Apotheose eines genialen Analytikers

In seiner Monografie „Balzacs Blick“ feiert Uwe Britten Honoré de Balzac als begnadeten Vorreiter der Moderne

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Werke von Honoré de Balzac – geboren 1799 in Tours, gestorben 1850 in Paris – sind vor dem Hintergrund eines kaum fassbaren Methodenpluralismus unzähligen unterschiedlichen Lesarten unterworfen worden. Dem Schöpfer der Comédie Humaine selbst, dem Kreator des berühmten Romanzyklus in 91 vollendeten und 25 unvollendeten Bänden, eilt der Ruf voraus, sich mit mindestens 50 Tassen Kaffee täglich „gedopt“ zu haben, um sein enormes Schreib- und Korrekturpensum zu bewältigen.

Als eine:r der ersten Autor:innen des Realismus ist Balzac zutiefst durchdrungen vom Einfluss und Impetus der Romantik. Das Mittelalter und die ihm attribuierten Komponenten Magie und Mystik prägen einen Teil seiner Romane; sein großes Vorbild ist Sir Walter Scott, dessen Ivanhoe er immer wieder einmal als Inspirationsquelle hervorhebt. Aber unabhängig von möglichen Intertexten erweist sich Balzac als exzellenter Diagnostiker seiner Epoche und der conditio humana, der Zeitläufte und des ontologischen Status des Menschen. Mit der für ihn charakteristischen induktiven Methode entwickelt er seine Beschreibungen ausgehend von den Partikularitäten eines Objekts oder einer Situation, um von dort aus Schlussfolgerungen zu ziehen und seinen Plot in Fahrt zu bringen. Als glänzendes Beispiel dafür hat das erste Kapitel aus Le père Goriot weltweite Berühmtheit erlangt. Doch Balzac prozediert nicht vom Individuellen zum Typischen, um dort zu verbleiben, sondern um das Typische an das Individuelle rückzubinden und somit einen Regelkreis vom Individuellen zum Typischen emergieren zu lassen. Von ihren Grundzügen her ist diese dialektische Bewegung so einfach wie genial. Im Vorwort seiner Comédie Humaine pointiert Balzac seine Methode und verdeutlicht damit, dass sich sein ästhetisches Verfahren mit der Diagnostik der menschlichen Natur und der Zeitläufte verschränkt. Seine individuelle Poetik fasst er in einem Brief an Madame Hanska zusammen: „Ainsi, partout, j’aurai donné la vie: au type, en l’individualisant; à l’individu, en le typisant“[1] (vgl. Maremurex).

Seit Langem ist die in vier großen Werkgruppen komponierte Comédie Humaine ein bevorzugtes Studienobjekt historisch-soziologisch ausgerichteter Literaturwissenschaftler:innen – erinnert sei nur an Gregor Lukács‘ grandiose Darstellung aus dem Jahre 1952 – Balzac und der französische Realismus.

Uwe Britten verortet in Balzacs Werken – so wie es im Untertitel von Balzacs Blick heißt – die Geburt des Individuums und seiner psychischen Verfasstheit. Balzac sei ein „frührealistischer Psychologe“, der „erste Einblicke in die Tiefen der Psyche“ gewähre, sich wissenschaftlicher Beobachtung bediene und intendiere, mit seinen Romanen Stoff für neue Beobachtungen bereitzustellen. Diese Feststellung ist genauso unbestreitbar und genauso durch facettenreiche vorgängige wissenschaftliche Beiträge gesichert wie alle weiteren Thesen, die Britten im Verlauf seiner Darstellung wortreich und nachvollziehbar auffächert. Er versäumt es jedoch von Anfang an, sich in einem Kontinuum der Balzac-Forschung zu positionieren, also mit Quellen und Sekundärliteratur zu arbeiten sowie mit einem Literaturverzeichnis, dessen Titel nicht zu weit mehr als der Hälfte aus dem vergangenen Jahrtausend stammen. Abgesehen von einigen Internetadressen bleibt ebenso die qualitativ und quantitativ dominierende französischsprachige Balzac-Forschung exkludiert. Als deutsche Quellen kommen zwar indispensable Klassiker ins Spiel, doch es ist auch hierzulande, wo Balzac außerhalb romanistischer Kreise weniger bekannt ist als in seinem Heimatland, wo es nicht – so wie dort – eine hochspezialisierte „Société“ zum Studium seiner Werke gibt („Société des études balzaciennes“), nicht ausreichend, einen nur fadenscheinigen Bezug zu vergangenen Werkanalysen herzustellen.

Darüber hinaus ist es von Anfang an augenfällig, dass Britten nur ausnahmsweise auf werkästhetische Aspekte eingeht, also die unglaublich intensive sprachlich-rhetorische Kraft, die Balzacs Werke durchzieht und das Universum des höchst Expressiven und Polyvalenten erst ermöglicht, weitestgehend außer Acht lässt. Für Britten sind die Romane zuerst und vor allem Beweismaterial, was sich in einem stringent deduktiven Procedere spiegelt. Daraus resultiert eine Breitbandanalyse, die zwar auf einer guten und durch zahlreiche vorgängige Studien gesicherten Themenauswahl basiert, die allerdings nur bedingt systematisiert daherkommt. Die Auswahl der Werke erscheint mitunter kontingent und allein dem jeweiligen Thema geschuldet.

In seinen Präliminarien würdigt Britten Balzac als „frührealistischen Psychologen“, der nicht zuletzt dem eigenen Leben gegenüber eine „typisch moderne Haltung“ entwickelt habe. Ein Signum dieser Haltung sei das, was man heute „psychologisch ‚Metapläne‘“ nenne, wobei der Begriff „Metapläne“ in diesem Kontext unbedingt hätte erläutert werden müssen, denn die Nähe zur sogenannten „Metaplan-Methode“ stiftet Verwirrung.

Den Einfluss der Romantik auf Balzac leugnet Britten nicht, aber in einem Buch, das mit einem gewissen Erkenntnisanspruch einhergeht, zu schreiben, dass „wir“ [warum „wir“????] Ambivalenzen „allzu häufig als vermeintlich unverbundene Stränge“ konstruierten, „für die wir nur schwer eine Synthese“ fänden und aus denen sich sogar „Dilemmata, die nebeneinander bestehen, ohne ‚gelöst‘ werden zu können“ ergäben, wirkt sehr lapidar und unreflektiert – so, als wüsste man nicht, dass das Spannende an Ambivalenzen – auch und gerade bei Balzac – in ihrer Dynamik des „Sowohl – Als auch“ (und nicht in einer Statik des „Entweder – Oder“) besteht.

Mehr als obsolet ist die Frage, ob es möglicherweise gerade „der romantische Einfluss war, der für die realistischen Anteile den Weg ebnete“. Ja, ganz gewiss war er das. Es sei „die außerordentliche Leistung von Balzac, diese Blickrichtung in die psychischen Tiefen des Individuums und dessen Zusammenspiel mit der sozialen Umgebung so früh zu Beginn der Moderne eingenommen zu haben“. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen, weil Balzac in dieser Hinsicht (noch) intensiver und (noch) prononcierter arbeitete als die Romantiker:innen. Wenn Britten fortfährt mit den Worten „und das ist nicht zu verwechseln mit der weinerlichen Selbstbespiegelung eines Adolphe in Benjamin Constants Roman Adolphe“, aus der sich allein „Egomanie“ entwickle, so beschränkt er sich leider auf das gänzlich ungerechtfertigte Aburteilen eines Werks, das seit langer Zeit als erstes Beispiel für eine akribische Seeleninnenschau gilt, die wenig mit Larmoyanz zu tun hat.

In Teil I, überschrieben mit „Balzacs sozialkulturelle Beobachtungen der im Entstehen begriffenen modernen Gesellschaft“ führt Britten aus, wie einige Protagonist:innen ihre „Adelsattitüden“ aufrecht erhalten und sich parallel dazu viele „soziale Verhaltensweisen“ nach und nach „verbürgerlichen“. Indem er sich zum einen auf die Ökonomisierung der Gesellschaft und zum anderen auf Tabubrüche in puncto Sexualität, unter anderem die „Aufweichung“ der Geschlechterstereotype, bezieht, liefert er im Umkreis der einzelnen Subthemen sehr gute Interpretationsansätze.

Die Publikation gewinnt in Teil II, „Psychodynamisches und psychosoziales Verhalten des Individuums“ an Tiefe. Trotz des geringen Innovationsanteils ist es allemal zu begrüßen, Romane Revue passieren zu lassen, die einem breiteren Publikum weniger vertraut sind: Mit Louis Lambert aus dem gleichnamigen Roman und Balthazar van Claës aus La recherche de l’absolu thematisiert Balzac einen unbändigen Wissensdrang, der sich bei Lambert in einer epistemologisch-spiritualistischen Theorie äußert und bei van Claës, einem Chemiker, die alchemistische Suche nach dem Stein der Weisen zur Folge hat.

Es überzeugen die Ergebnisse der akribischen Analyse der Protagonist:innen aus Le médecin de campagne und Le lys dans la vallée. Insbesondere zur „Lilie im Tal“ kann der Autor mit differenzierten Mikrolektüren punkten, in denen ab und an auch Balzacs rhetorischer Furor eine Rolle spielt. Von den „psychisch überforderten Individuen“ aus diesem Roman, 1835 erschienen, die depressiv seien und sich selbst als Opfer inszenierten, gelangt Britten über die Analyse von Schuldgefühlen in exemplarischen Romanen zu „psychotischen Dekompensationen“, konkret zur Darstellung des Wahnsinns in der Erzählung Adieu. Aufgrund mehrfacher traumatischer Erlebnisse verliert die Protagonistin Stéphanie de Vandières den Bezug zur erfahrbaren Realität und erleidet psychotische Schübe. Balzac animalisiere das „verrückte Verhalten“ – sich damit von Menschen des 21. Jahrhunderts unterscheidend – „denn wir haben uns abgewöhnt, den psychotisch erkrankten Menschen mit einem Tier zu vergleichen“ und zwar deshalb, so unterstellt Britten, „weil wir damit automatisch, zumal nach der Geschichte des 20. Jahrhunderts, eine Abwertung bis zur Vergegenständlichung verbinden“. Hier hätte man sich eine vorsichtigere Wortwahl gewünscht, denn Menschen mit deviantem Verhalten mit Tieren zu vergleichen ist gemeinhin abwertend und reifizierend. Im Übrigen legt Michel Foucaults Histoire de la folie à l’âge classique (kommt bei Britten nicht vor) unmissverständlich dar, dass sich die Haltung gegenüber psychiatrischen Erkrankungen bereits ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zu wandeln beginnt. Mit der These, dass Balzac Zivilisationskritik übe (ganz zu Recht stigmatisiert er „Krieg als Abgrund der Zivilisation“ und ‚Verrücktheit‘ als logische, vernünftige Reaktion darauf“), kann man vollumfänglich konform gehen. Er ordnet sich aber gleichermaßen in die präromantische Tradition der sogenannten Folles ein (Darstellung von psychotischen Frauen), meist kurze Erzählungen, in denen sich paradoxerweise sowohl die Fortdauer der Animalisierung als auch ihre Auflösung konkretisiert.

Daneben wirkt der Gang der Argumentation hin zum letzten Kapitel, „Vom Pfarrer über den Arzt hin zum Psychotherapeuten – das überforderte Individuum sucht Hilfe“, recht schlüssig, gleichwohl „schlaglichternd“, zudem immerhin die Perspektive auf Germinie Lacerteux von den Brüdern Goncourt und Le docteur Pascal von Emile Zola erweiternd. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts avanciere der Arzt zu einer bedeutenden Gestalt in der Literatur, löse den Priester als Seelsorger ab und markiere eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Psychoanalyse.

Wenn man das vorliegende Buch in seiner Gesamtheit betrachtet, so fällt auf, dass die einzelnen Kapitel meist mit sehr guten und soliden Prolegomena eröffnet werden und mit ebensolchen Resümees enden. Bei dem, was dazwischen liegt, versteigt und verläuft sich der Autor ab und an, vergreift sich auch einmal im Ton und unternimmt immer dann, wenn nicht direkt von Balzac die Rede ist, nicht selten einen recht grob verallgemeinernden Zirkelschlag.

Schon allein daraus erhellt, dass Uwe Britten Balzac als grandiosen Monolith konstruiert, was er bei aller Genialität und trotz des im Vergleich zu anderen sicherlich höheren Arbeitspensums nicht war. Zu wünschen wäre mehr Sensibilität dafür, dass Balzac ein Nachfahre der Romantik ist und zumindest mit Stendhal und Flaubert als wichtigster Vertreter des französischen historischen Realismus gilt. Balzacs Texte scheint Britten in- und auswendig zu kennen und vor allem zu lieben. Die Faszination der zweifelsohne auratischen Persönlichkeit schlägt sich bei Britten zusätzlich in Das Paris des Honoré de Balzac (2020) und – laut Klappentext – im unveröffentlichten Bühnenwerk Auftritt Balzac nieder. Da verwundert es nur bedingt, dass andere nicht nur ausgespart, sondern gelegentlich dysphemisiert werden.

Von Vorteil wäre es gewesen, wenn Britten die Gliederung der Comédie Humaine, obschon man sie leicht „ergoogeln“ kann, in das Buch integriert oder zumindest eine Internetquelle dazu genannt hätte. Dies gilt umso mehr, als sich nicht selten der Eindruck aufdrängt, dass die „Bälle“ der einzelnen Titel aufgenommen und dann wieder fallengelassen werden. Die rein alphabetische Liste im Werkeverzeichnis erweist sich als wenig hilfreich.

Er habe die deutschen Texte mit dem Original verglichen, so Uwe Britten, und sich davon überzeugt, dass die Übersetzung gut und für seine Zwecke geeignet sei. Das mag stimmen, aber nichtsdestoweniger hätte es der Studie gutgetan, wenn ihr Autor die Originaltexte als Grundlage genommen hätte oder bilingual vorgegangen wäre. Ordentlicher Zitatnachweise hätte es ohnehin bedurft.

Welches Genre bedient Uwe Britten? Eine Angabe dazu sucht man vergeblich. Am passendsten ist es, das Buch als Hybrid aus Essay und soziologisch-literaturwissenschaftlich angehauchter Monografie zu klassifizieren, eher als Essay, das sich sprachlich in einer schwer greifbaren „mittleren Schicht“ zwischen Emotionalität und Intellektualität bewegt – bei weitem nicht so effektheischend wie viele halb romaneske Biografien zu prominenten Persönlichkeiten, die mit Hyperbeln voranschreiten und eine Idealgestalt zelebrieren. Streckenweise hat Britten einen guten, eingängigen Ton getroffen, mit dem er weitestgehend Neutralität wahrt.

Als Fazit ist festzuhalten, dass Brittens „Autoren-Fachkompetenz“ zu bewundern ist. Sie äußert sich mehr in der Breite als in der Tiefe, weil viele Aussagen präzisiert, kontextualisiert und mit literatur- und/oder kulturwissenschaftlichen Ergebnissen zu Balzac hätten unterfüttert werden müssen. Bei aller geäußerten Kritik wirft die Publikation einen erfrischenden Blick auf Balzac und sein großartiges Gesamtwerk, für das mehr als für andere Texte gilt, dass es in seiner Multiperspektivität niemals wird ausgedeutet werden können.

1„Auf diese Weise werde ich überall Leben verliehen haben: dem Typus, indem ich ihn individualisierte, und dem Individuum, indem ich es typisierte.“

Titelbild

Uwe Britten: Balzacs Blick. Die Geburt des modernen Individuums und seiner psychischen Verfasstheit.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2023.
245 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783826084652

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