Talent borrows, genius steals – und manchmal funktioniert beides nicht
In ihrem Roman „Goldstein – ein phantastisches Leben“ überprüft Anja Scherz die Memoiren von Norbert Burger, der mit 30 Jahren begann, sich in Raphael-Maria Goldstein zu verwandeln
Von Kristin Wesemann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt Menschen, die auffällig oft das kleine Wort „ich“ verwenden, egal wovon gerade die Rede ist. Mühelos gelingt es ihnen, wirklich alles auf sich zu beziehen, und das kann ein-, zweimal ganz witzig sein. Doch danach ernten die Darsteller in eigener Sache das für sie leider nicht erkennbare Augenrollen der Zuhörerschaft.
Von einem solchen Menschen handelt das neue Buch der Journalistin Anja Scherz. Und, das sei an dieser Stelle gleich vorweggenommen, es hätte eine großartige Reportage werden können – wenn, ja wenn der Protagonist öfter zum Schweigen verdonnert worden wäre. Im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung zeigt Anja Scherz sogar Verständnis dafür, dass die Interviewerin das Buch nach einem Viertel gern „mit einem wütenden ‚Jetzt reicht’s‘“ zugeklappt hätte. Gewissermaßen das Augenrollen der Literatrkritik.
„Goldstein – ein phantastisches Leben erzählt davon, wie Norbert Hans Burger, geboren 1949 in Duisburg, aufgewachsen in einer Wirtschaftswunderfamilie, einfach nicht Norbert Hans Burger sein will oder kann.
Die richtigen Zutaten für eine spannende Geschichte sind vorhanden: das Westdeutschland der Achtziger, und mittendrin ein 30-jähriger Mann, der sich selbst nicht genügt und zum großen Identitätsschwindel greift. Er erfindet sich neu, und dabei gelingt ihm Unmögliches: Er verliert sich in seiner Rolle und geht zugleich ganz in ihr auf.
Er besteht darauf, dass er mit drei Jahren von einer katholischen Familie adoptiert wurde. Seine Mutter sei die in Amsterdam lebende Esther Goldstein, sein Vater Otto Frank, der ebenfalls der Vater von Anne und Margot Frank war und den Holocaust als einziger seiner Familie überlebt hatte. Auf diese Existenz als Halbbruder von Anne Frank richtet Raphael-Maria Goldstein alias Norbert Burger fortan sein gesamtes Leben aus und setzt alle Hebel in Bewegung, um seine Fantasie in die Wirklichkeit zu überführen. Er schafft Tatsachen, spricht bei Otto Frank vor, trifft Esther Goldstein, versucht sich an Film- und Buchverträgen, verwebt Literatur von ähnlichem Stoff – Stiller und Andorra von Max Frisch, Der Ghostwriter von Philip Roth – mit seiner Falschbiografie. Doch zeitlebens findet sich niemand, der sich dieser Geschichte annehmen will – zu viel Dichtung und Unwahrheit, sogar für Literatur.
Die Journalistin Anja Scherz stößt darauf durch eine Freundin, Goldsteins Witwe, und diese überlässt, was von Hans Burger und Raphael-Maria Goldstein geblieben ist: seine Memoiren und Bücher, all seine Dokumente und Bekannten, die man befragen kann. Und so folgt Scherz den Spuren dieses Mannes, der alles dafür tat, seinem Ich zu entkommen.
Das Buch wechselt zwischen Auszügen aus Goldsteins fiktiven Briefen an Anne Frank und deren Antworten sowie Aufzeichnungen zum eigenen Lebenslauf und Scherz‘ Recherchen. Die Zeilen, die Goldstein niedergeschrieben hat, sind – man muss es so deutlich sagen – ermüdend, nervig, ja schlicht aufdringlich. Die Journalistin hingegen hat einen wunderbaren persönlichen Reportagestil, und allein deshalb ist es überhaupt möglich, das Buch durchzulesen.
Es wirft die Frage auf, warum jemand eine jüdische Identität erfindet und wie eine solche Täuschung so lange unentdeckt bleiben konnte. Über die Motive wird allenthalben spekuliert und psychologisiert. In Scherz‘ Darstellung ist Goldstein/Burger entweder ein Träumer oder eine komplexe Persönlichkeit mit narzisstischen und histrionischen Zügen, jedenfalls kommt er nicht als böswilliger Betrüger daher.
Die deutsche Popband Tocotronic hat vor bald 20 Jahren den schönen und klugen Satz „talent borrows, genius steals“ in unseren Sprachraum gebracht – und ihn natürlich selbst gestohlen, von TS Elliot, der wiederum bei Oscar Wilde abgekupfert hat. So jedenfalls erzählt es die Google-Suche.
Norbert Burger scheitert hier allerdings, denn er puzzelt sich ein Leben zusammen, ohne dass daraus ein Werk entsteht, „Mit der Wahrheit lügen“ könnte man diese Gaukelei nennen. „No Jew, no news“, das jedenfalls wusste Burger, als er sich selbst zum Goldstein machte. Global gesehen wird damit das Phänomen beschrieben, dass das Nachrichtenbarometer immer dann ausschlägt, wenn Juden oder Israel betroffen oder beteiligt sind. In Deutschland ist die Lage noch etwas besonderer. Hier galt es nach den Phantomschmerzjahren nach der Nazizeit mitunter als schick, dem Judentum nahe zu stehen, vielleicht sogar selbst – wie entfernt auch immer – mit einem jüdischen Menschen verwandt oder wenigstens bekannt zu sein. Und Norbert Burger machte die Übertreibung, die Autosuggestion, die Schwindelei – wir wissen es schlicht nicht – zu seinem Lebensinhalt.
Erstaunlicherweise waren die meisten Menschen, die sich mit ihm auseinandersetzten und ihn auf seinen (Irr-)Wegen begleiteten, nicht abgeschreckt von den vielen Geschichten, die doch von keinem richtigen Leben erzählen konnten. Und sie sind die wahren Helden des Buches: all die Menschen, die dem Mann, der sich selbst untreu wurde, die Treue gehalten haben und dafür einen hohen Preis zu zahlen bereit waren, indem sie ihm glaubten.
Kurz: Die Geschichte ist wunderbar absurd, aber es ist schlicht schade, dass Raphael sie mit seinen eigenen Worten über viele Seiten hinweg nahezu unlesbar macht.
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