Familienbilder

Hans-Gerd Koch stellt in „Kafkas Familie. Ein Fotoalbum“ teils unveröffentlichte Fotografien aus dem Nachlass der Eltern und Schwestern Franz Kafkas vor

Von Thomas MerklingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Merklinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Tagebucheintrag Franz Kafkas vom 30. Januar 1922 heißt es zu der aufgegriffenen Bemerkung, jemand wolle wegen seiner Familie am Leben bleiben, dass diese dann „ja eben die Repräsentantin des Lebens“ sei, man „also wegen des Lebens am Leben bleiben“ wolle. Für einen solchen Menschen bilden Leben und Familie offenbar eine integrale Einheit. Kafka hingegen zeichnet seine Beziehung zur Familie im Widerstreit von Literatur und Alltag ambivalenter. So spricht er sich in einem Brief an Carl Bauer jeden Familiensinn ab. Er „lebe“, schreibt er, „unter den besten liebevollsten Menschen fremder als ein Fremder.“ Zwar muss die Familie nicht das Leben sein, sie ist aber doch Teil des Lebens, und so dringen die familiären Strukturen durchaus in seine Schriften ein.

Dabei muss man nicht nur an den berühmt gewordenen Brief an den Vater denken, es finden sich auch in publizierten Texten Spuren der privaten Verhältnisse, etwa wenn unter dem Titel Großer Lärm eine zunächst im Tagebuch notierte Skizze unter Beibehaltung des realen Rufnamens seiner Schwester Valli ihren Weg in die Zeitung findet. Ist es hier die Geräuschkulisse in der elterlichen Wohnung in der Niklasstraße, lässt sich die Struktur der Räumlichkeiten wiederum in der Erzählung Die Verwandlung erkennen. Dass sich zudem Themen und Motive aus der weitläufigen Verwandtschaft ergeben – Kafka hatte neben seinen drei Schwestern und ihren späteren Familien acht Onkel und zwei Tanten sowie 23 Cousins und Cousinen –, ist nicht sonderlich überraschend, besucht man sich doch gegenseitig.

Mit dem Bildband Kafkas Familie. Ein Fotoalbum versammelt Hans-Gerd Koch die Verwandtschaft Franz Kafkas in Bildern. Der Titel verrät bereits, dass Kafka in dieser Veröffentlichung zu seinem 100. Todestag nicht im Mittelpunkt steht, sondern die Menschen aus seinem Familienkreis. Sie unterscheiden sich dabei kaum von anderen Menschen ihrer Zeit, und vergleichbare Bilder sind ebenfalls zahlreich: gravitätische Atelieraufnahmen, im Studio aufgenommene Baby- und Kinderfotografien sowie mit Handkameras geschossene Gruppenbilder und Familienfotopostkarten aus dem Urlaub. Bedeutsam werden sie vor allem durch das Verwandtschaftsverhältnis. So gibt es bei Kafka auch Textstellen, die mit manchen Bildern zusammengehen. Koch, der als Mitherausgeber der Kritischen Werkausgabe der Schriften Kafkas insbesondere die Briefe und Tagebücher ediert hat, findet knappe, passende Passagen, um die Fotos von originalen Textstellen kommentieren zu lassen. Meist sind es Kafkas eigene Worte, in selteneren Fällen kommen andere zu Wort.

Die gezeigten Fotografien stammen aus dem Nachlass der Eltern Franz Kafkas sowie seiner Schwestern. Hans-Gerd Koch hat sie für eine Ausstellung in der Staatsbibliothek Berlin (1. März – 2. Juni 2024) zusammengetragen. Unter den in fünf Partien versammelten Aufnahmen des parallel erschienenen Bildbands finden sich auch bislang unveröffentlichte Fotos. Die jeweils mit einem kurzen Vorwort eingeleiteten Teile beginnen dem Stammbaum folgend mit Aufnahmen der Großeltern Franz Kafkas: Franziska und Jakob Kafka väterlicher-, Jakob und Julie Löwy mütterlicherseits. Darauf findet sich mit den Bildern der „Familie Julie und Hermann Kafka“ der längste Teil des Albums. Repräsentative Fotografien aus der Verlobungszeit zeigen die Eltern in noch jungen (oder zumindest jüngeren) Jahren: Hermann war immerhin schon 30 Jahre alt, als die durch Heiratsvermittlung zustande gekommene Begegnung mit der 26-jährigen Julie arrangiert worden ist. Parallel abgedruckte Verlobungsbriefe eröffnen nicht bloß einen Einblick in die historischen Konventionen, sondern zeichnen auch ein etwas anderes Bild des Vaters, der in geradezu schwärmerischen (wenngleich sicherlich konventionalisierten) Worten an seine spätere Frau schreibt.

Der Bildband wendet sich schließlich den Kindern zu. Hier findet man zunächst Fotos von Franz, dem Erstgeborenen, dann folgen Bilder der Schwestern Elli (Gabriele), Valli (Valerie) und Ottla (Ottilie). Die Fotos halten jeweils unterschiedliche Lebensabschnitte fest und bilden dabei auch jüdisches Familienleben ab. Die Bar Mizwa wird auf einer offiziellen Einladungskarte seines Vaters als „Confirmation“ annonciert, ein diesem Ereignis möglicherweise korrespondierendes Bild zeigt den etwa Dreizehnjährigen auf einer Fotostudioaufnahme. Die Schwestern sowie die Mutter sieht man um das Jahr 1910 ebenfalls auf Studiobildern, die wohl für die von jüdischen Familien praktizierte Heiratsvermittlung angefertigt wurden. Mit großen, repräsentativen Hüten blicken die beiden älteren Schwestern in die Kamera, dabei tragen sie den gleichen (oder, wie Koch vermutet, gar denselben) Hermelinschal.

Kafka hat bekanntlich nicht geheiratet. Seine Schwestern hingegen bringen drei Schwäger sowie insgesamt einen Neffen und sechs Nichten in Kafkas Leben. Hinzu kommt die weitläufige Verwandtschaft, die teilweise über die gesamte Welt verteilt ist. Von den fünf Onkeln mütterlicherseits lebt Alfred Löwy in Madrid, Josef Löwy in Paris; Otto, der Sohn von Filip Kafka, ist nach Paraguay emigriert. Besuche bleiben nicht aus: Die Wohnung der Eltern in Prag ist Anlaufstation und natürlich trifft sich die nähere Verwandtschaft auch gerne an Sonntagen. Kafka nimmt an diesen Zusammentreffen zwar teil, beklagt sich aber doch über die Unruhe, die sie mit sich bringen.

Dass er sich nicht gerne fotografieren lässt, sieht man den Aufnahmen, die ihn zeigen, allerdings nicht an. Zwar hält er sich eher am Rande, und doch wirkt er auf Einzel-, Urlaubs- und Ausflugsbildern auch recht gelöst: Am Lido di Venezia sieht man ihn lachend mit freiem Oberkörper, auf Gruppenaufnahmen aus dem Sanatorium in der Hohen Tatra entspannt mit anderen Gästen. Dennoch zieht er es wohl vor, bei Fototerminen zu fehlen. Auf den gedrängten, teils jovialen, teils steifen Bildern, die es von den anderen Familienmitgliedern gibt, ist er meist nicht anwesend. Die Bilder aus dem Fotoalbum der Familie brechen um die Mitte der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ab. Nach dem Tode Kafkas, 1924, finden sich kaum noch Aufnahmen. Ein Urlaubsbild der Eltern in Begleitung von Siegfried Löwy, 1926 in Meran aufgenommen, dürfte eine Ausnahme bilden.

Das Fotoalbum führt in die Welt und Zeit Kafkas. Es stellt aber vor allem die Menschen vor, zu denen Kafka eine besondere Beziehung besaß, und für die er zunächst vor allem der Sohn, Bruder und Schwager, Neffe und Cousin oder der Onkel gewesen ist. Von den Schwestern in späteren Jahren verehrt, nehmen ihn auch die Nichten als beeindruckende Gestalt wahr. Für sie ist er nicht der weltberühmte Schriftsteller, zu dem er später erst werden wird, sondern zunächst einmal der Onkel „Franz“.

Aber auch Kafka ist von seinen Nichten sehr eingenommen. In seinem Portemonnaie trägt er ein Foto von Ellis Kindern – Felix, Gerti und Hanne – mit sich umher, das er anderen wie einen Schatz präsentiert. Friedrich Thieberger berichtet von einer solchen Szene: „Sein ganzer Trost an den sanften Einzelheiten des Lebens lag in seinem Blick.“ Literatur und Schreiben stehen für Kafka sicherlich im Mittelpunkt seines Lebens, aber es besitzen doch auch die Menschen seiner Familie unterschiedliche, nicht unerhebliche Bedeutung. In dem schön gestalteten Bildband von Hans-Gerd Koch treten sie in den Blick, und man hat zuletzt den Eindruck, sie ein wenig besser kennengelernt zu haben.

Titelbild

Hans-Gerd Koch (Hg.): Kafkas Familie. Ein Fotoalbum.
Zusammengestellt und mit einer Einleitung von Hans-Gerd Koch.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024.
208 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783803137388

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