell,
sagt der Inhaber des Lädchens.
Wie Küsse, fügt seine Frau hinzu,
eine gebeugte Alte mit fröhlichen Augen.
Dieses Gedicht beweist zugleich, dass Zagajewski das lyrische Ich für einmal auch ganz aus einem Gedicht herauszuhalten vermag. Aber es stimmt schon: Adam Zagajewski gehört zweifellos zu denjenigen Autoren, für welche ein Erkennen der Welt kaum möglich ist, ohne dass die äußeren Eindrücke durch das Bewusstsein eines reflektierenden und analysierenden Ich hindurchgespült werden.
Das Verbindende an den Gedichten in diesem Band ist die manchmal offensichtliche, dann wieder eher verborgene Frage: Wie kann, wie soll man leben? – Und sie wird in diesen letzten Gedichten Zagajewskis vielleicht noch heimlich übertroffen durch eine andere: Habe ich richtig gelebt? – Köstlich liest sich auf diesem Hintergrund das letzte Gedicht des Bandes. Hier wird aus einem „Erratum“ zu einem Buch zitiert: Dieses Erratum sollte eigentlich Fehler korrigieren, steckt aber dann selbst voller Fehler! Und so schließt Adam Zagajewski seine Bilanz zum wahren Leben mit folgendem Gedanken: Letztlich wissen wir nicht einmal, „ob das Erratum wirklich frei ist von Fehlern“ … Den Dichter bei solchen Einfällen zu begleiten, ist auf jeden Fall ein wahres Vergnügen!
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