Lyrische Traumpfade in die Transzendenz

Christoph König erkundet in „Kreativität“ mit zarter Empirie Rilkes „Duineser Elegien“

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Resonanzen in Poesie, Literaturwissenschaft und Philosophie, bis in die Theologie hinein, haben Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien vielfach gefunden, eine teilnahmsvolle, oft emphatische, mitunter verträumte Leserschaft ebenso. Lassen sich diese Gedichte, die gewissermaßen schwebende, feinfühlige Wahrnehmungen mit metaphysischen, religiös kolorierten Gedanken, über Engel etwa, verknüpfen, überhaupt rational erfassen und literaturwissenschaftlich deuten? Christoph König, als profunder Kenner zugleich Liebhaber von Rilkes Werken, nimmt sich dieses vielfach bedachten Gedichtzyklus an und zeigt bedenkenswerte Perspektiven auf, wenngleich der Titel des Bandes prosaisch anmutet.

Kreativität gehört, wie etwa Innovation, zu den in der Sprache der Zeit oft benutzten, verbraucht anmutenden, mitunter ironisch verwendeten und auch verschlissenen Begriffen. Rainer Maria Rilke dichtete schöpferisch, mitnichten aber kreativ. Oder doch? König möchte die „Möglichkeitsbedingungen“ der Lektüren dieser Gedichte ins Auge fassen und meint mit Kreativität die „Totalisierung aller kreativen Akte, die poetisch am Werk sind“:

Die Kreativität ist so die Kontrolle aller und gerade auch der starken Sinnaussagen; sie sorgt in ihrer Handlungen dafür, dass das vorliegende poetische Gebilde sinnhaft ist, und zugleich kontrolliert ihre Rekonstruktion in der Lektüre die übliche Art, vom Sinn zu sprechen.

Er begreift – durchaus treffend formuliert – sein Bemühen dahingehend, dass er der „Dynamik“ der Gedichte folgen möchte und nennt die vorgelegten Studien „Exerzitien“, die nicht letztgültige Interpretationen liefern, sondern „Einübungen“ sind, um die „Kreativität der Gedichte“ nachzuvollziehen. Dafür findet König klangvolle Wendungen, etwa wie „poetische Atemwelt“, die zugleich einen Raum mystischen Erlebens öffnet, wenn von einer Hierachie der Liebenden gesprochen wird und Rilkes „poetische Zuwendung“ besonders den „Enttäuschten“ gilt: „Dieser Liebe eignet durch die Objektlosigkeit die nötige Leere. Die Konzentration auf den Akt ist nicht weiter durch dessen Erfüllung gestört.“ Hier indessen bleibt fraglich, ob nicht der Pfad zu einer Verklärung geöffnet wird und ob zwangsläufig das, was Liebende als erfüllte Zeit zu zweit erfahren, der romantischen Sehnsucht unterzuordnen ist. Rilke, so König, spricht von einem „Liebesparadox“ mit einer „Radikalität“, in der die „Leere“ ihren Platz findet, die schließlich „elegisch“ gemeistert werden soll. Er geht über zu den Heiligen und schreibt:

Die Heiligen hörten, indem sie die Stimme Gottes, die sie – wie sie es wünschten – erheben sollten, nicht beachteten. Die Nichtachtung als Eigenart der erkennenden Sprecher wird nun zu jener sekundär objektiven Stille, aus der sich das dem Menschen erträglich Hörbare bildet.

Entdeckt wird hier der sehr eigene, sich öffnende Raum der Lyrik Rilkes, in der nicht eine gleichsam poetische Melodie – dies auch, aber darum geht es nicht – erklingt, sondern die Erfahrung der Stille bewusst gemacht, die buchstäblich zwischen den Zeilen bei der einen Leserin oder dem anderen Leser aufscheint:

Die Stille ist das Schweigen, das das Ich den Engeln abgelistet hat, und das Schweigen Gottes, auf dessen Stimme die Heiligen nicht hörten. So kehrt sich das Hören um, es ist sekundär, human, es gilt dem eigenen Schweigen und einem Gott, den die Heiligen schweigen zu hören sich entschieden hatten.

Das „Sehnsuchtsparadox“ ist für Rilkes Elegien bestimmend. Der Dichter findet redlich nahezu magisch oder zauberhaft erscheinende Worte, ohne aber präzise das in Worte fassen zu können oder zu wollen, was jenseits der Sprache liegt. Er deutet Nuancen an, aber er malt, bildhaft gesprochen, das nicht alles aus, was sich ihm zeigt, andeutet oder von innen her gegenwärtig sein könnte: „Die Kreativität der Elegien folgt einer doppelten Denkfigur, in der einmal die transzendente Spekulation in der Formulierung der Spekulation selbst sprachlich begrenzt wird, und dann die sprachlich fixierte Entsagung, die eine Entsagung in erkenntniskritischer Weise ist, überschritten werden will.“ Rilke sagt nicht, was er nicht oder nicht genau sagen kann, weil die Redlichkeit dies verwehrt. Die Grenze in einen bloß enthusiastischen Sprachnebel bleibt fest markiert, „Rilkes Spracharbeit“ ist in diesem Sinne vorzüglich präzise und sorgsam komponiert: „Der sprachliche Charakter der Welt des Gedichts übt seine Gravitation aus und beansprucht, thematisiert, eine Sinnrealität. Die Sprachlichkeit dient somit als Bild in einer als sprachliche möglichen Welt.“ Vielleicht lässt sich so einfach auch eine säkulare Nüchternheit feststellen. Der Dichter will nicht ausschweifen, aber er zeigt die Pfade zur Transzendenz auf, zu einer Sphäre der inneren Wahrnehmungen, die Geheimnisse birgt oder bergen kann, die weder psychoanalytisch noch philosophisch ganz ausgedeutet werden können oder müssen.

Christoph König schreibt für eine Leserschaft, die mit Rilkes literarisch-lyrischem Kosmos vertraut ist, höchst akkurat, gelehrt und erhellend. Er macht auf Momente und Aspekte aufmerksam, die vielleicht leicht vergessen oder übersehen werden können. So würdigt er Rainer Maria Rilke weder als Sprachartisten noch als lyrisches Genie, und das ist wohltuend. König zeigt in seinem tiefgründigen Buch Wege auf, sich den Dichtungen, die ihr Schöpfer nur Elegien nennen wollte und konnte, behutsam, klug und mit leiser Sympathie anzunähern.

Titelbild

Christoph König: Kreativität. Lektüren von Rilkes ‚Duineser Elegien‘.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
248 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835355514

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