Berlin Palästina London – die unermüdlichen Lebensentwürfe der Gabriele Tergit

Nicole Henneberg hat die Biographie der vertriebenen und lange vergessenen Autorin geschrieben

Von Marita MeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marita Meyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es gleich vorneweg zu sagen: Nicole Henneberg ist die beste Biographin, die man sich für die Journalistin und Schriftstellerin Gabriele Tergit wünschen kann. Gemeinsam mit dem Schöffling-Verlag gibt sie seit einigen Jahren deren Werk heraus. Bei den Romanen Käsebier erobert den Kurfürstendamm und Effingers handelt es sich um Neu-Editionen, bei weiteren Romanen und Reportagen um Erstveröffentlichungen aus dem Nachlass. Für die Biographie über Tergit konnte Henneberg auf ihr gesammeltes Wissen aus der Archivarbeit zurückgreifen. Außerdem stand ihr ein riesiges Konvolut von Briefen zur Verfügung, da die Autorin offenbar eine enthusiastische Briefeschreiberin war. Auf der Grundlage dieser Briefe, der spät verfassten Memoiren der Autorin sowie einigen wenigen Interviews zu Lebzeiten zeichnet Henneberg das außerordentlich bewegte Leben Gabriele Tergits nach. Dabei hat sie stets die Entstehung des beeindruckenden Lebenswerks der Autorin im Blick, das so spät erst in Deutschland wiederentdeckt wurde.

Henneberg erzählt Tergits Lebensgeschichte (1894 – 1982) exemplarisch für eine berufstätige und unabhängige Frau am Anfang des 20. Jahrhunderts – sie war das, was man eine „Neue Frau“ nannte – und auch exemplarisch für eine Jüdin, die zur Emigration gezwungen wurde, und die zu Lebzeiten nie mehr an ihre frühen Erfolge anknüpfen konnte.

Geboren wurde die Autorin noch im 19. Jahrhundert als Elise Hirschmann. Der aus dem fränkischen Ansbach stammende Vater Siegfried Hirschmann hatte früh die Bedeutung der Elektrizität erkannt und wurde ein Pionier der aufkommenden Industriezeit in Berlin. Dort gründete er die Kabelwerke Hirschmann, die zu einem der bekanntesten und größten Unternehmen im Berlin der 1920er Jahre wurden. Die Geschichte des Vaters wird später ein Vorbild für die Gestaltung des Schraubenfabrikanten Paul Effinger im Roman Effingers liefern. Die Mutter war eine Kaufmannstochter aus München. Ihr vor allem verdankt die junge Elise Hirschmann, die sich schon in ihrer Studienzeit den Künstlernamen Gabriele Tergit gibt, eine Erziehung frei von zeittypischen Einschränkungen. So darf sie als Mädchen „aus gutem Hause“ mit den Kindern der Fabrikarbeiter auf der Straße spielen und erhält ebenso wie der Bruder eine gute Schulbildung. Fabrik und elterliche Wohnung liegen im armen Osten Berlins. Tergit ist zwölf Jahre alt, als die Familie ins bürgerliche Tiergartenviertel umzieht. Die Kenntnis beider sozialer Welten wird sie als Autorin und vor allem als Journalistin prägen. Einen weiteren Baustein für Tergits soziale Sensibilität sieht Henneberg im Besuch der „Sozialen Frauenschule“ in Schöneberg. Die Lehrerinnen der Schule sind bekannte Frauenrechtlerinnen: die Schulgründerin Alice Salomon, die Vorsitzende des Deutschen Frauenvereins Gertrud Bäumer und die Sexualreformerin und Gründerin des Bundes für Mutterschutz Helene Stöcker. Kein Wunder, dass die 21jährige Tergit ihren ersten Zeitungsartikel über die Notwendigkeit von mehr Bildung für Proletarier- und Kleinbürgertöchter schreibt: „Frauendienstjahr und Berufsbildung“ erscheint 1915 im Berliner Tageblatt. Es war dann laut Henneberg die Kriegsbegeisterung ihrer Lehrerinnen, die Tergit später auf Distanz zu dieser Generation der Frauenrechtlerinnen gehen ließ.

Gegen den Wunsch der Eltern setzt Tergit nach dem Ersten Weltkrieg ein Studium der Geschichte durch, das sie nach Stationen in München und Heidelberg bei Friedrich Meinecke in Berlin mit einer Promotion abschließt. Sie war nicht die einzige, die nach 1918 die Chance ergriff, die der neue Hochschulzugang für Frauen bot, aber Doktorandinnen im Fach Geschichte waren noch eine Seltenheit. Zweifellos ist es der geschulte Blick der Historikerin, von der die exakt und ausgiebig recherchierten soziologischen und ökonomischen Kontexte in ihren Romanen profitieren werden.

Auch der Beruf der Journalistin galt zu Tergits Zeit als unpassend für eine Tochter des gehobenen Bürgertums. Sie schreibt im neu entstandenen Format der Gerichtsreportage zunächst für den Börsen-Courier, dann für das angesehene, liberale Berliner Tageblatt. Mit ihrem Gehalt kann sie Ende der 1920er Jahre die Familie, Mann und Sohn, samt Kindermädchen versorgen. Ihr Mann, der Architekt Heinz Greifenberg, erhält zu dieser Zeit wegen der Immobilienkrise wenig Aufträge, auch Antisemitismus spielt eine immer größere Rolle. Greifenberg stammt aus einer der wohlhabendsten Familien Berlins, die Stadtverordnete und Mäzene zu ihren Mitgliedern zählt. Im großbürgerlichen Milieu dieser Familie hat Tergit manches Vorbild für ihren Berlin-Roman gefunden. Vor allem die reich ausgestattete Familienvilla wird als Schauplatz in den Roman eingehen. Sie befand sich am Ort, wo heute die Berliner Philharmonie steht.

Mit ihren Gerichtsreportagen wird Tergit zu einer der bekanntesten und beliebtesten Journalistinnen der Republik. „Sie machte mit ihrem erzählerischen Stil und der konsequenten Haltung Eindruck“ (Henneberg). So schreibt sie erschütternde Berichte über die Schicksale junger Mädchen, die der §218 vor Gericht gebracht hatte. Auch hält sie mit klarem Blick die Nähe mancher Richter zur Ideologie von angeklagten Nationalsozialisten fest, unter ihnen auch einmal ein gewisser Adolf Hitler. Als sie auch mit ihrem ersten Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm, einer Satire über die Boulevardisierung einer angesehenen Zeitung, bei Kritik und Publikum erfolgreich ist, ist sie auf dem Weg, eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Hauptstadt zu werden. Vor allem ihre kritischen Reportagen bescheren Tergit allerdings auch die Aufmerksamkeit der Nazis. Am 4. März 1933, nur wenige Tage nach dem Reichstagsbrand, steht eine berüchtigte SA-Truppe vor ihrer Wohnungstür. Nur knapp entgeht sie der Verhaftung und flieht schon am nächsten Tag über die tschechische Grenze ins Riesengebirge. Mann und kleiner Sohn bleiben zunächst in Berlin.

Palästina wird ein halbes Jahr später die zweite Exil-Station, nachdem ihr Mann dort Bau-Aufträge erhalten hat. Es werden fünf schwierige Jahre in Palästina. Neben alltäglichen Versorgungsproblemen plagt die Hitze und es grassieren Krankheiten. Der Mann erkrankt schwer an Kinderlähmung, der Sohn an Typhus, sie selbst an einer seltenen Hautkrankheit. Schwerer noch wiegt die politisch-gesellschaftliche Situation. Deutsche Juden, Jeckes genannt, erfahren viel Ablehnung. Die Mehrheit der Einwanderer stammt aus Polen und Russland und hat wenig Verständnis für die besondere Gruppe der urbanen assimilierten Juden, die wie Gabriele Tergit schweren Herzens ihre deutsche Heimat verlassen haben. Besonders für die überzeugten Zionisten ist der Antisemitismus in Deutschland ein Beweis dafür, dass die Emanzipation des Judentums gescheitert ist. Zum Entsetzen Tergits zeigen manche Zionisten sogar Verständnis für den deutschen Judenhass.

Trotz dieser gesellschaftlichen Konflikte und trotz des mühevollen Alltags bereist Tergit mit ihrer journalistischen Neugierde das Land, durchaus fasziniert vom Aufbruchsgeist und von den vielfältigen Formen jüdischen Lebens, die sich in dem kleinen Land mischen. Ihre Reportagen und Erzählungen aus dieser Zeit kann sie in Palästina allerdings nicht veröffentlichen, da es kaum deutsche Zeitungen oder Zeitschriften gibt. Hebräisch dagegen beherrscht sie nicht. Ohnehin wären ihre Texte wohl zu kritisch und zu anti-zionistisch gewesen. Noch aus dem späteren Londoner Exil veröffentlicht sie nur ausgesuchte Texte, um nicht missverstanden zu werden. Zu ihren Lebzeiten bleibt die Gesamtheit der Palästina-Reportagen unveröffentlicht. Auf der Internetseite des Schöffling-Verlags ist eine neue Edition dieser Reportagen für August 2024 angekündigt, ebenfalls von Nicole Henneberg herausgegeben. Man darf gespannt auf diesen Band sein!

1938 gelingt der Familie mit britisch-palästinensischen Pässen eine Einreise nach England, wo sie sich willkommen fühlt und ein zu Hause findet, obwohl auch hier die Lebensbedingungen während des Krieges alles andere als einfach sind. In London kann Gabriele Tergit endlich am noch in Berlin begonnenen Familien- und Zeitroman Effingers weiterschreiben, den sie 1948 abschließt. Nach zermürbender dreijähriger Suche nach einem Veröffentlichungsort erscheint der Roman schließlich im Jahr 1951, allerdings gekürzt und bei einem kleinen deutschen Verlag. Er wird von deutschen Buchhändlern nicht beworben und findet trotz einzelner wohlwollender Rezensionen kein Publikum. Größer könnte der Kontrast zur Reaktion auf die Neu-Edition im Jahr 2019 nicht sein, als der Roman zu einem Bestseller wurde und reihum euphorische Kritiken in den Feuilletons erhielt. Wie konnte es also sein, dass die Bedeutung dieses Werks, das ein einzigartiges, lebendiges Panorama deutsch-jüdischer Geschichte von 1873 bis 1939 darstellt, voller authentischer und einnehmender Sequenzen etwa zu Gesellschaft, Ökonomie, Kunstgeschichte, Frauenemanzipation und Judentum, erzählt in klarem, pointierten, mit den Formen der Moderne vertrauten Stil, ausgestattet mit einem riesigen Arsenal unterschiedlichster Figuren und Typen, dass die Bedeutung dieses Werks Anfang der 1950er Jahre verkannt wurde? Nicole Henneberg berichtet vom Papiermangel der Nachkriegszeit, von den verloren gegangenen Kontakten zum deutschen Literaturbetrieb, auch von einzelnen jüdischen Stimmen unter den Überlebenden, die sich sorgten, dass die Zeit nicht reif sei für differenziert dargestellte jüdische Charaktere. Den Hauptgrund aber sieht sie darin, dass das nichtjüdische Publikum in Deutschland nicht an die Geschichte des deutschen Judentums erinnert werden wollte, schon gar nicht von einer jüdischen Emigrantin. So muss es wohl gewesen sein.

Die ausbleibende Resonanz auf ihren wichtigsten Roman ist schmerzhaft für Gabriele Tergit. Dennoch schreibt sie auch im Londoner Exil weiter: Romane, die unveröffentlicht bleiben, und kulturgeschichtliche Garten- und Blumenbücher, die dagegen sehr erfolgreich sind. Ihren „archimedischen Punkt“ (Henneberg) findet sie beim Exil-PEN, dessen engagierte und streitbare Sekretärin sie 1957 wird. Obwohl Tergit durch ihre Arbeit für den PEN auch Kontakte zum deutschen Literaturbetrieb hat, werden die meisten ihrer Texte weiter abgelehnt. Aufschlussreich, vielleicht ebenfalls exemplarisch, sind Hennebergs Recherche-Ergebnisse zu Tergits Verhältnis zur Nachkriegsliteratur und ihren Vertretern in Ost- und in Westdeutschland. Zur DDR blieb sie stets auf Distanz. Schon 1937 hatte sie das Angebot von Alfred Kantorowicz abgelehnt, für die Exilzeitschrift Das Wort zu schreiben, weil diese von Moskau finanziert wurde. Derselbe Kantorowicz verhinderte daraufhin, dass Tergit bei einer großen Emigranten-Ausstellung in Paris vorkam. Dieses Ausblenden setzte sich dann bei der deutschen Exilforschung in den Nachkriegsjahren fort. Aber auch dem westdeutschen Literaturbetrieb, der von der Gruppe 47 dominiert wurde, steht sie ablehnend gegenüber. Das dort verbreitete autoritäre und selbstgefällige Gebaren erinnert sie an Strukturen, die einmal den Aufstieg des Nationalsozialismus befördert hatten. Tatsächlich scheint Gabriele Tergits Nachlass weiteres Material für die These vom ausschließenden Verhalten dieser Gruppe gegenüber Exilanten und gegenüber Frauen zu liefern. „Mit ihrer politischen Haltung setzte sich Tergit mitunter auch provokant zwischen alle Stühle“ schreibt Henneberg. Eine unabhängige und pointiert-kritische Stimme wie die von Gabriele Tergit war offenbar im Nachkriegsdeutschland, in Ost wie West, nicht willkommen.

In der Biographie von Nicole Henneberg steht neben dem exemplarischen Schicksal die Beziehung zwischen Leben und Werk im Mittelpunkt. Dabei ist die Journalistin und Literaturwissenschaftlerin Henneberg nicht nur eine kenntnisreiche Biographin, sondern auch eine kluge Interpretin des Werks. Wer sich wissenschaftlich mit Gabriele Tergits Werken beschäftigt, wird an dieser Biographie nicht vorbeikommen. Sie ist ein Fundus an Werk- und Quellenverweisen, biographischen Zusammenhängen und Anregungen zum Weiterdenken. Es ist aber auch ein spannendes Buch für alle, die nach der Lektüre eines Tergit-Romans mehr über die Autorin wissen wollen und besser verstehen wollen, wie ein solches Talent vergessen werden konnte. Nur wer ein psychologisches Künstlerinnenporträt erwartet, wird vielleicht enttäuscht werden. Ähnlich der Roman-Autorin Tergit legt die Biographin Henneberg weniger Wert auf die individuelle Charakterstudie als auf die zeithistorischen Kontexte, in denen sich das Individuum entwickelt. Der Titel „Zur Freundschaft begabt“ könnte ein wenig in die Irre führen.

Titelbild

Nicole Henneberg: Gabriele Tergit. Zur Freundschaft begabt.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2024.
400 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783895614767

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