Der Versuch, ein Wir zu retten
Im Briefwechsel „Gleichzeit“ zwischen Israel und Europa versuchen Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman Worte für die Erfahrungen in einer erschütterten Welt zu finden
Von Lena Sophie Voß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Zeit, in der die Hoffnung bestand, das ganze Tohuwabohu zu überwinden, ist schlagartig vorbei. Der 7. Oktober unterbricht gewaltsam das alltägliche Leben. Ofer Waldman schreibt Sasha Marianna Salzmann am Vorabend des Krieges eine Geschichte. Daraufhin beginnt ein Briefwechsel zwischen den beiden, denn der Terror des 7. Oktober dauert an. Ganz neu stellen sich die Autor*innen die Fragen nach der Zukunft sowie der Gegenwart in Anbetracht der Vergangenheit.
In seiner Geschichte erzählt Ofer Waldman von seinem depressiven Freund, den er in der Klinik in den Schlaf singt am Vorabend des Krieges. Darauf antwortet Sasha Marianna Salzmann mit dem ersten Brief am 15. Oktober 2023. Sasha Marianna Salzmann antwortet nicht nur, sondern schreibt sich selbst in die erlebte Geschichte Ofer Waldmans ein. „Ich legte mich hinter dich, drückte meine Hände auf deine Ohren und summte.“ Weiter steht im Brief, dass noch mehr Freund*innen kommen und sich summend dazulegen. Somit zeugt dieser Briefwechsel nicht nur von einem Hin und Her zwischen unterschiedlichen Orten, sondern zeigt die gemeinsamen Erfahrungen, die geteilten Emotionen, die zwei befreundete Menschen zur gleichen Zeit empfinden. Zudem gehören fiktive Elemente gemeinsamer Fantasien, das Einschreiben in Motive aus Filmen oder das gemeinsame Hören von Musik zu den Texten.
Dies ist eine Möglichkeit den Titel des Buchs Gleichzeit nachzuvollziehen: das gemeinsame Durchleben von Emotionen und Erlebnissen zur gleichen Zeit, obwohl die Freund*innen weit voneinander entfernt sind. Der Neologismus weist jedoch auch darauf hin, dass beide Autor*innen, die jeweils mit anderen Erstsprachen aufgewachsen sind, sich bewusst entschieden haben, auf Deutsch zu schreiben.
Dieser Austausch, der nun in Buchform vorliegt, begann als ein Blog, der von der Weimar Klassik Stiftung seit November 2023 online erschien. Im Blog gibt es Bilder von besuchten Orten, den Geiseln oder Links zu Filmausschnitten und manchmal erscheinen unter dem Briefwechsel Kommentare der Dankbarkeit von Leser*innen.
Im Buch Gleichzeit findet sich ausschließlich der Briefwechsel. Der Rhythmus des Lesens ist somit ein anderer und auch die bildlichen Referenzen rücken hinter die sprachlichen Bilder und Emotionen. Die Schrift und das Wort erhalten einen größeren Raum. Bestehen bleibt die Intimität einer Freundschaft zwischen Ofer Waldman und Sasha Marianna Salzmann, die sich in der Ansprache Du und dem schreibenden Ich äußert. Der Briefwechsel zwischen den beiden Freund*innen vermittelt somit nicht nur emotionale Nähe, sondern besteht auf dem Schreiben über individuelle Erlebnisse sowie Perspektiven und grenzt sich damit vom politischen Kampf um Statements ab. Den letzten zu lesenden Brief schreibt Sasha an Ofer am 21. Januar 2024. Dabei kann nicht von einem Ende die Rede sein, wie die Autor*innen im Nachwort betonen. So wie der Krieg noch nicht vorbei ist, noch Geiseln gefangen gehalten werden und die Menschen im Gazastreifen in humanitärer Krise leben, bleibt der freundschaftliche Austausch (über)lebenswichtig.
„Wir haben den Tag des Terrors nicht verlassen“, schreibt Sasha am 1. November 2023 an Ofer. Die Wahrnehmung der Zeit in einer vollkommen veränderten Welt gestaltet sich für die Autor*innen anders. Am 22. Oktober 2023 schreibt Ofer Waldmann „[…] und die Zeit verklebt sich, Vergangenheit und Gegenwart. Die Zukunft, in die wir schauen, wird zum Spiegel. Ein Trost, immerhin: Ich sehe dich darin.“ Inmitten des vermeintlich unbeirrten Fortlaufs der Natur trägt der Olivenbaum in Israel keine Ernte. Neben Einschnitten scheint das Leben aber doch weiterzulaufen: in der Herbstsonne in Israel picknicken Jugendliche, der Weihnachtsmarkt in Wien findet statt und bald geht auch Ofer Waldman mit seiner Tochter wieder in Konzerte. Bemerkbar wird ein Ringen um die Gegenwart, dazu gehört das Zulassen der überwältigenden Trauer durch den anhaltenden Terror und das Leben trotz dessen. Sasha Marianna Salzmann schreibt darüber, dass die Frage, wo Juden und Jüdinnen nun hingen können, nutzlos sei, anstelle dessen sei die eigentlich Frage: „Diese Gegenwart ist unsere. Was machen wir nun? Was machen wir damit?“ Für das Fallenlassen in Traurigkeit ist dieser Text somit nicht geschrieben, er sucht nach den Fragen, die zum Weitermachen anregen. In einem dialektischen Verhältnis stehen die Trauer und Verzweiflung über die Geschehnisse des Krieges, die Wachdienste an Schulen, die mit Hakenkreuzen beschmierten Friedhöfe oder die gekennzeichneten Wohnungstüren. In Europa gebe es kaum einen Ort, an der Shiva (das jüdische Ritual, um gemeinsam um Verstorbene zu trauern) nachgegangen werden kann. Sasha Mariana Salzmann schreibt am 15. Dezember 2023:
Das Bild von der Shiva, bei der du saßt, begleitet mich. Zum einen, weil – das schrieb ich dir zu Anfang des Krieges – so gerne Shiva sitzen würde, aber mit wem? Und für wen genau? In Deutschland und Österreich […] fehlt es an den Selbstverständlichkeiten, von denen du erzählst.
Die Abwesenheit der Orte der Trauer in Europa werden deutlich. Dazu thematisiert Salzmann ebenso das Schweigen der Welt nach dem 7. Oktober, und gleichzeitig den Wunsch nach mehr Stille anstelle von sofortigen Meinungen und Positionen. Der Krieg macht sich bemerkbar durch Schweigen und durch Klänge wie Ofer Waldman betont: „Durch das Donnern der Kampfjets deren Wellen von Crescendo-Diminuendo die Tage und Nächte durchziehen.“ Weiter schreibt er am 18. November: „Alle Klänge des Krieges rinnen dann aus der zersprungenen Schale, gehen verloren im Rauschen vorgefertigter politischer Meinungen, integritätslose Relikte einer Welt, die bis zum 7. Oktober existierte.“ Der Widerspruch, dass Schweigen und der Klang gleichzeitig den Schmerz verstärken, bleibt nebeneinander bestehen.
Die Gleichzeitigkeit der Widersprüche zeigt sich somit auch auf der Ebene der Wortwahl. So ist der Klang eine Äußerung des Krieges, obwohl er gleichzeitig als Metapher für die freundschaftliche Solidarität genutzt wird: „Wir wechselten Sätze, als wären wir Klangschalen, die aneinanderstoßen.“ Im Briefwechsel passiert somit immer wieder eine Hindeutung zum gemeinsamen Schaffen eines positiven Raums. Durch die Wiederholungen und Umdeutungen der gleichen Wörter werden Ambiguitäten sichtbar, die beim Lesen ausgehalten werden müssen. Gegenüber der Gewalt der Worte, die in der Öffentlichkeit vorgenommen wird, steht der Briefwechsel zwischen den beiden Freund*innen. Sich gegenseitig zum Klingen bringen sie sich auch durch Songempfehlungen, Filme, abgesagte Interviews oder den Traum vom nächsten harmonischen Chanukka zusammen.
Die wortgewalte Gegenwart und ihre Defizite erkennen die Freund*innen in der Äußerung eines „Wir“. So schreibt Ofer Waldman am 18. Dezember 2023:
Welchen Preis hätte das Wagnis, dem verführerischen Gefühl der Zugehörigkeit den Rücken zu kehren, dem durch Leid und Trauer zusammengeschweißten, schützenden Wir? Aber ich kenne dieses Wir, es ist das süßgiftige Wir der Lieder aus der Kindheit […].
Das „süßgiftige Wir“, welches sich in dem Gedanken einer Nation, den gemeinsamen Aufrufen zum Weitermachen in Israel äußert, ruft in Ofer Waldman Übelkeit und Schwindel hervor. Als allgegenwärtig beschreiben beide Freund*innen das Leid und die Schuld. Zudem kommt die Unmöglichkeit, Worte oder Bilder für die Geschehnisse in Gaza zu finden. So beschreibt Sasha einen Traum von einem Kind in Gaza, das von nun an immer da sein wird. Ofer beschreibt seine Lähmung, nachdem er von seinen Bekannten dort hört. Sasha schreibt am 20. Dezember 2023: „Ofer, es gibt keinen Tag, an dem ich nicht über Gaza nachdenke, die Menschen dort in den Trümmern, ohne Lebensmittel, ohne Versorgung.“ Zuletzt bleiben die Verzweiflung und Hilflosigkeit bestehen und äußern sich in einer Wortlosigkeit im Angesicht der Grausamkeit in Gaza.
Die Autor*innen lassen intime Emotionen, unlösbare Widersprüche und Hoffnung trotz der verzweifelten Lage nebeneinander stehen. Am Ende steht der Aufruf zur Hoffnung und zum Aktivismus. Der Briefwechsel als schriftliche Form wird zum Auslöser einer Bewegung. Ofer schreibt am 5. Januar 2024: „Eine Bewegung, und sei es die Bewegung des Schreibens, von der Shiva zurück in die zerbrochene Welt.“ Das Schreiben birgt für die beiden die Energie nach oder trotz der Trauer wieder aufzustehen und weiterzumachen. Die Freundschaft soll das „süßgiftige Wir“ von Nationen ablösen und die Kräfte entfachen, sich für eine gemeinsame Welt zu engagieren.
Freundschaft erscheint im Briefwechsel Gleichzeit als eine Gemeinschaft im Leid und das Wagnis einer gemeinsamen Sprache. Das Teilen von Erfahrungen an unterschiedlichen Orten und der Versuch das Unaussprechliche in Worte zu fassen, nehmen sich Sasha Marianna Salzmann und Ofer Waldman vor. Aber auch ihr Scheitern, nicht jede Grausamkeit verschriftlichen zu können, gehört dazu. Kunst wird den politischen Analysen und den Meinungen entgegengesetzt. Zynische, wütende, anklagende, traurige und verzweifelte Passagen sind zu lesen, die oft in sprachliche Bilder übersetzt werden. Ein Schreiben in Metaphern und das Weiterschreiben durch eine*n Freund*in lassen die Gemachtheit des Textes spürbar werden. Dabei wird merklich, dass dieser Briefwechsel die Intention hat alle Leser*innen einzuschließen. Letztlich wird die Suche nach Wörtern, nach Bildern und nach einer Möglichkeit der Vermittlung gesucht. So werden im Briefwechsel noch weitere Fragen aufgeworfen, wie die Vermittlung eines Krieges an Kinder oder das Nachdenken über die Generation der Eltern. Den Rahmen des Textes bildet allerdings die Freundschaft und damit die Gewissheit des Austauschs. Davon geht Milde aus und es kann Hoffnung entstehen. Freundschaft schlagen die Autor*innen vor als Rettung der Gegenwart und Möglichkeit des gegenseitigen Verständnisses und der Vermittlung.
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