Von der Wahrheit und anderen Lügen

Vexierspiel zwischen Wahrheit und Fiktion: Friedemann Karigs Roman „Die Lügnerin“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

König Midas ließ einst alles, was er berührte, zu Gold werden. Clara Konrad dagegen verwandelt jede Lüge, die sie erzählt, in Wahrheit. Und auch bei Friedemann Karigs Protagonistin stellt sich die Frage, ob diese „Gabe“ nicht doch eher ein (womöglich auch erzähltechnischer) Fluch ist. Wie im Fall ihres Arbeitskollegen Pavel, in den Clara unglücklich verliebt ist. Um ihr Selbstwertgefühl zu schützen, erzählt sie, es sei genau andersherum, er verzehre sich nach ihr. Kurz darauf erfährt sie, dass sich Pavel in einem Anfall von Liebeskummer vom Dach gestürzt hat.

Nun ist Clara Konrad aber nicht nur die Hauptfigur in Karigs neuem Roman; sie ist auch noch dessen Erzählerin. Womit die narrative Ausgangslage einigermaßen vertrackt wird. Denn Claras Publikum geht es so wie einst den Zuhörern des Kreters Epimenides, der behauptete, alle Kreter seien Lügner. Gleich zu Beginn bekennt Karigs Erzählerin, sie könne gar nicht anders als zu lügen, das sei einfach ihre Natur, nur um wenig später treuherzig zu versichern, „heute“ sei sie aber ehrlich, „aus Gründen, die man später verstehen wird“. Sicher. Ob Pavel also den Sturz gegen alle Wahrscheinlichkeit überlebt hat, muss ebenso offenbleiben wie die Frage, ob Claras Lügen tatsächlich auf magische Weise die Wirklichkeit verändern können oder nicht. Genau genommen ist nicht einmal sicher, ob es ihren Arbeitskollegen überhaupt gibt.

Wir haben es also mit einer unzuverlässigen Erzählerin zu tun, womöglich der unzuverlässigsten in der Literaturgeschichte. Die Ungewissheiten und Paradoxien, die sich einem bei der Lektüre stellen, spiegeln sich auf der Handlungsebene in den Konflikten, die Claras Bericht bei ihrer textinternen Zuhörerin auslöst, einer „Beraterin“ in einem Zauberberg-ähnlichen „Institut“ in den Bergen, in das sich Clara freiwillig begeben haben will – aber natürlich erst, nachdem sie sich dessen Existenz herbeifantasiert habe. In der Klischeerolle einer größenwahnsinnigen Patientin erzählt Karigs Hauptfigur ihrer Therapeutin von den turbulent-schrecklichen Ereignissen, seit ihre Lügen eines Tages anfingen, Realität zu werden.

Denn bis dahin war Clara, wie sie berichtet, einfach nur eine talentierte Schwindlerin, die sich in einem Astrologie-Callcenter verdingte, wo sie verzweifelten Menschen tröstlichen Unsinn auftischte. So lange, bis sie eines Tages von einer geheimnisvollen Kundin erfuhr, dass all ihre Vorhersagen eingetroffen seien. Und wer eine solche „Superkraft“ besitze, solle sie auch nutzen, im Kasino zum Beispiel. Claras Reise nach Las Vegas an der Seite der teuflisch-verführerischen Siri von Morgenstern ist nur der Beginn eines wendungsreichen Vexierspiels zwischen Wahrheit und Fiktion, in das viele der Fragen eingeflossen sind, die Karig zwei Jahre zuvor, gemeinsam mit Samira El Ouassil, in dem Sachbuch Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien – Wie Geschichten unser Leben bestimmen ventilierte.

Können Menschen beispielsweise wirklich gar nicht anders als zu lügen, weil jedes Auslassen, jedes Selektieren von Informationen schon eine Abweichung von der „ganzen“ Wahrheit sei, also eine Verfälschung? Ist unsere Identität nichts als die Summe der Geschichten, die wir über uns erzählen, wie Clara behauptet? Oder die, von denen wir glauben, dass andere sie sich über uns erzählen (so ihre Therapeutin)? Und warum ist für Karigs Erzählerin nichts wichtiger, als dass ihre Zuhörerin – und damit auch die Leserschaft des Romans – ihr glaubt? „Wahrheit gibt es nur zu zweit, sagte meine Großmutter“, erinnert Karigs Erzählerin, und ihre Ansage an ihre skeptische Zuhörerin – „Ich bin in Ihrem Kopf, ob Sie wollen oder nicht. Ich bestimme, was Sie denken, was Sie sehen, sogar was Sie fühlen.“ – gilt ebenso für die Leserin, den Leser.

Soweit, so formal-ästhetisch interessant, könnte man sagen. Nur dass Karigs literarisches Gedankenexperiment leider selten zu einer packenden Lektüre wird. Was wohl daran liegt, dass ein Autor, der die Schleusen zwischen Wahrheit und Fiktion öffnet, einen unheilvollen Sog in beide Richtungen erzeugt. Denn so wie für Clara ihre Flunkereien Realität werden, entpuppt sich für die Leserin, den Leser jedes Handlungselement und jede Nebenfigur letztlich nur als Claras Erfindung. Wozu sich aber dann überhaupt auf die Handlung einlassen? Dass diese ohnehin überwiegend aus Versatzstücken besteht, lässt vermuten, dass diese Frage auch dem Autor zu schaffen machte.

Titelbild

Friedemann Karig: Die Lügnerin. Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2023.
221 Seiten , 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783550201684

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