Den Göttern in Weiß ausgeliefert
Alexander Kamber zeigt in „Nachtblaue Blumen“ die verheerenden Auswirkungen für Frauen in der Psychiatrie Ende des 19. Jahrhunderts
Von Liliane Studer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer nicht der Norm entsprach, musste krank sein, psychisch krank. Und demzufolge interniert werden in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik. Dies widerfuhr der jungen namenlosen Tänzerin, deren handschriftliche Aufzeichnungen der „Herausgeber“ zufällig entdeckte „in der persönlichen Bibliothek des berühmten Neurologen Jean-Martin Charcot, die als Teil seines Nachlasses an der Sorbonne verwahrt wird“, wie er in der Anmerkung zu seinem schmalen Roman Nachtblaue Blumen festhält. „Die Aufzeichnungen sind mit keiner Autorschaft versehen und undatiert, sie müssten aber schätzungsweise um 1890 in der Pariser Nervenheilanstalt der Salpêtrière verfasst worden sein, die noch heute fortbesteht. Die meisten Schicksale der überwiegend weiblichen Patientinnen, die dort interniert und von der Welt vergessen wurden, liegen im Dunkeln.“ Im Folgenden erzählt nun Alexander Kamber die Geschichte dieser einen Patientin – einfühlend, leise, poetisch.
Die Ich-Erzählerin (denn es handelt sich ja um deren Aufzeichnungen, wie die Anmerkung des Herausgebers besagt – und man könnte ihm fast glauben, dass sie tatsächlich echt sind) arbeitet erfolgreich in einem Pariser Varieté, bis sie eines Tages beschließt, nicht mehr tanzen zu wollen. Für ihren Patron bedeutet das zum einen großen Verlust, verbunden mit Unverschämtheit, denn schließlich war er es , der sie aus dem Waisenhaus geholt und ihr alle Türen für eine erfolgreiche Laufbahn – unter seiner Kontrolle, wohlverstanden – eröffnet hat. Zum anderen kann es sich bei dieser Verweigerung nur um ein krankhaftes Verhalten handeln, und deswegen bringt er sie in die Salpêtrière, die bekannte Nervenheilanstalt in Paris. Hysterie wird die rätselhafte Krankheit benannt, die bei so mancher jungen Frau diagnostiziert wird. In der Salpêtrière dienen die Patientinnen als Forschungsobjekte, sie werden im Auditorium den (angehenden) Ärzten vorgeführt, die ihre unkontrollierten Bewegungen, rollenden Augen, Zusammenbrüche interessiert verfolgen. Nackt (im buchstäblichen und im übertragenen Sinne) stehen die jungen Frauen da, schutzlos ausgeliefert, missbraucht. Geschickt werden sie abhängig gemacht und wird die Konkurrenz untereinander gefördert, gilt es doch als Privileg, vor versammeltem männlichem Publikum präsentiert zu werden.
Die junge Tänzerin findet unter den Frauen eine Gleichgesinnte, eine Freundin. Cléo arbeitete bei einem Magier, der Automaten herstellte (und plötzlich verschwindet). Seine Konstruktionen hatten viele Ähnlichkeiten mit den Patientinnen in der Klinik, sie wurden von einem Räderwerk im Inneren angetrieben – und sie hatten zu funktionieren. Auch die beiden Frauen haben nach den Vorstellungen der Ärzte zu funktionieren, die Behandlungen, die sie erfahren, führen zu immer größerer Abhängigkeit und Unselbständigkeit, ja, sie werden kränker und kränker, sie sollen gebrochen werden, sie sollen werden, was die Ärzte und die Gesellschaft für sie vorgesehen haben.
Alexander Kamber erzählt die Geschichten dieser Frauen in seinem schmalen feinen Roman Nachtblaue Blumen sprachlich überzeugend. Mit seiner Anmerkung schafft er es geschickt, die Echtheit der Geschichte zu betonen, und er findet den richtigen Ton für die Aufzeichnungen der Tänzerin/Patientin. Dass es sich dabei jedoch nicht nur um eine trostlose aussichtslose Geschichte handelt, ist das große Verdienst des noch jungen Autors (geboren 1995), der hier erst seinen zweiten Roman vorlegt. Denn sowohl die Ich-Erzählerin wie ihre Freundin wollen nicht aufgeben, sehnen sich nach draußen, wenn auch nicht dorthin zurück, wo sie hergekommen sind. Am Ende gelingt es Cléo, die Anstalt zu verlassen (übrigens eine geschickte Kleptomanin, was ihr bestimmt nützlich sein wird). Das Schicksal der Ich-Erzählerin bleibt für die Leser:innen unbekannt. Doch die Hoffnung ist trotz allem da.
|
||