Die Strahlkraft von Metamorphosen

Zum 70. Geburtstag von Christoph Ransmayr ist eine Sammlung seiner Prosa-Texte erschienen

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neu sind alle diese Texte nicht, die sein Verlag zum 70. Geburtstag von Christoph Ransmayr zusammengetragen hat. Der älteste ist 1982 erstmals erschienen, Strahlender Untergang, der jüngste stammt aus dem Jahr 2019, Arznei gegen die Sterblichkeit. Etliche dieser Texte sind sogar schon mehrmals publiziert worden, darunter Die Verbeugung des Riesen, eine Erzählung, die Ransmayr zum 70. Geburtstag seines Freundes Hans Magnus Enzensberger 1999 geschrieben hat. Es sind auch nicht alle diese Texte ‚Erzählungen‘, wie dies die Gattungsbezeichnung auf dem Titelblatt zunächst vermuten lässt; die meisten sind genau genommen nämlich Ansprachen, die der Autor zu verschiedenen Anlässen vorgetragen hat, zur Eröffnung von Festspielen zum Beispiel oder auch anlässlich der Verleihung von Auszeichnungen. – Aber, wer bisher nur die großen Romane Ransmayrs gelesen hat, Die Schrecken des Eises und der Finsternis, Die letzte Welt, Morbus Kitahara u.a.m., wird in diesen kürzeren Prosa-Texten nicht nur zahllose Verbindungslinien zu den wohlbekannten Büchern entdecken, sondern auch einem fabelhaften Erzählduktus wiederbegegnen, der in vielfacher Hinsicht anknüpft an Leitsterne der Antike, an Homer oder Ovid, und in der deutschsprachigen Literatur einzigartig ist.

Denn was alle diese Texte verbindet, ist die faszinierende Verwandlung all dessen, was einmal war, was noch erinnert oder auch erst ausgedacht werden kann, in Sprache, ist die Verzauberung, die auf diesem Weg zum Reich der Wörter sich einstellt. Das mag zuweilen durchaus befremden: In der Bildergeschichte Damen & Herren unter Wasser tritt ein Erzähler auf, der früher einmal als Museumswärter gearbeitet, sich später aber in einen Tintenfisch verwandelt hat, in einen Großflossen-Riffkalmar; dieser Fisch kann nicht nur, wie alle Exemplare seiner Klasse, mit den Schlägen seines Flossensaums präzise manövrieren, sondern auch mit Wörtern um sich schlagen und – so ausdrucksstark formulieren wie sein Autor: Gelegentlich, wenn er zurückdenkt an sein früheres Leben, erfasst ihn noch immer Heimweh. Heimweh „nach den Wolken“, „nach blühenden Wiesen, den Winden und frischer Luft in den Lungen“; bald darauf jedoch, so gerät er unversehens ins Grübeln,

trösten wir uns, indem wir weiterschwimmen, einfach weiter, über versunkene Flotten hinweg, von Muscheln besetzte Schlachtschiffe, über brennend vom Himmel gefallene, nun von Korallen und Polypen gefiederte Langstreckenbomber, schweben dahin über einen mit Kisten, Wrackteilen und Fässern übersäten Grund, über korrodierende Container, gefüllt mit allem, was an der Oberwelt jemals begehrt, umkämpft, gepriesen oder verboten war, Nervengiften, nuklearen Abfällen, Munition, Steinkohlen, Maschinen, Tretminen oder Silber- und Goldbarren, für deren Verladung ganze Völker ausgelöscht wurden. Und dann läßt unser Heimweh nach.

Eine doch recht kuriose Figurenrede. Unhaltbar? Dieser Ex-Museumswärter verfügt jedenfalls über dieselben Ausdrucksmittel, die sonst die Sprache seines Schöpfers auszeichnen. Nämlich: ein wenig Pathos, ab und an, ein boshafter Humor, hin und wieder, eine gewisse Neigung schließlich auch zur Selbstironie … zur Einsicht wenigstens, dass manchmal doch „etwas zu üppig vervollständigt oder zu dick übermalt werden kann.“ Andererseits, gerade in dieser auf den ersten Blick merkwürdigen Geschichte keimt ein Humor auf, der jede Tendenz zu allzu-festlicher Atmosphäre oder zu heiligem Ernst torpediert; wenn etwa einmal von einem Rauhaardackel die Rede ist, der am Ende eines zähen Rosenkrieges einem Ex-Wasserbettverkäufer, welcher immer nur Angst gehabt hat vor einer neuen Sintflut, „per Gerichtsentscheid zugesprochen“ wird oder wenn aus heiterem Himmel im Kosmos eines Kalmars neben einer Ex-Schönheitskönigin und einer ehemaligen Ministerin auch eine grazile Kronenqualle als „untergegangene Schwimmlehrerin“ auftaucht.

Ein Kalmar, der wie der Dichter redet. Dieser nimmt, was immer ihm selber oder auch seinen Figuren zustößt, zu keiner Zeit nüchtern-staubtrocken zur Kenntnis. So registriert er z.B. nicht einfach Kälte, die durch einen unerbittlichen Luftstrom noch verstärkt wird. Er hält vielmehr, wie in der ausnehmend schönen Geschichte Sarah Rotblatt, Schönheitskönigin (2013), um einen Märzmorgen in Wien angemessen zu illustrieren, demonstrativ wohlartikuliert-plastisch fest: „Draußen schliff ein scharfer, mit Eiskristallen versetzter Wind symphonische Geräusche von den Stuckfassaden, Giebeln und Dachvorsprüngen […].“ So pflegt er immerzu in Sprache umzusetzen, man darf wohl auch sagen: zu übermalen, was er mit Argusaugen beobachtet oder auch was seine Figuren empfinden (könnten), seien sie nun Lungen- oder Kiemenatmer.

Die in diese Sammlung aufgenommenen Reisereportagen führen vielfach in ferne, exotische Landschaften, ins „Niemandsland zwischen Tibet und Nepal“ zum Beispiel oder auf die Bürgerkriegsschauplätze in Sri Lanka, auf die Küstenstraßen von Cork und Kerry oder auch ins südafrikanische Bergland, wo vor einer Feuerstelle, die Geschichte spielt in der Altsteinzeit, ein halbnackter Mann sitzt, umringt von Frauen und Kindern, und erzählt und erzählt und somit eine Brücke schlägt „von den Dingen und Gestalten des Lebens über den Abgrund der Sprachlosigkeit hinweg in das Reich der Laute, des Flüsterns, des Schreiens und der Worte“, ein Vorläufer also, wie er im Buch steht, in diesem Buch; auch er ermöglicht „jedem, der den in seinen Geschichten ausgelegten Fäden folgen will, sich nicht nur über seinen gegenwärtigen Ort, sondern selbst über den unbesiegbaren, alles vernichtenden Lauf der Zeit zu erheben“ und sich in Gegenden umzusehen, in denen er nie gewesen ist und in die er auch niemals kommen dürfte.

Der weiße Mann allerdings, in seinem Selbstverständnis der ‚Herr der Welt‘, ist längst schon überall hingekommen, auch in die entlegensten Winkel und Ecken der Erde; und wenn er später wieder verschwunden ist, hat er, töricht genug, oft nichts zurückgelassen, einmal abgesehen von Wüstenlandschaften. In der Erzählung Mädchen im gelben Kleid – sie spielt im Gebiet des ostafrikanischen Virunga-Nationalparks – kommt ein Wildhüter zu Wort, der seine Erfahrungen kurz und bündig so zusammenfasst: „Wer die Weißen nicht fürchtet, der kennt sie nicht.“ Wo immer hingegen Ransmayr auf seinen Reisen in ferne Länder mit ‚Einheimischen‘ zu tun hat, löscht er umgehend das Licht der Ironie bzw. der Kritik, ein Stilmittel, das er sonst souverän beherrscht wie selten einer. Ein Licht übrigens, in dem gelegentlich durchaus auch das Genre der Erzählung selbst, das Phänomen der Umsetzung bzw. der Übersetzung ins Schlingern geraten darf. Im Rahmen einer Reise in den Fernen Osten, die Ransmayr gemeinsam mit H. M. Enzensberger unternimmt, passiert ihnen jedenfalls Folgendes: In der Rückübertragung von Enzensbergers Untergang der Titanic aus dem Japanischen oder Chinesischen oder Koreanischen (?), in der Erinnerung ist alles eins, ins Deutsche erfährt der Titel eine Metamorphose, die nicht so ganz geglückt ist und alle Konturen der ursprünglichen Gestalt verwischt. Enzensbergers Komödie heißt dort, so wird den beiden Autoren erläutert: Die Verbeugung des Riesen.

Die schönste Erzählung dieses Bandes aber, An der Bahre eines freien Mannes, ursprünglich unter dem Titel Kohlhaas in der FAZ erschienen (2018), diese in die jüngste Zeit versetzte Geschichte um Gerechtigkeit und Freiheit, in der keine ausgedachte Figur, sondern der Vater des Autors die Hauptrolle erhalten hat, diese Geschichte sollte in jedem Lesebuch für die Oberstufe einen Platz bekommen.

Titelbild

Christoph Ransmayr: Als ich noch unsterblich war. Erzählungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2024.
220 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783103976083

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