Der Schwächste macht Partei-Karriere
Ihr Romanerstling „Glänzende Aussicht“ sorgte 1987 für großes Aufsehen – inzwischen wird Fang Fangs Buch in China nicht mehr aufgelegt
Von Dietmar Jacobsen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit ihrem aus einem in China regelmäßig zensierten und dort in Buchform nie herausgekommenen Internet-Blog hervorgegangenen Wuhan-Diary: Tagebuch aus einer gesperrten Stadt (2020) sorgte die chinesische Autorin Fang Fang mitten in der Corona-Pandemie international für Aufsehen. Gerade dass die heute 69-jährige Schriftstellerin – 1955 in Nanjing geboren und seit 1957 in Wuhan lebend – darin kein Blatt vor den Mund nahm, sich nicht an die staatlichen Schweigegebote hielt, sondern genau beschrieb, was sie erlebte, sah und hörte während der fast drei Monate, in denen ihre Heimatstadt als die am härtesten von der Corona-Pandemie betroffene chinesische Metropole komplett abgeriegelt war, machte ihre Aufzeichnungen zu einem so authentischen wie aufregenden Dokument. In der Folgezeit erschienen mit Weiches Begräbnis (2021) und Wütendes Feuer (2022) weitere ausgewählte Romane Fang Fangs auf Deutsch. Ihnen folgt nun mit Glänzende Aussicht jenes Frühwerk der Autorin, das nach Aussage ihres Übersetzers Michael Kahn-Ackermann als „literarisches Hauptwerk der Aufbruchsstimmung der 1980er Jahre“ zu gelten hat.
Glänzende Aussicht ist auf den ersten Blick ein Familienroman. Als dessen Erzähler fungiert ein totes Kind, der bereits am sechzehnten Tag seines Lebens verstorbene und vom Vater in einem notdürftig zusammengezimmerten kleinen Sarg unter dem Fenster ihrer Behausung begrabene achte Sohn einer Familie aus Wuhan. Deren Vorfahren waren einst vor den häufigen Hungersnöten in der zentralchinesischen Provinz Henan in die nordöstliche Metropole geflüchtet.
Dort lebt die Familie zu Beginn der 1970er Jahre unter ihresgleichen. Die Verhältnisse sind erbärmlich. Von den Alteingesessenen werden die Nachkommen der Zuwanderer mit Verachtung gestraft. Die sogenannten Henan-Baracken im Stadtteil Hankou als menschenwürdige Wohnungen zu bezeichnen, wäre übertrieben. Es sind windschiefe Hütten mit Wänden aus Holzbrettern. In einer davon hat die elfköpfige Familie – Mutter, Vater, sieben Söhne, zwei Töchter – mit einem einzigen, 13 Quadratmeter großen Raum auszukommen.
Gewalt und Alkoholismus bestimmen das Leben der Menschen, die hier untergekommen sind, zu weiten Teilen. Der Vater – Hafenarbeiter und Mitglied in einer sogenannten „Bruderschaft“, die in ständige Kämpfe mit anderen „Dock-Gangs“ verwickelt ist – erzieht seine Nachkommen hauptsächlich mit Prügeln. Da er selbst Analphabet ist, hält er Schulbildung auch für seine Kinder für entbehrlich. Diejenigen seiner Söhne, die gleich ihm auf die Kraft ihrer Muskeln vertrauen, bevorzugt er gegenüber den eher schwächlichen Nachkommen. Einer, die Nummer 7 der durchnummerierten Brüderschar, muss als Jüngster sogar jahrelang unter dem Bett des Vaters schlafen. Ironischerweise wird gerade aus diesem Sohn später ein hoher Funktionär der Kommunistischen Partei. Von einem lukrativen Beamtenposten im Parteikomitee des Provinz-Jugendverbandes führt ihn sein Weg ins Provinz-Parteikomitee, von wo er die Chance hat, eines Tages und mit viel Glück ins Zentralkomitee der Partei aufzusteigen.
So lange die Söhne freilich zuhause leben, haben sie sich dem Vater unterzuordnen. Der Beitrag zum Familienleben, der ihnen abverlangt wird, besteht darin, das zum Leben Notwendige, wenn es sein muss, zu stehlen. Dazu klettert man beispielsweise unter Lebensgefahr auf die unweit ihrer Behausung auf der Eisenbahnstrecke Kanton-Peking vorbeifahrenden Züge, um ein paar Stückchen Kohle zu ergattern, Garanten für ein bisschen Wärme in den kalten Wintern von Wuhan.
Mit Glänzende Aussicht sorgte Fang Fang in ihrer Heimat für großes Aufsehen. Wie hier ungeschminkt das Leben einfacher Arbeiter beschrieben wurde, die verheerenden Bedingungen, unter denen ganze Bevölkerungsschichten in einem Land zu leben hatten, in dem man sich den Weg in eine kommunistische Zukunft auf die Fahnen geschrieben hatte, war unerhört und gänzlich neu in der chinesischen Literatur.
In seinem höchst informativen Nachwort macht Michael Kahn-Ackermann, Gründungsdirektor des Goethe-Instituts Peking und Übersetzer sämtlicher bisher auf Deutsch erschienenen Werke Fang Fangs, deutlich, welch gewaltigen Entwicklungsschritt die chinesische Literatur des letzten Jahrhunderts mit diesem schmalen Bändchen vollzog. Die Literatur des seit 1949 vorherrschenden „Sozialistischen Realismus“, der von den Autoren die Unterordnung ihrer Werke unter die Interessen eines ideell überhöhten Proletariats verlangte, das so in der Realität nirgendwo existierte, machte Platz für Erzählwerke, in denen die tatsächlichen harten Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen in China beschrieben wurden.
Dass diese Entwicklung, die nahezu zeitgleich mit dem Ende der „Kulturrevolution“ stattfand, nicht die Billigung jener Ideologen fand, die den Ton im Lande angaben, kann man nur zu gut verstehen, wenn man Fang Fangs Glänzende Aussicht liest. Aber mit Recherche, genauem Hinschauen auf die wirklichen Verhältnisse im Lande und einem konsequenten Ideologieverzicht war der damals 32-jährigen Autorin etwas gelungen, das die „Aufbruchsstimmung der achtziger Jahre, die am 4. Juni 1989 ihr blutiges Ende fand“, wie Michael Kahn-Ackermann betont, literarisch kongenial wiedergab.
„Ich habe mich bemüht, mein Hirn Stück für Stück vom ganzen Müll und Gift zu säubern, die man in der Vergangenheit in mein Hirn gequetscht hat“, hat Fang Fang im Wuhan-Diary als Antwort auf den offensichtlich von den chinesischen Propagandabehörden gefakten Brief eines Mittelschülers, der ihre kritische Sicht auf die Abriegelung der Acht-Millionen-Metropole Wuhan mit Beschimpfungen der Autorin konterte, geschrieben. Glänzende Aussicht war der erste und wichtigste Schritt auf diesem Weg und führte durch ein konsequentes Sich-Verweigern gegenüber Dogmen und den von den Partei-Doktrinären geforderten Scheinwahrheiten in der Literatur hin zu einem neuen Realismus, der nach Kahn-Ackermann letzten Endes „sensationell, befreiend und leichter rezipierbar als die literarischen Experimente der ‚Avantgarde-Literatur‘“ daherkam. Davon können sich nun auch die deutschen Leserinnen und Leser einer der interessantesten chinesischen Autorinnen der Gegenwart überzeugen.
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