Von Ferkeln und Frauen
Andreas Schwabs Sachbuch „Freiheit, Rausch & schwarze Katzen“ geht der weniger bekannten Geschichte der Boheme nach
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Schweizer Autor Andreas Schwab ist in den letzten Jahren bereits einige Male mit Sachbüchern zu – wie man heute sagen würde – alternativen Subkulturen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hervorgetreten. Nun hat er ein weiteres hinzugefügt. Einmal mehr lässt er sein Auge über die Grenzen des deutschen Sprachraumes hinaus schweifen und verhilft auch der bereits vor der Mitte des 19. Jahrhunderts im Quartier Latin heranwachsenden Pariser Boheme zu der ihr gebührenden Ehre, kann sie doch mit einigem Recht als Urmutter aller späteren Caféhaus- und Weinstuben-Milieus oft mittelloser Kunstschaffender und anderer Misfits gelten.
Schwab nähert sich der Boheme auf „erzählerische[] Weise“, wobei er auch gerne einmal einen „intimen Blick“ auf das Leben ihrer ProtagonistInnen wirft.
Neben der einschlägigen Subkultur der französischen Hauptstadt widmet er sich naheliegender Weise denjenigen von Berlin, München und Wien. Eingestreut sind zudem gelegentliche Abschnitte über andere randständige Gruppen wie etwa das Wiener Obdachlosenmilieu.
Absicht des Autors ist es, das Publikum darüber aufzuklären, „dass die Boheme deutlich vielfältiger und diverser war“ als weithin angenommen. Daher geht er auch auf „Künstler und Künstlerinnen“ ein, die heutzutage kaum noch jemandem „abseits spezialisierter Fachkreise“ bekannt sind oder die – sofern sie weiblichen Geschlechts waren – von ihren Zeitgenossen zu bloßen Musen der männlichen ‚Genies’ degradiert wurden. Eine zwar ebenso misogyne wie falsche, aber auch heute noch virulente Vorstellung. Neben etlichen anderen zählten etwa Ida Dehmel, Yvette Guilbert, Dagny Juel oder die von Schwab als „Boheme-Prinzessin“ apostrophierte „ernsthafte und eigenständige Malerin“ Oda Krohg zu den so herabgesetzten Künstlerinnen und Autorinnen. Heute bekannter ist George Sand, von der Schwab meint, sie habe womöglich „gut daran [getan], sich politisch nicht für Frauenrechte einspannen zu lassen“, wie er mit antifeministischem Zungenschlag formuliert.
Zwar wurde Frauen von den Herren Bohemiens schon in der frühen Pariser Boheme die „Rolle der Muse oder Gespielin“ zugedacht und sie somit „zum Objekt des männlichen Begehrens [degradiert]“, doch war das ein halbes Jahrhundert später in Berlin nicht anders, wo in dem wenig berühmten aber dafür umso berüchtigteren schwarzen Ferkel ausgemachte Maskulinisten und Frauenfeinde wie August Strindberg, Richard Dehmel und Stanislav Przybyszewski ihre „männlichen Egos aufeinander prall[]en“ ließen, während Frauen Schwab zufolge „ein Stück Frivolität, ja Verruchtheit in die Räume“ der Weinlokals brachten. Damit aber nimmt er selbst die maskuline Perspektive der „Ferkelrunde“ mit ihren „beiden Zentralgestirnen“ Strindberg und Edgar Munch ein, die „sogar namhafte Autorinnen wie Paula Dehmel, Hedwig Lachmann oder Dagny Juel“ die Anerkennung versagten und nur als „Gespielinnen“ an ihrer Seite oder in ihren Betten dulden mochten. Dass es Schriftstellerinnen wie den Genannten dennoch gelingen konnte, „hervorragende Werke“ zu verfassen und „bemerkenswerte Gedanken [zu] entwickel[n]“, sei gerade durch den misogynen Umstand begünstigt worden, dass ihnen im schwarzen Ferkel kaum eine „Bühne“ geboten wurde. Das habe ihnen „in der Wahl ihrer künstlerischen Mittel eine größere Freiheit“ gewährt als den Herren Literaten und Maler.
Obwohl Schwab die Frauen der Boheme stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken möchte, indem er sie dem Vergessen entreißt, ist es mit Strindberg doch einer der Männer, der im Zentrum seiner Ausführungen über die Berliner Boheme steht. Tatsächlich befasst sich sein Buch mit niemandem sonst derart ausführlich. Das heißt allerdings nicht, dass der schwedische Frauenhasser oder seine maskulinistischen Gesinnungsgenossen in positivem Licht dargestellt werden. So konzediert Schwab Strindberg zwar, dass sein „Werk oft klüger ist als der Autor“, doch habe sich der „manische[] Frauenhass“ des „Egomane[n]“ in „privaten und tagespolitischen Äußerungen“ auf eine Weise niedergeschlagen, die „vor Häme und Frauenfeindschaft triefe[t]“.
Auch die ausgemachte Misogynie des Dichters Richard Dehmels wird von Schwab nicht beschönigt. Obwohl der Schriftsteller „sehr klarsichtig“ erkannt habe, „dass die Frauen die Opfer der Gesellschaft sind“, habe ihn diese Einsicht nicht daran gehindert, seiner Braut Paula Oppenheimer am Hochzeitstag in einem vor der versammelten Festgesellschaft vorgetragenen Gedicht seine ganze Frauenverachtung entgegenzuschleudern:
Ich bin der Herr dein Gott – Du sollst mich ehren:
auf meine Kraft dein ganzes Leben bauen,
in Glück und Not in Demut Mir vertrauen,
nach Keiner Hilfe außer mir begehren.
Anders als Strindberg – und auch Dehmel sowie einige andere Herren – werden die teils tatsächlich kaum bekannten Protagonistinnen der Boheme zumeist nur auf einigen wenigen Seiten vorgestellt. Eine gewisse Ausnahme stellt Dagni Juel dar. Zur Charakterisierung ihrer „erotisch aufgeladene[n] Erscheinung“ bemüht Schwab allerdings ausgerechnet die misogyne Männerphantasie der „Femme fatale“. Wie Strindberg und Dehmel verkehrte auch sie in der Berliner Weinstube, wo sie besonders unter dem „diabolischen Charakter“ eines anderen Herren der „Ferkelbrüder“ zu leiden hatte. Die Rede ist von Stanislav Przybyszewski. Wenn Schwab aber schreibt, Juel habe „das Abenteuer [gesucht]“, und betont, sie „tändelt, lockt und spielt, verteilt Küsse dem einen und manchmal gleichzeitig auch einem anderen, geht intime Beziehungen zu mehreren ‚Ferkelbrüdern’ ein“, legt der Subtext nahe, nicht nur die „brachialen Egoismen der Künstler“, die „ihre Macht gegenüber Frauen aus[spielten]“, sondern auch Juel selbst sei schuld daran gewesen, dass sie „unter den Männergeschichten [zerbrach]“. Immerhin aber würdigt Schwab Juels literarische Schaffenskraft und betont, dass in ihrem „schmale[n]“ literarischen Werk „archaische Bilder von einprägsamer Kraft [dominieren]“. Das ihr Œuvre so schmal blieb, dürfte nicht zuletzt dem Umstand anzulasten sein, dass sie im Alter von nur 33 Jahren von einem anderen Misogyn im Schlaf erschossen wurde und so die „spezifische Gewalt des Femizids, als die ultimative Machtausübung gegen eine Frau“ erlitt.
Bei der zweiten der drei Frauen, denen sich Schwab etwas ausführlicher zuwendet, handelt es sich um Laura Marholm, deren „Leben und Werk“ ihm zufolge geradezu „als Fallstudie für die komplexe Geistesgeschichte des Fin de siècle“ herangezogen werden kann. Tatsächlich trat die Schriftstellerin und Essayistin vor allem mit misogynen Publikationen hervor. Einige von ihnen werden von Schwab zwar nicht gerade genüsslich, dafür aber recht ausführlich zitiert. So verfocht sie etwa die Ansicht, dass „alle wirkliche Dichtung […] Männerdichtung“ sei „und das centrale Moment aller großen Dichtung […] das Weib“, das „sich immer nach der Intention des Mannes [formt]“ und „alle seine Impulse“ von ihm „empfängt“. Derartige Frauenverachtung war damals zwar nicht eben selten, floss jedoch meist einem Mann aus der Feder. Zu den wenigen Frauen, die sich ähnlich äußerten, zählte etwa Lou Andreas-Salomé. Wie sich versteht, konnten solche Ausfälle zu einer Zeit, in der die erste Welle der Frauenbewegung mächtig anschwoll, selbstverständlich nicht unwidersprochen bleiben. So trat etwa die heute gänzlich vergessene Philosophin Josepha Kryzanowska „Marholms Verächtlichmachung der Frau […] entschieden entgegen“. Zum großen Bedauern des Rezensenten ist aber auch bei Schwab nicht mehr über die Marholm-Kritikerin zu erfahren. Ebenfalls bedauernswert ist, dass die großartige Frauenrechtlerin Hedwig Dohm bei Schwab gänzlich unerwähnt bleibt, obwohl sie der Kritik an Marholm ein ganzes Kapitel ihres Buches Die Antifeministen widmete. Ein zweites, das sei am Rande erwähnt, galt Andreas-Salomé.
Franziska zu Reventlow, die dritte der von Schwab näher vorgestellten Bohemiennes, fand zwar, dass Frauen wie Marholm „oft seltsame Sachen [sagen und schreiben]“ und unterzog sie in ihrem Essay Das Männerphantom der Frau einer beißenden Kritik, hielt aber ebenfalls wenig von der geistigen Schaffenskraft ihrer Geschlechtsgenossinnen und übte heftige Kritik an der zeitgenössischen Frauenbewegung. Die aus keinem fiktionalen oder nonfiktionalen Werk über die Schwabinger Boheme wegzudenkende Literatin, die eigentlich Malerin hatte werden wollen, polemisierte zwar heftig gegen die, wie sie sagte, „Bewegungsweiber“, doch hinderte sie das nicht daran, mit einigen von ihnen auf geradezu freundschaftlichem Fuß zu stehen. So pflegte sie etwa mit der radikalen Frauenrechtlerin Anita Augspurg in der Isar zu baden. Schwab lässt Reventlow zwar die Ehre zuteilwerden, sich etwas eingehender mit ihr zu befassen, doch wird er ihr nur wenig gerecht. So ist es zweifellos zu viel gesagt, dass sie zu denjenigen zählte, „die den intellektuellen Diskurs über die Themen der Boheme prägten“. Tatsächlich zog sie während ihrer Arbeit an Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil immer wieder den Philosophen Paul Stern zu Rate, um sich über die Feinheiten und Details der miteinander konkurrierenden Ideologeme und Phantastereien der Schwabinger ‚Meisterdenker’ Ludwig Klages, Stefan George, Alfred Schuler und anderer aufklären zu lassen. Auch ist es zwar üblich, dass Reventlows Romane autobiografisch gelesen werden. Diese „Lesart“ ist aber keineswegs so „nahe[liegend]“, wie Schwab behauptet. In ihrer bemerkenswerten Untersuchung zu „Geschlecht, Autofiktion und Autorinnenschaft bei Franziska zu Reventlow“, zeigte Alina Boy unlängst in großer Ausführlichkeit, dass dieser Interpretationsansatz viel zu kurz greift. Auch ist es übertrieben zu sagen, Reventlows Leben sei „bis ins kleinste Detail ausgeleuchtet worden“, wie Schwab meint. Vielmehr werden ihre fiktionalen Werke noch immer als biographische Quellen herangezogen, was zu einigen langlebigen und offenbar kaum zu tilgenden Irrtümern über manche Begebenheiten in Reventlows Leben führt. Hinzu kommt, dass AutorInnen noch immer viel zu oft die von ihrer Schwiegertochter Else Reventlow gründlich verfälschende Edition der Tagebücher Franziska zu Reventlows als verlässliche Quelle heranziehen, um sich über das Leben der Bohemienne zu informieren. Selbst die einst namhafte Reventlow-Forscherin Brigitta Kubitschek übernahm sie – offenbar völlig unbesehen – für ihre im Rahmen der von Michael Schardt 2004 herausgegebenen Werkausgabe erfolgte Edition der Tagebücher Reventlows. Wie etliche vor ihm zitiert auch Schwab die Tagebücher nach dieser als Quelle völlig untauglichen Ausgabe. Dabei liegt seit 2006 eine von Jürgen Gutsch und Irene Weiser besorgte authentische und akkurate Transkription der Tagebücher vor. Andere wichtige Selbstzeugnisse wie etwa Reventlows Briefwechsel mit ihrem langjährigen Geliebten und Wohngenossen Bogdahn von Suchocki oder ihren 2018 unter dem Titel Die Kehrseite des deutschen Wunders erschienenText über ihre Rolle bei der Desertation ihres Sohnes Rolf scheinen Schwab unbekannt. Jedenfalls zieht er sie nicht heran.
Schwabs „Geschichte der Boheme“ endet mit einem Blick auf den Werdegang einiger seiner ProtagonistInnen während des ersten Weltkriegs und einem positiven Resümee, dem zufolge die Caféhaus-Subkultur auch nach dem Krieg „nicht einfach gescheitert“ sei, sondern in den 1920er Jahren „unter neu justierten Bedingungen“ wieder „neue Triebe aus[gebildet]“ habe.
Neben den bereits genannten Schwächen bleibt zu monieren, dass antisemitische und reaktionäre Strömungen – zumal der Schwabinger Boheme – in seiner Darstellung unterbelichtet bleiben. So werden weder der George-Kreis noch die Kosmiker erwähnt. Dementsprechend fallen Namen wie Stefan George, Ludwig Klages oder auch Alfred Schuler an keiner Stelle. Auch der anarchoide Psychoanalytiker Otto Gross kommt bei Schwab nicht vor. Das mag zwar wenig bedauerlich sein, werden Gross und der von ihm propagierte Sexualimmoralismus in anderen einschlägigen Werken doch nicht selten ausführlich und allzu unkritisch dargestellt. Überraschend ist es aber dennoch, da Schwab sich relativ eingehend mit der in Schwabings Boheme „heiß diskutierten Frage“ des Mutterrechts befasst, bei der Gross kräftig mitmischte.
Positiv hervorzuheben ist, dass Schwab die Lesenden näher mit dem Berliner Weinlokal Das schwarze Ferkel vertraut macht, das in anderen Darstellungen der Boheme doch meist sträflich vernachlässigt wird. Wichtiger aber noch ist, dass sein Buch einige kaum noch bekannte Frauen der Boheme vorstellt und ihr literarisches Schaffen, wenn auch nur kurz, würdigt. Vielleicht bietet das dem Einen oder der Anderen Anlass, sich auf die Spuren dieser vergessenen Schriftstellerinnen zu begeben. Ein solches Unterfangen könnte zu interessanten Entdeckungen noch heute lesenswerter Werke führen.
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