Alt und krank: auf häusliche Pflege angewiesen
Linda Herrmann schreibt unverblümt und einfühlsam über ihre Arbeit in der ambulanten Pflege
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit dem Pflegenotstand in Deutschland wird man – in den Medien, durch eigenes Erleben oder das von Ehepartnern, Eltern oder Großeltern – immer wieder konfrontiert. Wo die Gesellschaft einschließlich der Politik traurig versagt, erbringen Pflegekräfte – knapp an Zeit und Geld – wertvolle Leistungen im Dienst der Gesundheit und Würde von Mitmenschen.
Diese Arbeit wird vor allem von Frauen geleistet. Eine von ihnen ist Linda Herrmann, die im Mai 2020 als ungelernte Kraft in der ambulanten Kranken- und Altenpflege im Westen Berlins antrat. In 14 Erzählungen berichtet sie von ihren Erfahrungen. Im Internet ist zu finden, wie sie aus ihrem Buch liest.
Ihrer Arbeit als Pflegerin und ihren so unverblümten wie einfühlsamen Darstellungen im Buch gebührt größter Respekt. Die Grenzen hat sie selbst abgesteckt: „In diesem Buch teile ich nur meine Seite der Begegnungen mit, denn diese Seite ist meine Geschichte.“ Angesichts der stets unter Zeitnot stattfindenden Begegnungen mit den ihr anvertrauten Menschen ist diese Beschränkung verständlich, doch der laut Vorwort angestrebte Einblick „in die Konfrontation mit universellen und existenziellen Themen“ wird damit begrenzt. Die betreuten Personen bleiben aber nicht völlig im Schatten, sondern es entstehen durch genau erfasste typische Handlungen und Redeweisen einprägsame Schattenrisse.
Großen Respekt verdient Linda Herrmanns wohlerwogene Entscheidung, von alltäglichen Schicksalen zu berichten statt von extremen Einzelfällen, von denen man annehmen könnte, dass sie einen nie betreffen werden. In den 14 Erzählungen geht es um acht Frauen, fünf Männer und eine Familie, selbstverständlich alle anonymisiert. Statt diese 14 Pflegefälle hier aufzulisten, soll an Beispielen gezeigt werden, wie es der literarischen Debütantin Linda Herrmann gelingt, ihre eigenen Arbeitsbedingungen und das menschliche Schicksal der Betreuten in einem Satz zu bündeln.
Nach dem Besuch bei Frau K. notiert sie: „42 Minuten, sieben Minuten zu lang.“
Die dünne und schwache Frau M. lebt in einer zu großen Wohnung: „Es wirkt, als könnte sie von ihrer Wohnung ohne weiteres verschluckt werden.“
Bei Herrn G.: „Ein alter Mann, der nicht mehr aus seinem Bett aufstehen kann, soll nicht würdelos mit seinen Händen essen müssen.“
Nach dem Besuch in einer Reha, wo die Autorin nicht das Gefühl hat, dass sich der Gesundheitszustand der dort Untergebrachten tatsächlich bessert: „Beim Gehen bin ich mir nicht sicher, […] ob ich angesichts des ganzen Einsatzes lachen oder weinen möchte.“
Bei Frau S., schwerhörig und mit E-Rolli: „Aber was nicht abgerechnet werden kann, darf nicht geleistet werden.“
Bei Herrn U. Senior und Herrn U. Junior, letzterer mit Pflegegrad 5: „Mein Kopf und die Hälfte meiner Aufmerksamkeit führen ein Gespräch mit Herrn U. Senior, die andere Hälfte und mein Körper arbeiten für Herrn U. Junior.“
Nach unerbetenen sexuellen Erklärungen von Herrn D.: „Als ich die Treppe herunterlaufe, kann ich nicht fassen, dass dieses Gespräch gerade stattgefunden hat.“
Offenes Eingeständnis nach dem Besuch bei Frau T und ihrem aggressiven Kater und vielen Käfern: „Als ich die Tür geschlossen habe, schüttelte ich mich einmal und hoffe, nicht so bald wieder herkommen zu müssen.“
Zwei Bemerkungen nach dem Besuch bei Familie R.: „Es gibt stille, unbewegliche Wohnungen und die, die ein Eigenleben zu haben scheinen.“ „Ich verabschiede mich und der Stolz über unseren Erfolg beim Duschen hält noch an, als ich mir zu Hause die nassen Socken ausziehe.“
Nach der Bemerkung von Frau E., in Anwesenheit der Pflegerin sei alles viel leichter und danach wieder so wahnsinnig schwer: „Was mir schmeicheln könnte, versetzt mich in Panik.“
Dieses Buch sagt mehr über die Situation in unserem Pflegewesen aus als die meisten offiziellen Verlautbarungen.
|
||