Sprache als Heimat
Zum 70. Geburtstag von Peter Stephan Jungk ist ein Sammelband erschienen, der sein Gesamtwerk erstmals in den Blick nimmt
Von Martina Kopf
Besprochene Bücher / LiteraturhinweisePeter Stephan Jungk gehört zweifellos zu den unkonventionellen deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Sein langjähriger Freund, Peter Handke, hat ihn einmal so beschrieben: „Das ist ja auch deine Stärke, dass du nirgendwo hinpasst in die Literatur. Der wahre Charakter deiner Sachen ist nicht zu finden.“ Zwölf Bücher hat er mittlerweile veröffentlicht und ist gleichzeitig als Drehbuchautor, Filmemacher, Journalist und Übersetzer tätig. Dieses umfangreiche und vielfältige Œuvre in den Blick zu nehmen, hat sich der von Martin J. Kudla herausgegebene Band Tracking Peter. Zum 70. Geburtstag von Peter Stephan Jungk zum Ziel gesetzt. Dabei beschränken sich die Beiträge nicht auf eine wissenschaftliche Perspektive, sondern verfahren mal literarisch, mal anekdotisch.
Es sind internationale Wegbegleiter*innen, die sich auf Jungks Spuren begeben, über ihre Begegnungen mit ihm und Lektüreerfahrungen mit seinem häufig autofiktionalen Werk berichten. Der Band umfasst vor allem Essays, ein paar wenige wissenschaftliche Artikel, Rezensionen, viele Glückwunschadressen von Paul Nizon, Georges-Arthur Goldschmidt, Georg Stefan Troller oder Margarethe von Trotta und eine Porträtzeichnung des österreichischen Künstlers Peter Kogler. Aber auch ein Gespräch zwischen dem Autor und Peter Handke, eine Laudatio zur Überreichung des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst I. Klasse und sogar Gedichte für „Peter Stephan Jungk, der keine Gedichte mag“ finden sich in der Festschrift, die nicht zuletzt auch kreativ-komischen Beiträgen Spielraum lässt: So sinniert beispielsweise der Autor Alain Claude Sulzer auf poetische Weise über das „k“ in Jungk.
Häufig sind Jungks Geschichten über Andere eng mit seiner persönlichen (kaum weniger aufregenden) verstrickt. 1952 im kalifornischen Santa Monica geboren wuchs Jungk in einer Familie auf, die zwischen Los Angeles, London, München und Paris pendelte. Nach einem Aufenthalt in Wien zog die Familie nach Berlin, wo er nach dem Besuch von Handkes Theaterstück Kaspar (1969) mit dem Schreiben begann. Bereits als Schüler hatte er sich als Reinkarnation von Novalis betrachtet wie die Journalistin und Autorin Brita Steinwendtner in ihrem Beitrag verrät. Jungks erstes Buch, die Erzählsammlung Stechpalmenwald erschien 1978, nachdem er als Regieassistent für Peter Handkes Film Die linkshändige Frau mitgewirkt hatte. Es folgten Erfahrungen am Theater und in der Filmbranche sowie ein abgebrochenes Studium in Los Angeles bevor er sich 1988 in Paris niederließ, wo er heute noch lebt.
Sein berühmter Vater, Robert Jungk, war Friedens- und Zukunftsforscher und Präsidentschaftskandidat der sich damals formierenden österreichischen Grünen. Als Atomkraftgegner plädierte er gegen den Doppelbeschluss der NATO in den 80er Jahren, mit dem auf die neuen Nuklearwaffen aus der UdSSR Richtung Europa reagiert werden sollte. In dem „komischen Familienroman“ (75) Die Reise über den Hudson (2005) geht es vor allem um diesen Vater, aber nach Leopold Federmair ebenso um den Sohn:
[E]s ist, wie fast alles in seiner fiktionalen Literatur, eine Überzeichnung, Verabsolutierung eines Aspekts seiner Persönlichkeit oder Ausgestaltung einer Möglichkeit (jüdische Orthodoxie), die er im Leben nicht oder höchstens ansatzweise verwirklichte.(74)
Obwohl Jungk in einer „sehr assimilierten“ jüdischen Familie aufwuchs, lernte er Hebräisch und ging an Feiertagen in die Synagoge. Rundgang (1981), sein zweites Buch beruht auf seinem Aufenthalt in Jerusalem und seinem Versuch als Torahschüler eine spirituelle Heimat zu finden.
Schreiben versteht Jungk als „Annäherung an die Welt in all ihren Sinnen“ (19). Es ist aber vor allem seine Neugier – und hier scheinen alle Beiträger*innen neben dem Autor selbst übereinzustimmen –, die ihn zum Schreiben über Andere und ihre Individualität veranlasst, denn häufig sind seine Bücher Romanbiografien. Gabriel Cooper widmet sich diesem „unfreiwilligen Biographen“ Jungk in seinem Artikel Biography and the Biographer Figure in Peter Stephan Jungk’s Writing. Jungks erster Roman Tigor (1991) erzählt die Geschichte des Mathematikers Giacopo Tigor, der in eine Identitätskrise als Wissenschaftler gerät und nach Armenien reist. Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte (1987), das nicht nur ins Englische und Französische, sondern auch ins Tschechische übertragen wurde, war eigentlich eine Auftragsarbeit für den Fischer Verlag, der ihn um eine Werfel-Biografie bat. Nicht zuletzt steht auch im Mittelpunkt seines Romans Der König von Amerika (2001) eine schillernde Persönlichkeit: Walt Disney, dessen Geschichte von seinem Mitarbeiter, der fiktiven Figur Wilhelm Dantine, Zeichner und Entwerfer in den Disney-Studios, erzählt wird. Dieser konfrontiert ihn mit seinem Antisemitismus, Rassismus, der Befürwortung der Ausrottung der indigenen Bevölkerung und auch mit der Aneignung der künstlerischen Werke seiner Mitarbeiter*innen. Aus dem Roman hat Philip Glass eine Oper gemacht: The Perfect American, die 2013 in Madrid aufgeführt wurde.
Das aufregende Doppelleben von Edith Tudor-Hart, Fotografin und Spionin für die Sowjetunion in Österreich und England und eine Tante seiner Mutter, hat Jungk ebenfalls in einer Romanbiografie 2015 gewürdigt. Ein Jahr später entstand außerdem der Dokumentarfilm Tracking Edith/Auf Ediths Spuren.
Die Frage nach Sesshaftigkeit und Heimatlosigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Er selbst hat seine Texte einmal als „Dachüberdemkopflosigkeitsgeschichten“ (19) bezeichnet, bestes Beispiel dafür ist zweifellos sein Roman Marktgeflüster (2021). Ein namenloser Protagonist, vermutlich Jungks Alter Ego, führt uns über den Marché d’Aligre, einen Pariser Wochenmarkt in der Nähe der Bastille. Während er über den Markt flaniert, bei vertrauten Händler*innen einkauft, Einblicke in ihre individuellen Schicksale gibt, erinnert er sich in Rückblicken an ein aufregendes, aber irgendwie unbehaustes Leben zwischen den USA, Wien und Paris, „rastlos, ewig unzufrieden, immer auf der Jagd nach dem idealen Ort, den es nicht gibt auf Erden.“ Der Marché d’Aligre, ein „Menschenbeobachtungslaboratorium“, scheint diesen nicht existierenden Ort zu kompensieren. Jungk, der von seinen Freund*innen gerne als „weltmännisch und zugleich als heimatlos-Verlorener“ bezeichnet wird, hat allerdings in einem Interview in der Kritischen Ausgabe erklärt: „Stimulierend war für mich immer dieses ‚Nicht-absolut-Zuhausesein‘. Und ich habe nie darunter gelitten.“ Seine einzige Heimat sei die Sprache. (279)
Jungks Werk scheint zum kreativen Abschweifen, zum Flanieren, regelrecht anzuregen wie unterhaltsame kleine Exkursionen in dem Band zeigen: Wolfgang Petritsch lässt sich Autor und Werk von Chat GPT erklären. Besonders gelungen sind Jürgen Rittes Pariser Skizzen und vor allem seine poetische Liebeserklärung an die Pariser Bistrots: „Das Bistrot ist kein Ort, es ist eine Lebensart, eine – noch – funktionierende Form der sozialen Integration.“ (145) Wirklich schade, dass es L’Espérance im 7. Arrondissement von Paris tatsächlich nicht mehr gibt. Doch immerhin bleibt der Marché d’Aligre aus Marktgeflüster laut Ritte übrigens „DAS schönste, das originellste, das intelligenteste Buch, das ich in den vergangenen vierzig Jahren über Paris gelesen habe“ (143). Paul Michael Lützeler, der nicht nur einige Rezensionen zu Jungks Werk verfasst hat, sondern ihn als Max Kade Critic in Residence an die Washington University in St Louis einlud, erklärt den Marché d’Aligre zum Symbol einer „Sehnsucht nach lokaler Verankerung“ (215) und Marktgeflüster als „eines jener komplexen, lebenszugewandten und gleichzeitig realitätsnahen Erzählwerke der Gegenwartsliteratur, die man zur Lektüre gerne empfiehlt.“ (217)
Neben seiner Neugier kann Jungks Talent, andere zum Sprechen zu bewegen, ihnen zuzuhören und ihre Geschichten zu erzählen, als elementar für sein literarisches Schaffen betrachtet werden. Er vermittelt stets den Eindruck, dass er wirklich interessiert ist, das macht ihn zu einem Gesprächspartner, dem man sich laut Jacques Schuster gerne anvertraut: „Jedenfalls gelingt Peter mit dieser Sanftheit, seinen Gesprächspartnern Dinge zu entlocken, die andere, selbst geübte Menschen- und Seelenforscher nur schwer hervorholen könnten.“ (55) „Peter, der Mann mit dieser unendlich sanften Stimme und dem leisen österreichischen Singsang“ (159) – so Richard C. Schneider – verwandelt Kontrahenten sogar in Freunde, wenn man den Worten des Regisseurs Milian Dor Glauben schenken mag:
In den frühen 1980er Jahren hat mich meine damalige Freundin Lilian wegen eines gewissen Peter Stephan Jungk verlassen, eines jungen und wie mir schien, recht erfolglosen Schriftstellers. Ich überlegte, ihm mit meinem alten Peugeot irgendwo aufzulauern und über den Haufen zu fahren, entschied mich dann aber für eine diskretere Art, ihn aus dem Weg zu räumen. (171)
Glücklicherweise hat Milan Dor dieses Vorhaben wieder verworfen, sonst wäre die deutschsprachige Gegenwartsliteratur um einiges ärmer. Man kann Peter Pakesch nur zustimmen, wenn er Jungk als „weisen Chronisten einer Zeit und der Welten zwischen der Moderne und ungewissen Zukünften“ (193) beschreibt. Insofern erscheint der Band Tracking Peter, mit dem Herausgeber Martin J. Kudla einen Impuls für die „Peter-Stephan-Jungk-Forschung“ (22) bieten möchte, zum richtigen Zeitpunkt.
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