Komplexer und vielschichtiger Roman

Auf der Folie von historischen Ereignissen und Personen erzählt Zadie Smith in „Betrug“ die Geschichte einer selbstbewussten weißen Frau im viktorianischen England und zugleich eine Geschichte der Sklaverei und von arm und reich

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zadie Smith Protagonistin Eliza Touchet ist eine früh verwitwete und weitgehend mittellose Frau, die sich bei ihrem Cousin als Haushälterin und Kinderfrau verdingt hat. Dieser Cousin ist der in seinen frühen Jahren sehr erfolgreiche Schriftsteller William Ainsworth, mit dem sie auch eine kurze und etwas spezielle Affäre hat. Eliza Touchet ist eine eigenwillige, klarsichtige und zuweilen spöttische Frau, die aussieht „wie die schmale Glocke einer gotischen Kirche“. Sie ist aber auch religiös und eine entschiedene Gegnerin der Sklaverei und neigt zu philosophischen Gedanken: „Warum ließ es sich leichter über die Schuhe nachdenken als über die Freiheit?“

Eliza Touchet ist „zutiefst gelangweilt vom Leben, was sie umgab“ und hat ein ausgeprägtes „Interesse am Fremden und Unvertrauten“. So besucht sie zusammen mit Sarah, der zweiten Frau von William, auch den „Tichborne-Prozess“, einer der bekanntesten Gerichtsfälle Englands: Hier behauptet ein proletarischer und schwergewichtiger Mann, er sei der seit zehn Jahren verschollene Sohn der reichen Lady Tichborne. Unterstützung bekommt er von Andrew Bogle, der bei den Tichbornes lange Zeit als Diener und Sekretär gearbeitet hat und als Sklave in Jamaika zur Welt gekommen ist.

Eliza Touchet ist fasziniert von diesem vornehmen und unbeugsamen Mann und nimmt Kontakt mit ihm auf. Doch die Grenzen zwischen Wahrheit, Betrug und Täuschung bleiben fließend und sie fragt sich: „Was können wir je über andere wissen?“

Zadie Smith erzählt ausgehend von der Lebensgeschichte Andrew Bogles auch eine Geschichte der Sklaverei auf Jamaika mit ihren zutiefst menschenverachtenden Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie den bestialischen Brutalitäten und Vergewaltigungen durch die Plantagen-Aufseher bzw. -Besitzer:

Sein Vater, seine Mutter. Das edle Geschlecht der Johannas. Zu Staub zerrieben. Niedergepflügte Gedanken. Zermalmte Körper, Seelen, ausgekocht, bis sie zu Dampf zerstoben. Menschlicher Treibstoff.

Und so verknüpft Zadie Smith die Sklaverei auf Jamaika auch mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Großbritannien und kommt hierüber zu einer grundsätzlichen Betrachtung von Macht und Ohnmacht, arm und reich, unten und oben.

Betrug ist ein komplexer und vielschichtiger historischer und zugleich hoch politischer Roman, der viele aktuelle Bezüge bietet und die Grenzen von Wahrheit und Fiktion auslotet. Mit Eliza Touchet hat Zadie Smith dabei eine starke emanzipierte Protagonistin geschaffen, die in eine Reihe mit Madame Bovary oder Effie Briest zu stellen ist.

Titelbild

Zadie Smith: Betrug.
Aus dem Englischen Tanja Handels.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
528 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783462005448

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