Wenn die Mutterliebe versagt
Christina Wessely thematisiert in „Liebesmühe“ postpartale Depression
Von Michael Fassel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs fällt ihr schwer, morgens aufzustehen, um ihren neugeborenen Sohn zu versorgen. Ihr Leben hat sich seit der Geburt massiv verändert. Sie empfindet wider Erwarten keine Liebe für ihr Wunschkind und weiß zugleich, dass sie nicht der Norm entspricht. Wann setzt die seit Jahrtausenden so viel beschworene Mutterliebe endlich ein? Aus der personalen Perspektive schildert die Autorin Christina Wessely in ihrem Buch Liebesmühe die Zeit als Mutter mit postpartaler Depression. Charakteristisch für diese Art der Depression ist die fehlende Bindung zum Baby nach der Geburt. Mit dieser Situation ist die Mutter überfordert. Ratgeber, Social Media und einschlägige Internet-Foren helfen nur bedingt, denn sie erweisen sich als moralische Zeigefinger. Die Mutter bleibt mit der Überforderung alleine: „Sie weiß nicht so recht, was sie tun soll. Was soll sie mit dem Baby anfangen?“
Das Schreiben erscheint als Bewältigungsmöglichkeit. Programmatisch formuliert die Autorin im Prolog: „Das Schreiben ist eine mächtige Geste der Aneignung, in der Lage, das Fremde in Vertrautes zu verwandeln.“ Die Erzählerin holt zum Rundumschlag gegen die Gesellschaft und vor allem gegen das Patriarchat aus – vermischt mit Seitenhieben gegen ideologisierendes Gedankengut, das die Mutter vor allem innerhalb des „Natürlichkeitsdiskurses“ auf den Thron setzt.
Die Auseinandersetzung mit der „Kritik an Natürlichkeits- und Naturvorstellungen“ führt zu einem schlaglichtartigen Abriss eines Bildes von Mütterlichkeit. Seit jeher, so der Kerngedanke verschiedener Fachdisziplinen, wird die Mutter idealisiert. Die erörternden Kapitel und Passagen, die sich auf die Kulturgeschichte stützen, tragen zu einem erhellenden kulturwissenschaftlichen Diskurs über die Darstellung von Mütterlichkeit bzw. Mutterschaft bei. Da sind beispielsweise die sogenannten „,Momfluencerinnen‘ und ,Babypäste‘“, worunter auch die Autorin Nicola Schmidt zählt, die es mit ihrem Ratgeber artgerecht – Das andere Baby-Buch (2015) auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat. Kritisch diskutiert Wessely, dass Schmidt „kulturelle Errungenschaften“ als Bedrohung des „,artgerechten‘ Menschenlebens“ betrachtet.
Die Autorin schildert überdies einige Szenarien, die sie überwältigen. Sie möchte ihrem Leben wieder Stabilität verleihen, indem sie es in Einklang bringt mit Mutter- und Frausein. Keineswegs möchte sie ihre neue Rolle auf Gespräche über ihr Baby reduzieren. Die Welt außerhalb des Hauses scheint für sie weit entfernt, ja nicht mehr zugänglich zu sein. Bereits vor der Geburt fehlte ihr der Zugang zum „Natürlichkeitsdiskurs, der bereits während ihrer Schwangerschaft rundherum gepflegt wurde.“
Wesselys schillerndes Buch ist weder Roman noch Autobiografie oder -fiktion, vielmehr nähert sich die Autorin ihrem Gegenstand essayistisch. Während der Lektüre entsteht der Eindruck, dass hier drei verschiedene Persönlichkeiten schreiben. In der Rolle der postpartal-depressiven Mutter schildert sie subjektiv, wie sie die Welt und die anderen Mütter wahrnimmt. Das Versinken in die Einsamkeit umschreibt sie literarisch: „Wie die Nixe im Märchen zieht sie sich zurück in ein dunkles Loch.“ Daneben sticht auch die wissenschaftliche Darlegung der Kulturhistorikerin hervor, wenn sie schlaglichtartig, aber dennoch fundiert die Geschichte von Mütterlichkeit durchspielt.
Stellenweise ist ein latent aggressiver bis sarkastischer Duktus zu bemerken. Im letzten Kapitel zeigt sich schlussendlich die versöhnliche Mutter, die darüber reflektiert, ob sie bestimmte Textteile streichen sollte. Letztendlich aber beschließt sie, alles, was sie unter dem Einfluss ihrer Depression zu Papier gebracht hat, stehen zu lassen – gleichsam als Zeugnis. Dabei dürften sich Leser:innen am Ende fragen, ob die Absage an den „Mythos des Mutterinstinkts“ durch diesen doch sehr harmonisch wirkenden Abschluss relativiert wird.
Ihr Anspruch, so die Autorin, sei es, postpartale Depressionen zu enttabuisieren, da diese hierzulande immerhin viele Mütter betreffen. Dafür greift sie zu sehr drastischen und eindrucksvollen Beschreibungsmitteln. Wessely hat primär nicht den Anspruch, einen Ratgeber zu verfassen, aber möglicherweise erkennen sich betroffene Mütter in diesem Buch wieder, so dass sie Bestätigung und Zusprache darin finden können.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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