Das Ende des Wünschens

Levin Westermanns Romandebüt „Zugunruhe“ ist ein aufwühlendes Manifest über den Klimawandel und das zerrüttete Verhältnis von Mensch und Natur

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits mit seiner vor drei Jahren erschienenen Essaysammlung Ovibos Moschatos hat der in der Schweiz lebende deutsche Lyriker Levin Westermann eindrücklich gezeigt, dass er ein überaus spannender, vor allem aber origineller Autor von Prosatexten ist. Seine Themen kreisen um das Verhältnis des Menschen zur Natur, besser gesagt, dessen wachsende Weigerung, diese naturgemäß symbiotische Beziehung anzuerkennen. Hierbei betont Westermann immer wieder seine besondere Beziehung zum Wald; ein Ort der Dunkelheit, aber auch ein Ort der Einkehr, der Bedrohung und der Reinigung, eindrucksvoll auch aus historischer Perspektive der im Band vorhandene Folk-Horror-Essay „Black Philipp“.

Aus seinem Romandebüt Zugunruhe kann man herauslesen, dass Westermann eigentlich eine Auftragsarbeit ausführen wollte, nämlich einen längeren Essay über den Wald zu schreiben. Am Ende scheitert der Autor krachend an der Aufgabe, weil der alarmierende Zustand unserer Welt ihm dazwischengekommen ist. Tatsächlich fallen einem zu diesem ungewöhnlichen Buch zwei Referenzpunkte ein. Der erste ist eher anekdotisch: 1984, auf dem Höhepunkt der Rüstungsdebatte und der Angst vor einem Atomkrieg, möchte Wolfgang Niedecken für seine Band BAP einen Politsong schreiben, der im Stil seiner ganz frühen, von Ironie und Klamauk geprägten Stücke gehalten ist. „Drei Wünsche frei“ beginnt mit einem lyrischen Ich, das sich eine Flasche Bier öffnet, aus der allerdings eine Gute Fee entschwebt, die ihm drei Wünsche gestattet. Der Erzähler erbittet sich ein wenig Bedenkzeit und schaltet zur Entspannung das Radio an. Nun kippt der Song vom Lustig-Absurden ins Bitterernste, das lyrische Ich verzweifelt angesichts von Kriegen, Not, Elend, Angst, Apokalypse und vergisst am Ende sogar, worum es in dem Lied eigentlich ursprünglich gegangen ist, bevor er sich doch noch an die Fee erinnert, aber das Gedankenspiel nicht mehr zu Ende spielen möchte. Niedecken selbst beschreibt im Beiheft zum Album Zwesche Salzjebäck un Bier, auf dem sich der Song befindet, das er beim Schreiben von der Realität eingeholt worden sei, und den Text so nicht mehr in der lustig-jovialen Art beenden konnte, in der er begonnen hat.

Ähnliches widerfährt Westermann in Zugunruhe, womit wir beim weitaus zentraleren Referenzpunkt wären, W.G. Sebalds Roman Die Ringe des Saturn. Die Parallelen der ersten beiden Teile von Zugunruhe zu Sebalds Meisterwerk sind unverkennbar: Ein Ich-Erzähler läuft durch die Natur, zunächst in Nordrhein-Westfalen, wo er sich zu einer Tagung aufhält, dann in seiner Schweizer Heimat Biel, und sinniert über die Landschaft, die sich dort zugetragene Geschichte. Er findet Assoziationen zu anderen Orten, anderen kulturellen Ereignissen und kommt immer wieder auf die schwindende Bedeutung der Natur im Leben der Menschen zurück. Das Ganze wird, wie bei Sebald, untermalt von Bildern und Fotografien des Gesehenen, Beschriebenen, Erlebten.

Doch im Verlauf seiner Erzählung, die im Grunde keine ist, verliert sich der Ich-Erzähler immer mehr in seiner eigenen Verzweiflung angesichts der zunehmenden Zerstörung der Natur und der Gleichgültigkeit des Menschen demgegenüber. Ein wiederkehrendes Motiv des Romans ist somit die Unmöglichkeit, die Auftragsarbeit über den Wald tatsächlich schreiben zu können, geschweige denn, jenen Text überhaupt abzugeben. Stattdessen offenbart sich mit zunehmender Dauer die Wut des Ich-Erzählers angesichts der rücksichtlosen Zerstörung unseres Planeten.

Was nun ideologisch überfrachtet anmuten mag, ist vielmehr ein einziger Hilfeschrei und ein Dokument der Verzweiflung. Im letzten Drittel des Romans sinniert er etwa über die Legitimation gewalttätigen Widerstands angesichts der Hoffnungslosigkeit unserer Lage. Dass das Ganze allerdings alles andere als ein Roman geworden ist, mutet letztlich doch etwas seltsam an. Es gibt keinen Plot und keine Figurenentwicklung. Zugunruhe ist letztlich eher ein langer Essay, aber das ist in Ordnung, denn vielleicht gelingt es Verlag und Autor durch den Zusatz „Roman“ ein paar mehr Leser zu gewinnen. Denn dieses Buch ist wichtig, weil es aufgrund der schieren Intelligenz des Autors und seines Textes etwas erreicht, was auch die hundertste Reportage über Überflutungen, Waldbrände oder Rekordtemperaturen im Zuge unserer generellen medialen Abstumpfung nicht mehr gelingen mag: Es rüttelt auf.

Titelbild

Levin Westermann: Zugunruhe.
Rohstoff (Matthes & Seitz Berlin), Berlin 2024.
220 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783751809627

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